Die Welt, die von mir unabhängt

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Im Bezug auf politisches Engagement gibt es zwei Haltungen, zwei Gruppen von Leuten, die mich gleichermaßen nerven.

Auf der einen Seite diejenigen, die sich und ihre jeweiligen Aktionen ungeheuer wichtig nehmen, sodass man oft den Eindruck hat (und zuweilen verbreiten sie diesen Eindruck sogar selbst), dass wenn man sich nicht unmittelbar mit Haut und Haaren an ihren Aktionen beteiligt, morgen die Welt untergeht.

Auf der anderen Seite die, die Politik für etwas halten, das nur die anderen etwas angeht, und die von sich das Bild des „kleinen Rädchens“ pflegen, auf dessen Handlungen es ja sowieso nicht ankommt.

Letztlich sind beide Varianten auf dieselbe Weise schädlich. Einen Mord kann man zum Beispiel von beiden Warten aus begehen: Im ersten Fall tötet man Feinde, Ungläubige, Kriminelle im Namen der „guten Sache“, denn da ja alles von mir und meinen Aktionen abhängt, bin ich auch berechtigt (oder, vornehmer gesagt, leider gezwungen), zu drastischen Maßnahmen zu greifen. Und andersrum kann man einen Mord auch begehen, weil man die Bedeutung des eigenen Handelns für die Welt unterschätzt: Auf mich kommt es ja ohnehin nicht an. Oder: Ich gehorche doch nur einem Befehl, nehme meine Chancen auf dem globalisierten Markt wahr, Verluste sind zwar bedauerlich, aber was habe ich als einzelne Person denn schon für einen Einfluss auf den Lauf der Dinge…

Man könnte die beiden Positionen vielleicht als „Größenwahn“ versus „Schicksalsergebenheit“ beschreiben. Sie sind nicht einfach eine persönliche Macke, sondern dieser Gegensatz durchzieht, wenn man mal genauer hinschaut, einen Großteil der westlichen Philosophie.

Zum Beispiel den Streit zwischen Moderne und Postmoderne – während man früher glaubte, dass der Mensch als Subjekt die Natur und sein Schicksal unterwerfen und in den Griff kriegen kann, bezweifelt ein postmoderner Relativismus die Möglichkeit, überhaupt einen freien Willen zu haben. Sind wir doch alle sowieso viel zu sehr geprägt von den Umständen. Eine biologistische Variante davon ist der Streit um die Hirnforschung: Ging man früher davon aus, dass der heroische (männliche) Geist über die Niederungen des Körpers erheben und sich von ihnen befreien kann (oder zumindest können sollte), sieht es für manche so aus, als seien wir durch unsere Gehirne (wahlweise auch die Gene) ohnehin komplett fremdgesteuert.

Dass dies ein falscher Dualismus ist, beschäftigt viele feministische Denkerinnen schon lange, aber bisher fehlte mir ein Begriff, mit dem sich das umschreiben lässt, der einen anderen Standpunkt beschreibt und nicht nur zwischen den beiden Gegensätzen hin- und herpendelt oder versucht, sie irgendwie auf einen Nenner zu bringen.

In dem neuen Buch der italienischen Diotima-Philosophinnen „Immaginazione e politica“ habe ich nun eine Formulierung gefunden, der das vielleicht gelingt. Annarosa Buttarelli zitiert in ihrem Aufsatz „Politica dell’altro mondo“ einen Satz der brasilianischen Schriftstellerin Clarice Lispector, die in ihrem Roman „Die Passion nach G.H.“ an einer Stelle schreibt, dass „die Welt von mir unabhängt“.

Buttarelli kommentiert das so: „Zu sagen, dass die Realität von uns unabhängt, korrespondiert mit dem Versuch zu sagen, dass wir eine Beziehung zur Realität haben können, in der aber ihre Unabhängigkeit aufbewahrt ist. Es ist das Bewusstsein, dass das Hervorbringen der Bedeutung von Realität davon abhängt, dass wir über sie nachdenken und davon sprechen. Auf diese Weise wird jeder Dualismus, in dem die philosophischen Realismen gefangen sind, außen vor gelassen. Es spricht uns nicht frei von der Verantwortung, Fragen zu stellen, vor allem aber beauftragt uns diese Sichtweise, der Realität eine Stimme zu geben. Jener Realität, die sich genau in dem Moment authentisch unserem komplexen Denken zeigt, in dem wir in der Lage sind, ihre Unabhängigkeit und Andersheit wahrzunehmen.“

Ich finde das eine inspirierende Weise, mich selbst und mein Engagement innerhalb der Welt zu positionieren. Weder hängt die Welt von dem ab, was ich tue (was wir Menschen überhaupt tun). Aber sie „ist“ auch nicht einfach unabhängig von uns. Sondern sie „unabhängt“ von uns. Es gibt eine Beziehung. Mein Beitrag zur Welt ist ein aktiver, aber er besteht weder darin, die Welt in meinem Sinne zu beeinflussen, also irgendetwas mit ihr „zu machen“, und auch nicht darin, ihr bei ihrer Entwicklung einfach nur „neutral“ zuzuschauen.

Mein Beitrag besteht darin, zu sehen, zu durchdenken und immer wieder auszusprechen, dass sie – die Welt und die Realität – für mich, für uns Menschen, nicht verfügbar ist. Dass wir die Folgen unseres Handelns nicht vorhersehen können. Dass jederzeit Dinge geschehen können, von denen wir dachten, sie seien unmöglich. Und daraus müssen dann natürlich konkrete politische Maßnahmen und Handlungsoptionen entwickelt werden, wie wir die Gesellschaft und unser Zusammenleben auf eine Weise regeln können, die dieser Tatsache Rechnung trägt.


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Ich bin Journalistin und Politologin, Jahrgang 1964, und lebe in Frankfurt am Main.

15 Gedanken zu “Die Welt, die von mir unabhängt

  1. Eine Welt, diese EINE Welt, unabhängt von uns…, eine Vorstellung, die sich wie ein gespanntes Gummiband anfühlt. Der nächste Schritt könnte zum Hängen oder Hängen gelassen führen. Es fällt mir schwer nachzuvollziehen, dass ‚wir nichts mit der Welt machen‘, unser ‚Handeln nicht vorhersehen können‘.
    Ist es nicht schon lange so, dass wir sehr genau wissen, was wir anrichten, dass viele Folgen unseres Handelns abzusehen sind, dass wir um des Profits willen nachhaltige Schäden in Kauf nehmen? Könnten wir nicht im Vorfeld vieles verhindern, wenn wir den Mut hätten, uns der verfallenden Moral und den unethischen Handlungen entgegenustellen?
    Zugegeben, es hört sich pathetisch an, doch angesichts eines erneuten Gipfels, der außer Kosten nix gebracht hat, der Ölkatastrophe im Golf von Mexico und der schamlosen Gier der Spekulanten, ist das un- vielleicht doch kleiner als das -abhängt. Wachstum ohne Ende wird weiterhin suggeriert, weil Politiker Angst haben, nicht mehr gewählt zu werden.
    Bis jetzt hat die Welt jede Spezies überlebt, doch das ist kein wirklich tröstlicher Gedanke.

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  2. Interessant, Dein Bezug zur Hirnforschung. Schrecklich, wie das Thema boomt, auch populärwissenschaftlich, und unser Menschenbild in Frage stellt. Hast Du darüber schon mehr geschrieben?

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  3. @Jutta – ich glaube, ich benutzt die Begriffe „uns“ und „die Welt“ anders als du. Mit „uns“ meine ich nicht „uns Menschen“ in ihrer Gesamtheit, sondern „uns“ einzelne Menschen, die sich jetzt hier im Blog über das Thema Gedanken machen. Und unter „die Welt“ verstehe ich nicht die Natur oder das, was „den Menschen“ gegenüber steht, sondern die Natur UND die anderen Menschen, mit denen ich es zu tun habe. Es gibt keine Trennung zwischen „der Welt/der Natur“ und „den Menschen“, da Menschen einfach ein Teil der Welt sind. Und es sind ja auch nicht „die Menschen“, die die Ölkatastrophe im Golf von Mexiko verursacht haben, sondern bestimmte Menschen. Gerade die Probleme, die du beschreibst, kommen, wie ich finde, genau von dem von mir kritisierten Gestus, zu meinen, man könnte die Folgen des eigenen Handelns vorhersehen. Gerade die Finanzkrise und die Ölpest sind Beispiele dafür, dass das ein Irrtum ist.

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  4. Pingback: jensscholz.com 2.0
  5. Was wäre denn eine „konkrete politische Maßnahme“, die dem Glauben, dass jederzeit ein für „unmöglich gehaltenes Ding geschehen kann“, Rechnung trägt … hört sich für mich an, als ob Knoblauch und Silberkugeln unter der Bevölkerung verteilt werden, weil eventuell Vampire aus den Karpaten über uns herfallen könnten …

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  6. @Andreas – so polemisch, wie du die Frage schreibst, habe ich eigentlich keine große Lust, sie überhaupt zu beantworten, aber vielleicht fragen sich andere ja ähnliches. Eine konkrete politische Maßnahme ist eben eine in einer bestimmten Situation, die die Möglichkeit einkalkuliert, dass man nicht alles vorhergesehen hat. Also genau nicht wie in deinem Beispiel, wo man es ja offenbar für möglich hält, dass Vampire kommen und deshalb Knoblauch verteilt – das also hätte man dann vorausgesehen. Mein Punkt ist genau im Gegenteil, dass man kann sich gerade NICHT gegen alles absichern. Und das muss man offen zugeben. Also nicht: Unsere Wissenschaftler haben das gecheckt und deshalb können wir es machen, sondern: Wir haben zwar alles gecheckt, was uns einfiel, aber wir wissen nicht, was noch passiert, wollen wir es trotzdem machen?

    Früher hat man ja bei allen Zukunftsplanungen ein „So Gott will“ dazu gefügt. Das hat das ein bisschen geübt, es erinnert nämlich daran, dass wir das nicht einfach so entscheiden können. Wenn wir ausmachen, morgen abend gehen wir ins Kino, dann ist das erstmal nur ein Plan, weil vielleicht bist du oder ich morgen schon tot. Also: Wir gehen ins Kino, so Gott will. das heißt: Was uns betrifft, strengen wir uns an, aber wir wissen nicht, ob nicht etwas passiert, worauf wir keinen Einfluss haben, woran wir nicht gedacht haben, was wir für unmöglich hielten, und was den Kinobesuch verhindert. Es wird viel zu oft so getan, als könnte man die Zukunft zweifelsfrei vorausplanen und von dieser Illusion werden dann Entscheidungen getroffen, die eben u.U. falsch sind.

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  7. @Antje Schrupp:

    Tut mit leid, ich wollte zwar überzeichnen, aber nicht polemisch sein.

    „Wir haben zwar alles gecheckt, was uns einfiel, aber wir wissen nicht, was noch passiert, wollen wir es trotzdem machen? “

    „Wir gehen ins Kino, so Gott will. das heißt:[…]“

    Derjenige, der letztere Haltung hat, verzichtet aber auch ganz bewußt auf Maßnahmen oder gar darauf, ins Kino zu gehen – Gott kann man sowieso nicht ins Handwerk pfuschen, Maßnahmen, die das versuchen, sind sowieso Gotteslästerung.

    Du sprachest aber von „Maßnahmen“, die berücksichtigen sollen, dass das Unvorhergesehene eintritt und ich kann mir darunter leider halt immer noch wenig vorstellen, es sei denn, Du meinst wirklich nur die innere Haltung, die etwa der „Gottvertrauende“ einnimmt.

    Eine „Maßnahme“ als solche gibt es aber doch nicht – egal, was ich tue, es wird immer eine Reaktion auf das sein, was ich gedanklich vorwegzunehmen in der Lage bin. Gegen das, was sozusagen im Nichtsichtbereich meines blinden Flecks sich mir nähert, bin ich schutzlos.

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  8. @Andreas – das versteh ich nicht. Ich verzichte doch nicht darauf, ins Kino zu gehen oder irgendwelche sinnvollen Maßnahmen zu ergreifen, bloß weil ich mir klar mache, dass ich es unter’m Strich nicht absolut in der Hand habe.

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  9. @Antje Schrupp:

    Ja, das verstehe ich auch nicht … deswegen hatte ich ja auch als kurzes Folgepost, um den Vertipper zu korrigieren, geschrieben was ich meinte:

    …nicht ins Kino zu gehen.

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  10. Die Argumentation erinnert mich an den Untergang der Titanic: Die wäre sicher unsinkbar gewesen, wäre ihr nicht dieser Eisberg in die Quere gekommen…
    Ich denke nicht, dass wir so grundlegend unterschiedlicher Auffassung sind, denn es ist sicher richtig, dass wir nicht alle Folgen unseres Handels übersehen können, doch ich bin überzeugt davon, dass aus Gründen der Gier absehbare Risiken einfach eingegangen werden und das zitierte ’so Gott will‘ einen zynischen Beigeschmack erhält.
    In beiden von mir benannten Fällen hat es frühzeitig warnende Stimmen gegeben, die einfach ignoriert wurden. Ein Grund mehr, an Stellen wie dieser den Gedankenaustausch nicht abreißen zu lassen.

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