Die Rückkehr der Vielehe

Warum wir längst nicht mehr monogam sind – und warum das auch nicht schlimm ist

Bei einer Debatte über das neue Unterhaltsrecht hörte ich neulich eine interessante Formulierung: Einige Diskussionsteilnehmerinnen klagten darüber, dass viele Frauen, die jahrelang als Hausfrauen für Kinder und Ehemann gearbeitet hatten, nun um ihre finanzielle Absicherung fürchten müssen. Woraufhin andere die neue Regelung verteidigten, darunter auch eine Bundestagsabgeordnete, die schilderte, wie Politikerinnen aus allen Parteien gemeinsam dieses Thema diskutiert und schließlich die Neuregelung befürwortet hätten. Sie sagte in etwa: „Es ist jetzt zwar für die Erstfrauen schlechter geworden, aber wir hatten eben auch die Interessen der Zweit- und Drittfrauen im Auge.“

In diesem Moment wurde mir klar, womit ich als Idee schon eine ganze Zeit schwanger gehe, was ich aber bis dahin nicht so formuliert hätte: Wir erleben derzeit eine Rückkehr der Vielehe. Das soziologische Gerede von der „seriellen Monogamie“ stimmt überhaupt nicht. „Seriell“ ist die Monogamie, also die exklusive Lebensgemeinschaft eines Paares, nämlich höchstens im Hinblick auf den Sex – darüber besteht jedenfalls weithin Einigkeit: Wer mit der einen pennt, darf nicht (mehr) mit der anderen. Aber im Hinblick auf die Gesamtheit der Beziehung stimmt es ganz oft nicht, nämlich immer dann, wenn Kinder da sind. Denn es ist heutzutage ausdrücklich erwünscht, dass die Beziehung der Kinder zu beiden Elternteilen auch nach der Scheidung aufrechterhalten wird. Es ist aber völlig unsinnig anzunehmen, ein Vater könnte eine intensive und verantwortungsvolle Beziehung zu seinen Kindern pflegen, ohne gleichzeitig auch eine (wie auch immer geartete) Beziehung zu deren Mutter zu haben – oder gegebenenfalls auch andersrum.

Wie soll man dieses komplizierte Beziehungsgefüge organisieren? An dieser Frage scheitern heute viele Liebesbeziehungen zwischen Frauen und Männern. Eine Bekannte von mir hat sich zum Beispiel von ihrem Freund getrennt, mit dem sie drei Jahre lang ein Paar war. Das ungeklärte Verhältnis zu seiner Exfrau und den noch kleinen Kindern war ein dauernder Streitpunkt gewesen. Meine Bekannte hatte den Eindruck, immer nur um die Bedürfnisse der „Erstfamilie“ herumorganisiert zu werden – angefangen vom Urlaubstermin über die Frage, in welcher Stadt man wohnt, bis hin zur Planung der Weihnachtsfeiertage. Endgültig gereicht hat es ihr dann, als ihr Freund den Vorschlag machte, sie könnten doch eine Wohnung im selben Haus beziehen, in dem auch seine Exfrau und die Kinder lebten. Das wäre doch organisatorisch am einfachsten, fand er. In dem Moment beschloss sie, dass das Leben einer Zweitfrau wohl doch nichts für sie ist.

Vielleicht wird es Zeit, sich einzugestehen, dass die so genannte „serielle Monogamie“ überhaupt keine Monogamie ist. Monogamie ist nämlich, so sagt die Lexikon-Definition, „die lebenslange exklusive Fortpflanzungsgemeinschaft zwischen zwei Individuen“. In diesem Sinne ist unsere Kultur ganz offensichtlich schon lange nicht mehr monogam. Hierzulande wird „monogam“ verstanden als „in einem bestimmten Lebensabschnitt nur mit einer Person Sex haben.“ Die Frage, wer mit wem ins Bett geht, ist aber in diesem Zusammenhang ziemlich unerheblich. Solange keine Kinder da sind, entstehen diesbezüglich im Allgemeinen keine größeren Probleme, jedenfalls keine, die erwachsene Menschen nicht im Normalfall untereinander regeln könnten.

Das Hauptproblem besteht nicht im Hinblick auf die Sexualität, sondern auf die Kinder, und die Frage, wie stabile Elternbeziehungen auf der einen und wechselnde Sexualbeziehungen auf der anderen Seite unter einen Hut gebracht werden können. Oder konkret: Wer sich mit wem wie intensiv verbunden fühlt, wo der emotionale Lebensmittelpunkt liegt, wo die Verantwortlichkeiten und Verbindlichkeiten.

„Fortpflanzungsgemeinschaften“ lassen sich ganz einfach nicht „seriell“ organisieren. Jedenfalls dann nicht, wenn eine Gesellschaft den Anspruch auf lebenslange verantwortliche Elternschaft sowohl von Vater als auch von Mutter legt. Es gäbe natürlich andere Möglichkeiten. Matriarchale Gesellschaften zum Beispiel sind häufig so organisiert, dass sie Vaterschaft und Sexualität trennen: Die Rolle des sozialen Vaters, also der verlässlichen, lebenslang verpflichteten männlichen Bezugsperson eines Kindes, übernimmt der Bruder der Frau, während die Sexualpartner der Mütter wechseln können. Männer sind also nicht die Väter der Kinder, die ihre (wechselnden) Sexualpartnerinnen zur Welt bringen, sondern sie sind die „Väter“ ihrer Nichten und Neffen, der Kinder ihrer Schwestern, mit denen sie ja auch ohnehin eine lebenslange familiäre Beziehung verbindet.

In diese Richtung einer kulturellen Trennung zwischen biologischer und sozialer Vaterschaft geht die Entwicklung hierzulande aber gerade nicht. Die „biologische“ Vaterschaft wird – wie die jüngste Aufwertung genetischer Vaterschaftstests in juristischen Verfahren zeigt – im Vergleich zur sozialen Vaterschaft sogar immer wichtiger. Vor allem die organisierten Männerverbände bekunden hieran ein großes Interesse (obwohl es nach wie vor auch sehr viele Väter gibt, die nach einer Trennung den Kontakt zu ihren Kindern abbrechen). Doch wenn man das will, muss man sich auch den Konsequenzen solcher Verhältnisse stellen: Wenn Väter und Mütter das Recht auf wechselnde, serielle Liebesbeziehungen inklusive daraus möglicherweise resultierender weiterer Kinder haben, dann ist das faktische Polygamie.

Dass dies nicht offen thematisiert wird, liegt natürlich daran, dass wir komplexe Familienstrukturen, die über die intime Zweierbeziehung als „Keimzelle“ hinausweisen, hierzulande offiziell ablehnen. Schon in der Schule hat man uns beigebracht, dass der Übergang von der bösen Polygamie der wilden Naturvölker zur guten Monogamie der zivilisierten Gesellschaften ein Fortschritt in der Menschheitsgeschichte war. Derzeit ist das Thema zudem besonders heikel, weil diese alte, patriarchale Vielehe doch eher bei den vermeintlich so rückständigen Muslimen vermutet wird, als mitten unter „uns“ aufgeklärten westlichen Leuten. Dabei ist es völlig abwegig zu glauben, dass die alten Araber ihre vielen Frauen alle gleichzeitig geehelicht hätten. Natürlich taten auch sie das in der Regel „seriell“, also hübsch nacheinander. Und auch damals wird es im wesentlichen so gewesen sein, dass die „Erstfrau“ vor allem, was das Nachtlager betraf, gegen ihre jüngeren, sexuell attraktiveren Nachfolgerinnen ausgetauscht wurde, aber als Mutter der bereits geborenen Kinder eben weiterhin zum Familienkreis gehörte. Dass der Prophet Mohammed irgendwann die Parole ausgab, bei vier Frauen müsse Schluss sein, hatte auch keineswegs sexualmoralische, sondern ökonomische Gründe: Es ging, damals wie heute, um die Frage der wirtschaftlichen Absicherung von Frauen und Kindern, also um das Unterhaltsrecht.

Eines allerdings ist heute anders geworden, und das ist die Gleichberechtigung der Frauen. Es sind nicht mehr, wie in patriarchalen Zeiten, nur die Männer, denen es erlaubt ist, im Laufe der Zeit mehrere Frauen zu haben, sondern auch die Frauen dürfen heute mehrere Männer haben. Das macht das Problem aber nicht unbedingt einfacher. Auch so manchem „Zweitmann“ dürfte das familiäre Kuddelmuddel seiner bereits mit einem anderen Mann Mutter gewordenen Lebenspartnerin Probleme bereiten. Immerhin können die Männer, anders als die Frauen, hier auf den Faktor Zeit hoffen: Bei den Frauen ist nämlich irgendwann mit dem Mutterwerden Schluss, während die Männer bis ins hohe Alter weitere Kinder zeugen können. Deshalb ist das neue Unterhaltsrecht übrigens auch unter Geschlechteraspekten höchst ungerecht: Ein „Erstmann“, der wegen der Kinder auf Karrierechancen verzichtet hat, kann sich relativ sicher sein, dass die gut verdienende Mutter seiner Kinder irgendwann keine weiteren Kinder in die Welt setzt, denen (und deren Vätern) gegenüber sie möglicherweise unterhaltspflichtig ist. Den „Erstfrauen“ geht es da deutlich schlechter. Sie müssen bis ans Lebensende um ihre Unterhaltsansprüche bangen, da die gut verdienenden Väter ihrer Kinder jederzeit die Möglichkeit haben, erneut mit anderen Frauen Kinder zu haben.

Was die ökonomische Seite des Problems betrifft, so ist eine Lösung aber in Sicht: Sie besteht in der finanziellen Unabhängigkeit aller erwachsenen Individuen. Wenn erst einmal alle Frauen und Männer erwerbstätig und individuell ökonomisch abgesichert sind, dann verliert die Frage des Unterhaltsrechts an Bedeutung. Dass dieser Weg bislang nur halbherzig eingeschlagen wird – unter anderem deshalb, weil die ökonomische Bedeutung von Haus- und Familienarbeit noch immer nicht in aller Klarheit mit einkalkuliert wird – ist zwar wahr, aber kein symbolisches, sondern lediglich ein handwerkliches Problem der Politik. Denkbar ist so eine Lösung, und im Großen und Ganzen sind wir ja auch bereits auf dem Weg dorthin.

Dennoch glaube ich, dass das Problem der heutigen, uneingestanden polygamen Beziehungsstrukturen damit nicht gelöst ist. Meine Bekannte zum Beispiel, die keine andere Lösung sah, als sich von dem Mann, den sie eigentlich liebt, zu trennen, hat kein wirtschaftliches Problem. Dass ihr Freund sein Einkommen mit seinen Kindern und deren Mutter teilt, findet sie völlig in Ordnung. Als ökonomisch selbstständiger Frau kann es ihr ja auch egal sein. Ihr Problem ist vielmehr, dass es ihr in dieser Beziehungskonstellation nicht möglich ist, weiterhin den Traum einer monogamen Liebesbeziehung zu träumen. Sie musste einsehen, dass sie mit diesem Mann, obwohl sie ihn liebt, keinen intimen Familienbereich gründen (und in diesem Binnenraum selbst Mutter werden) kann, ohne dass dieser „monogame“ Bereich gewissermaßen „gestört“ wird durch die gleichfalls berechtigen Ansprüche anderer Frauen und Kinder, die durch ebenso intime Beziehungen mit diesem Mann bereits verbunden sind.

Worauf ich hinaus will ist, zu zeigen, dass Probleme dieser Art nicht nur individuelle Probleme sind, sondern die logische Folge der Art und Weise, wie wir über Familien und Liebesbeziehungen sprechen und nachdenken. Früher, in patriarchalen und monogamen Zeiten, hatte der Liebeskummer der Frauen seinen Grund in einem individuellen Fehlverhalten der betreffenden Männer. Zwar war sexuelle Polygamie, insbesondere unter Männern (aber wahrscheinlich auch unter Frauen) schon immer weit verbreitet. Doch wenn ein Ehemann mit der Sekretärin ins Bett ging oder die Ehefrau den Briefträger verführte, dann entstanden daraus keine moralischen, von der Gesellschaft eingeforderten Folgen und Verpflichtungen. Monogamie hieß eben, dass die erste, eigentliche, gesetzlich abgesegnete Beziehung (die Ehe) als einzige zählte. Entsprechend war sich die „öffentliche Meinung“, also die Nachbarinnen, die Schwiegermütter, die Zeitungsschreiber und so weiter, auch einig: Wer „fremdgeht“ – egal ob als Verheirateter oder mit einem anderweitig Verheirateten – handelt schlecht, ist schuldig, hat keine Ansprüche zu stellen.

Das hat sich geändert. Wir möchten, dass die Ansprüche aller Beteiligten gehört und beachtet werden. Das heißt aber, dass heute der aus „Mehrfachbeziehungen“ herrührende Liebeskummer der Frauen (und wohl auch vieler Männer) nicht in erster Linie mit individuellem Fehlverhalten zu tun hat, sondern mit widersprüchlichen, einander ausschließenden Ansprüchen der Gesellschaft: Man kann eben ganz einfach nicht sowohl intime und exklusive Zweierbeziehungen führen, als auch für die Kinder aus vorangegangenen Beziehungen verantwortlich und verlässlich da sein. Der Traum der intimen, exklusiven Zweierbeziehung, der Monogamie also, lässt sich nur träumen, wenn man entweder auf Kinder ganz verzichtet (und auch nur Kinderlose als mögliche Liebespartner und -partnerinnen in Betracht zieht), oder wenn man tatsächlich zur ursprünglichen Monogamie-Definition der „lebenslangen exklusiven Fortpflanzungsgemeinschaft“ zurückkehrt. Und es ist wohl kein Zufall, dass es für beides derzeit starke gesellschaftliche Tendenzen gibt.

Wenn wir das aber nicht wollen, wenn wir vielmehr eine Gesellschaft wollen, in der weiterhin Kinder geboren werden, die Erwachsenen aber dennoch frei sind, ihre Sexualpartner und -partnerinnen im Lauf der Zeit zu wechseln, dann werden wir uns wohl dem Thema „moderne Polygamie“ zuwenden müssen. Wie können familiäre Beziehungsstrukturen funktionieren, in denen sich mehrere Frauen und Männer, die in komplizierten Strukturen wechselseitig durch (ehemalige und aktuelle) Sexualbeziehungen sowie durch ein komplexes Netz von sozialer oder biologischer Mutter- und Vaterschaft unweigerlich miteinander verbunden sind, wohlfühlen und menschenfreundlich miteinander umgehen?

 

Ich bin Journalistin und Politologin, Jahrgang 1964, und lebe in Frankfurt am Main.

10 Gedanken zu “Die Rückkehr der Vielehe

  1. Gedankenvoller Text! Ich glaube eine Alternative, die auch immer populärer wird, sind die alternativen Gemeinschaften. Meist haben sie einen ökologischen Schwerpunkt, daher oft als Ökodörfer bezeichnet. Aber auch das gemeinsame Wirtschaften und Beziehungsleben wird neu, nämlich sehr bewusst und einfühlsam, gehandhabt. Beispiel ist das Ökodorf Sieben Linden (Anders leben: Ökodorf Sieben Linden). Ansonsten nach ‚Ökodorf‘ googlen und sich durch die Links auf den Seiten hangeln.

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  2. Ein sehr Interessanter Beitrag , ich denke das man auch in einer ehe eine “ zweitfrau“ lieben kann und um die soziale absichrung der Familie zu gewährleisten sollten in einem solchen fall klar Regeln aufgestellt werden an denen man sich auch tunlichst halten sollte .
    der mensch ist nicht zur Monogamie geboren und ist wenn auch für viele unverständlich weil moralschwach in der lage mehrere Personen gleich stark zu lieben

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  3. Ich habe den Eindruck, hier wird noch viel zu bürgerlich gedacht. Die Bestandsaufnahme stimmt ja soweit, wir leben ja in einer extrem bürgerlichen Gesellschaft.

    Aber was Lösungen angeht immer von lebenslang und zweier Beziehungen auszugehen, ist doch total unpraktisch und auch unangemessen.

    Wo sind die Konzepte mit modernen Gruppen, in denen einer / eine sich z.B. um die Kinder kümmert, während die anderen arbeiten gehen? Wo Kinder soziale Kontakte zu verschiedenen Personen und nicht nur zu ihren Eltern haben? Wo sexuelle sowie soziale Kontakte nicht mehr starr und ausschliesslich sind?

    Wieso diese ständige Rede von biologischer Verbundenheit? Kann ich nicht zu allen Menschen nett sein? Kann ich nicht zu jedem Kind eine gute Beziehung aufbauen?

    Ich denke wir müssen unser denken deutlich befreien und viel offenere Konzepte entwickeln um moderne Lebenswelten zu erschaffen oder auch nur der aktuellen Lebenswirklichkeit gerecht zu werden.

    Der letzte Absatz springt für mein Verständnis viel zu kurz.

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  4. Bei aller Liebe – sobald ich offen zugebe, dass ich nicht monogam leben will und kann, bin ich als „ernsthafte“ Beziehungspartnerin OUT – bestenfalls noch als „heimliche Geliebte“ gefragt – da ist es manchmal nicht gerade leicht, ehrlich (zu sich selbst bzw. anderen) zu bleiben…

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  5. Jetzt bin ich über Pickup Artists, Johnny Soporno, Sex at Dawn, Mosuo-Frauen und Matriarchat auf dieser Seite gelandet. Mir gefallen die Gedanken, die hier geäußert werden. Mal nicht nur das Wiederkäuen gesellschaftlich oder religiös vorgeprägter Meinungen.

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