Das Schielen unserer Epoche

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Vermutlich sind viele momentan deprimiert über die öffentlichen Diskussionen, die das Buch von Thilo Sarrazin ausgelöst hat. Ich habe versucht, so wenig wie möglich davon zur Kenntnis zu nehmen und will mich mit diesem Blogpost auch nicht daran beteiligen, sondern auf einen anderen Punkt hinaus.

Als Politikwissenschaftlerin interessiert beziehungsweise irritiert mich folgender Punkt: Dass es ein so eklatantes Auseinanderklaffen zwischen geisteswissenschaftlicher Forschung und Erkenntnissen und der tagesaktuellen Politik und politischen Debatte gibt.

Auf akademischer Seite haben wir jetzt ja einige Jahrzehnte Poststrukturalismus hinter uns, eine „Postmoderne“, die in inzwischen bibliothekenhaftem Umfang die alten modernen Gewissheiten über Subjekt und Gesellschaft aufgelöst und eigentlich ad acta gelegt hat: Die Möglichkeit etwa, Menschen in fixe Gruppen zu sortieren, die „Beweisbarkeit“ politischer Standpunkte anhand von Statistiken, das Ausgehen von „Identitäten“ auf Seiten politischer Akteur_innen und so weiter.

Dies hat aber offenbar den politischen Diskurs, so wie er sich in den dafür vorgesehenen Institutionen (Parteien, Parlamenten, Medien) abspielt, keineswegs verändert. Im Gegenteil, hier scheinen wir uns wieder immer mehr den Theorien und Ideen des 19. Jahrhunderts, also der klassischen Moderne, anzunähern: Es werden Kriege als Mittel der Politik legitimiert, man sucht die Ursachen sozialer Ungleichheit in einem schlechten Betragen „der Armen“ (wahlweise „der Ausländer“), die Komplexität menschlicher Differenzen werden wieder ganz banal stereotypisiert („der Islam“) und so weiter.

Inzwischen scheinen wir sogar an den Punkt zu kommen, wo tatsächlich auch die sozialpolitischen Maßnahmen des 19. Jahrhunderts (Arbeitszwang für Arme, Rassismus, malthusianische Bevölkerungspolitik, Biologismus) wieder diskussionsfähig werden.

Die italienische Journalistin Ida Dominijanni nennt dieses Phänomen das „Schielen” unserer Epoche: Auf der einen Seite sind moderne Gewissheiten, selbstherrliche Subjekte, der Glaube an Gott, Gesetz und Vaterland in den Geisteswissenschaften längst ad acta gelegt, und massenweise Bücher und Studien erklären, warum das so sein muss. Im Bereich von Politik und Mediendiskurs hingegen sind diese Kräfte ungebrochen am Werk und werden sogar gefeiert. Ganz offensichtlich interessiert es dort gar nicht, dass sie wissenschaftlich längst dekonstruiert worden sind.

Dominijanni findet, dass es zwischen beidem einen inneren Zusammenhang gibt: „Je gespaltener, differenzierter, aufgelöster und postmoderner das Subjekt auftritt, umso mehr erscheint es innerhalb eines demokratischen Horizonts, der zu einer Art unanfechtbarem Apriori erhoben wird, wenn nicht gar zu einer unbestreitbaren Religion, im alten Gewand der Individualität, der Rechte, der Repräsentation und der modernen Gleichheit.” (mehr dazu hier)

Die Rückkehr des überwunden geglaubten Weltbildes der Moderne hinge also nicht einfach mit der Dummheit der Leute, mit der Banalität des Medendiskurses und instrumentellen Machtstrategien zusammen. Oder, auf den aktuellen Diskurs bezogen: Es geht nicht darum, dass „Wir“ (die postmodern Aufgeklärten sozusagen) irgendwie machtloser und benachteiligt sind gegenüber „Denen“ (den bösen Sarrazins und denjenigen, die Leuten wie ihm ein Forum bieten, wenn auch im Gewand der angeblichen kritischen Auseinandersetzung). Sondern möglicherweise liegt das ganze Schlamassel auch mit an „uns“.

Ich habe darauf noch keine wirklichen Antworten, sondern nur einige vorläufige Ideen. Eine wäre, dass sich der postmoderne akademische Diskurs zwar inhaltlich, nicht aber methodisch von dem verabschiedet hat, was die Moderne als „Wissenschaftlichkeit“ definierte: Die Fixierung auf Zahlen und allgemeingültige Beweise. Man beschränkte sich darauf, noch eine Studie und noch eine Studie zu schreiben, statt die Aufmerksamkeit auf die Frage zu lenken, wie überhaupt politische Vermittlungsarbeit funktioniert.

Außerdem läuft postmoderne Geisteswissenschaft tatsächlich oft Gefahr, eine Art Relativismus zu propagieren: Wenn alles nur Diskurs ist, gibt es keinen realen Maßstab mehr für das politische Handeln in der Welt (wie früher Gott oder dann die Vernunft), sondern nur viele Verschiedene, die alle irgendwie Recht haben. Stimmt das?

Ich finde hier die Unterscheidung von Luisa Muraro zwischen Relativität und Relativismus sehr hilfreich. Sie schreibt (wie ich bereits in meinem Burka-Blogpost zitierte): „Es ist äußerst notwendig, zwischen Relativismus und Relativität zu unterscheiden: Relativismus bedeutet, die Suche nach dem universalen Wahren und Richtigen aufzugeben, weil man glaubt, alle möglichen Antworten seien abhängig von Kulturen (oder Standpunkten oder Interessen), also historischer Natur und damit veränderbar, und keine könne sich als den anderen überlegen betrachten. Die Relativität hingegen, als Gedankengebäude und vor allem als geistige Einstellung, kann als ein unvorhergesehener Sieg über den Relativismus betrachtet werden. Dieser Sieg wird errungen und bildet sich heraus, indem man Vermittlungen sucht, um von dem einen zum anderen Standpunkt zu kommen.“

Anders gesagt: Es gibt zwar das „Wahre“ nicht in dem Sinne, dass es objektiv Schiedsrichter sein könnte über die Differenzen der Menschen (so wie es sich die Moderne vorstellte), das heißt aber im Umkehrschluss nicht, dass alles einfach nur relativ ist und alle irgendwie Recht haben. Rücken wir die Beziehungen zwischen konkreten Menschen ins Zentrum unserer Aufmerksamkeit, dann kann das „Wahre“ als Maßstab eine Rolle spiele, an dem sich ihr Diskurs orientiert. Im Alltag ist mir das sehr hilfreich: Diskutieren andere Leute mit mir, weil sie wirklich daran interessiert sind, „die Wahrheit“ zu finden (wenn wir auch darüber, was das ist, unterschiedliche Ansichten haben)? Oder verfolgen sie damit nur egoistische oder instrumentelle Zwecke? Das ist meines Erachtens die entscheidende Frage.

Ich finde ja übrigens, dass es einen Themenkomplex gibt, der sich dieser negativen Dynamik teilweise entzieht, und das ist der Feminismus. Auch hier sind natürlich dieselben Entwicklungslinien von „modernem“ zu „postmodernem“ Denken zu beobachten, aber das „Schielen“ scheint mir hier doch weniger krass zu sein, als bei anderen politischen Themen.

Ich denke, das hat auch damit zu tun, dass der Feminismus eben nie nur eine Theorie war, sondern immer auch eine Praxis – die Praxis der Frauenbewegung als politische Größe, aber auch die Praxis der einzelnen Frauen. Und politische Praxis ist immer Vermittlungsarbeit in einer konkreten Situation. Zwar gibt es auch hier ein Auseinanderdriften zwischen akademischem Diskurs und Alltagsleben zu beklagen, aber immerhin wird das offen kritisiert, die Akademikerinnen werden von politischen Feministinnen angefragt, frau lässt sie in ihrem Elfenbeinturm nicht einfach so in Ruhe. Also: Das Problem besteht zwar, aber es ist immerhin auf der Agenda.

Mir würde gefallen, wenn es auch im Hinblick auf andere Themen auf die Agenda käme und sich das Sarrazin-Desaster nicht auf einen bloßen Schlagabtausch beschränkte. Konkret: Ich halte es zwar für falsch, mit Sarrazin zu diskutieren (und problematisch, dass die Leitmedien ihm dieses Forum geben). Es ist aber notwendig, mit den Menschen zu diskutieren, die in seinen „Denkanstößen“ Plausibles finden. Und zwar auf eine Weise mit ihnen zu diskutieren, die nicht versucht, ihnen wissenschaftlich zu „beweisen“, dass sie unrecht haben und dumm sind, sondern so, wie Luisa Muraro es vorschlägt: „Übersetzungen zu suchen zwischen dem, was ich in erster Person lebe, weiß, fühle in etwas, das der/die andere verstehen kann, weil es dem, was er oder sie weiß, fühlt, lebt ähnlich ist oder darauf eine Antwort bietet, indem ich zugehört habe, als er/sie versucht hat, mir die Bedeutung seiner/ihrer Erfahrungen zu erklären.“


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Ich bin Journalistin und Politologin, Jahrgang 1964, und lebe in Frankfurt am Main.

16 Gedanken zu “Das Schielen unserer Epoche

  1. Statistik ist ein wichtiges Arbeitsmittel in der Soziologie und anderen Wissenschaften. Die Macht der Statistik hat aber ihre Grenzen. Selbst wenn man zum Beispiel ermittelt, daß soundsoviele bulgarische Roma soundsooft die Hauptschule abbrechen, hat man noch immer nichts wesentliches verstanden. Statistische Korrelationen werden allzuleicht mit kausalen Zusammenhängen verwechselt. Jedermann weiß, daß es eine statistische Korrelation zwischen dem Storchenbestand und der Anzahl geborener Kinder gibt, und daß man nicht darauf schließen darf, daß der Klapperstorch die Kinder bringt. Dennoch kann man auf diese Art dummes Volk mit „wissenschaftlichen Studien“ einseifen.

    Das alles weiß der Rationalist, der Wissenschaftler – egal ob post-, neo- oder einfach nur modern ausgerichtete – aber auch. Die Vernunftleitung unserer Gesellschaft stellt keinesfalls den Kern des Problems dar, das sich bei den regelmäßig ausbrechenden Sarraziniaden offenbart. Vielmehr zeigen diese Erscheinungen, daß es dem Volk entschieden an Kritikfähigkeit, Rationalität, Einsicht und Anstand mangelt. Noch immer haben die mächtigsten Medienanstalten, BILD, SPIEGEL, FAZ, ARD/ZDF etc. einen größeren Einfluß darauf, was der gemeine Mensch für richtig hält, als der gewöhnliche Menschenverstand. Das ist das Problem.

    Wenn man sich dem Phänomen Sarrazin nähern möchte, dann muß man sich zuerst mit der ideologische Übermacht der Medienanstalten, deren Techniken der Demagogie, mit antidemokratischen Strukturen und Tendenzen in unserer bankrotten Gesellschaft, mit intellektueller und politischer Korruption, mit Extremismus, Aberglauben, Fanatismus und Leichtgläubigkeit beschäftigen, und nicht mit wissenschaftlichen Arbeitstechniken. Nicht Rationalismus sondern der um sich greifende Irrationalismus ist das Problem.

    Es geht nicht darum, dass „Wir“ (die postmodern Aufgeklärten sozusagen) irgendwie machtloser und benachteiligt sind gegenüber „Denen“ (den bösen Sarrazins und denjenigen, die Leuten wie ihm ein Forum bieten, wenn auch im Gewand der angeblichen kritischen Auseinandersetzung). Sondern möglicherweise liegt das ganze Schlamassel auch mit an „uns“.

    Ja, genau. Noch immer kaufen die Leute jeden Morgen die BILD-Zeitung, bezahlen GEZ-Gebühren, abonnieren Tageszeitungen, und denken überhaupt nicht daran, für ihre eigenen Rechte einzustehen.

    Eine wäre, dass sich der postmoderne akademische Diskurs zwar inhaltlich, nicht aber methodisch von dem verabschiedet hat, was die Moderne als „Wissenschaftlichkeit“ definierte: Die Fixierung auf Zahlen und allgemeingültige Beweise. Man beschränkte sich darauf, noch eine Studie und noch eine Studie zu schreiben

    Es wäre wirklich sehr schlimm, wenn sich der akademische Diskurs inhaltlich von Wissenschaftlichkeit verarbschiedet hätte, wenn er sich nicht für die Lösung gesellschaftlicher Probleme verantwortlich fühlen würde, stattdessen Lösungen mit Schuldzuweisung, Hetze und Gewalt verhindern würde, wenn es also nur noch Irrationalismus und Indoktrination geben würde, weil man den wissenschaftlich gebotenen Skeptizismus als Relativismus verunglimpft hat…

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  2. wenn man die Dinge kulturwissenschaftlich betrachtet, wird einem doch schnell bewusst, dass eine sachliche Basis für Diskussionen und Debatten interkulturell sehr schwierig ist! Ich muss zugeben, dass ich hinter einigen Aussagen von Sarrazyn stehe, auch wenn mir die Art und Weise der Aäußerungen mehr als missfällt! Wichtig ist jedoch das beide Seiten mit an meiner Lösung arbeiten und nicht nur die deutschen Politiker versuchen im Alleingang Probleme zwischen Kulturen zu lösen…

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  3. Ich denke auch, dass die „Suche nach Wahrheit“ bzw. die Wahrhaftigkeit einer Person sehr wichtig sind, sowohl im wissenschaftlichen Prozess, als auch im sozialen Prozess und im Dialog.

    Ich denke übrigens, dass du bei den Diskussion bei http://www.metalust.wordpress.com viel Freude hättest.

    Pardon, aber das hier muss ich einfach noch los werden:

    Hier leidet deutsches Geld und kleistert:
    Da sehn sich die Herren Oberfeger
    geplündert von den Minderleistern
    der genetisch Muslim-Juden-Neger.

    Im Bundesvorstand einer Bank
    nimmt Geld ihr Revisionenmeister.
    Sein Antlitz wirkt wie seelisch krank.
    Der Grund: Er sieht vieldutzend Geister

    und spricht vom Arsch zum Boden hin
    die gülleklarsten Worte.
    So sieht es aus in Sarrazin,
    dem schrillsten aller Orte.

    Thomas Gsella (Lammfromm-Version)

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  4. Wäre es vielleicht auch eine Option, anstatt die falsche Wirklichkeit, dumme Menschen und unverantwortliche Politiker zu beschimpfen und poststrukturalistisch zu dekonstruieren, lieber die Wirklichkeit erstmals als Fakt hinzunehmen und zu untersuchen? Wäre es was für junge Wissenschaftler von heute? Oder wollen sie weiterhin dem Blödsinn glauben, nur weil es von oben, in dem Fall von Uniprofessoren kommt?

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  5. Ich denke dass das, was Du ansprichst einfach einem sehr positivistischen Zeitgeist entspringt. In beinahe allen Bereichen läuft es doch in erster Linie auf das Quantifizieren und Qualifizieren hinaus – was nicht messbar ist, kann nicht sein, was vermessen ist, ist wahr. Die Bewertungskriterien werden in den seltensten Fällen, das Bewerten an sich so gut wie nie in Frage gestellt.
    Die Geisteswissenschaften haben sich dem teilweise (wieder) entzogen. Tatsache ist aber doch auch, das eben diese aufgrund ihrer geringeren ‚Verwertbarkeit‘ öffentlich ins Hintertreffen geraten. Abstrahieren in Worten und Begrifflichkeiten ist nicht mehr.
    „Und warum sollte man denn auch gerade den Faulen, Unnützen und Unbedarften in ihrem Elfenbeinturm, die doch von der Wirklichkeit keine Ahnung haben Gehör schenken?“ Dieser letzte Satz ist eine Sammlung von Meinung aus dem Forum der Onlineausgabe eines bekannten deutschen Wochenmagazins.
    Das Ergebnis einer solchen Haltung ist leider genau dass, was Du beschrieben hast…

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  6. Mir gefällt der Ratschlag und Hinweis, Übersetzungen zu suchen, zwischen dem, was ich in erster Person lebe, sehe, fühle und dem, was ich bei meiner DiskussionspartnerIn als Bedürfnis wahrnehme. Bezogen auf akademische und sonstige Publikationen bedeutet das für mich z.B., in einer Ich-Form zu schreiben und mich als Person zu beziehen. In den letzten Jahren habe ich übrigens gemerkt, dass ich Vortragenden viel lieber zuhöre, die mit ihrer Person präsent sind und ihre Themen mit ihrer Historie verbinden.

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  7. das die postmoderne relativ sei und „alle irgendwie recht haben“ lese ich immer nur bei leuten, die finden, dass es nicht sein könne, dass alles „nur diskurs“ ist. vielleicht lohnt es sich noch einmal bei den poststrukturalist_innen über politik und ethik zu lesen. bei derrida habe ich gelesen, dass wir keinen festen grund unter den füßen haben, aber in der unentscheidbarkeit trotzdem immer wieder entscheidungen treffen müssen und uns so als ethische subjekte reartikulieren. für diese ethik spielt „der andere“ (vielleicht auch – da müsste ich noch mal nachlesen – die beziehung zum „anderen“) eine wichtige rolle. diane elam hat über diese derridasche ethik der unentscheidbarkeit aus feministischer perspektive geschrieben.

    noch eine frage: denkst du, dass sich der feminismus aufgrund der lebhaften praxis dieser dynmik des schielens entzieht, oder liegt es daran, dass feminismus „mächtiger“ ist, d.h. auch institutionalisierter und schon ein bisschen in die gesellschaftlichen strukturen eingesickert? rassismustheorien sind ja durchaus auch mit antirassistischen praxen verbunden, allerdings noch deutlich weniger institutionalisiert, gerade auch im akademischen bereich.

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  8. @ihdl – Ja, da hast du hier wieder eine. Natürlich „kann es sein“, dass alles nur Diskurs ist, ich glaube das aber nicht. Bzw. ich erlebe es anders bzw. ich finde, es ist keine gute Art, das, was ist, zu beschreiben. Vielleicht kann man es so sagen: Wenn wir einen ethischen Diskurs führen, dann sitzen m.E. nicht nur die beteiligten Personen am Tisch, sondern auch die Realität, die Welt mit ihren Notwendigkeiten. Das heißt, es geht nicht nur darum, miteinander zu verhandeln und Entscheidungen zu treffen, sondern auch die der Welt angemessenen Antworten zu finden. Die Unentscheidbarkeit rührt, so gesehen, nur aus unserer kontextbezogenen Unfähigkeit, diese Notwendigkeiten zu erkennen und zu verstehen und nicht aus der Situation an sich. Und wenn ich mich angesichts dessen dann entscheide, dann nicht, um mich „als ethisches Subjekt“ zu artikulieren, sondern um „das Richtige“ zu tun. Und dieses „das Richtige“ ist unabhängig von mir und auch unabhängig von den Beziehungen, sondern es ergibt sich aus der Welt und ihren Notwendigkeiten. Um es an einem Beispiel auf die Spitze zu treiben: Ich komme in einen Raum und da liegt ein schreiendes, hungriges Baby. Das ist keine unentscheidbare Situation, wenn ich mich ihr aussetze, ist klar, dass ich das Baby versorgen und füttern muss. Die These wäre, dass auch andere Situationen in dieser Weise Notwendigkeiten beinhalten, die mir nicht die Freiheit lassen, so oder so zu handeln (also etwa wieder rauszugehen und zu sagen: not my baby), nur dass das eben schwieriger zu erkennen ist. Und dazu kommt natürlich dann auch noch die ganze Kultur, die uns u.U. dazu bringt, Sachen für notwendig zu halten, die gar nicht notwendig sind, und Sachen für überflüssig zu halten, die in Wahrheit notwendig sind usw. Aber das ist kein Gegenbeweis dafür, dass es die Wahrheit „eigentlich“ (wenn wir sie nur erkennen würden) doch gibt. Aber es ist ein schwieriges Thema. Ich habe das hier mal ausführlicher beschrieben – http://www.bzw-weiterdenken.de/2008/08/uber-das-mussen/

    Zu der anderen Frage: Nein, der Feminismus entzieht sich der Dynamik des Schielens nicht, aber er problematisiert das Schielen immerhin. Die Institutionalisierung mag dabei aber auch eine Rolle spielen, sie ist ja auch eine Form der Praxis. Mit positiven und negativen Aspekten freilich. Was ich meinte ist eher, dass die feministischen Akademikerinnen sich viel mehr existenziellen Anfragen von Seiten der „Basis“ ausgesetzt sehen als die anderen Geisteswissenschaften, sie stehen unter einem höheren Rechtfertigungsdruck, wenn sie ihre Erkenntnisse nur akademisch aufschreiben und nicht vermitteln. In der nicht-feministischen, traditionelle männliche Wissenschaft gelten Leute, die besonders unverständlich und alltags-irrelevant schreiben ja gerne mal als besonders schlau :))

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  9. Das der Feminismus nicht schielt ist eine interessante Feststellung.
    Das Schielen ist ja der Gegensatz zwischen Wissenschaft und Glauben. Wie würdest du da den Gegensatz zwischen biologischer Forschung und Feminismus einordnen. Boshaft könnte man aus der Sicht eines Evolutionsbiologen sagen, dass zB die Queertheorie nur deswegen nicht schielt, weil sie strikt auf den Glauben schaut und sich mit der Wissenschaft nicht auseinander setzt.
    Feminismus enthält ja auch allerlei okkultiges, von dem Glauben an die Urmutter und das ewig weibliche bis hin zu Mond-Menstruations-Gedanken.
    Aber der Gedanke, dass nicht sein darf, was nicht zur Theorie passt, der ja genau diesen Schielen darstellt ist im Feminismus weit verbreitet.

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  10. @Christian – ich habe nicht geschrieben, dass der Feminismus nicht schielt, sondern nur, dass das Schielen dort – im Vergleich zu anderen Disziplinen – immerhin als Problem gesehen wird. Ansonsten sehe ich keinen prinzipiellen Gegensatz zwischen Feminismus und Biologie (wohl aber einen zwischen Feminismus und Biologismus). Und in der Biologie wie in der Wissenschaft allgemein wird auch viel „geglaubt“.

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  11. hallo antje,

    danke, dass du einmal aufgeschrieben hast, was mir schon lange auffällt. das auseinanderklaffen von real existierendem und akademischem diskurs. einzig und allein deine antwort, warum das so sei, kann ich nicht verstehen oder nachvollziehen. warum schielen wir? das zitat allein gibt mir keine antwort. welche mechanismen sind es also, die zu diesem auseinanderklaffen geführt haben?

    ich glaube, dass es die verunsicherung ist, die vom „postmodernen“ denken ausgeht. das, was du als relativität beschreibst. sich kritisch mit den dingen auseinanderzusetzen, die eben die realität und die strukturen formen, in die wir eingebettet sind. das bedeutet natürlich auch, unser zutun zu dieser realität in frage zu stellen, unser selbst kritisch zu beleuchten und warum wir stets bemüht sind, strukturen anzuerkennen, als gegeben hinzunehmen und als starre gebilde mit ihnen zu arbeiten. ich finde das selbst unglaublich verunsichernd, mich nicht mehr endgültig auf etwas beziehen zu können, ohne dessen/deren herkunft mit einzubeziehen.

    auf dein beispiel bezogen wäre es für mich keine wirkliche lösung, mich mit den menschen zu beschäftigen, die in sarrazins thesen einen gewissen wahrheitsgehalt entdecken ohne gleichzeitig zu fragen, warum sie das tun und warum dieser dialog jetzt wichtig sei. weil ich mit diesem dialog einer sache wichtigkeit verleihe, die für sich aber unhinterfragt bleibt. ich konstituiere damit kategorien und diskurse, verleihe ihnen wirkmächtigkeit, obwohl das problem in meinen augen ganz woanders liegt – nämlich in den kategorien selbst.

    sicherlich ist es damit schwierig realpolitische probleme anzugehen, z.B. in fragen der geschlechtergerechtigkeit. vielleicht wäre es sinnvoll, beides gleichzeitig zu betreiben, wie es in meinen augen gender mainstreaming tut. ein einseitig verstandenes gender mainstreaming bzw. frauenförderung, frauenemanzipation hat nicht nur aufgrund von widerständen, sondern auch aufgrund feststehender, unverrückbarer kategorien und festhängen in gegebenheiten (strukturen) nicht dazu geführt, geschlechterverhältnisse nachhaltig zu verändern, sondern im gegenteil zu verlängern in andere bereiche.

    zum schielen im feminismus. hier wird ganz gewaltig geschielt 🙂 nämlich nach allen seiten und zu großen teilen auf sich selbst. ich finde das wunderbar, auch wenn manche das als „sich im kreis drehen“ formulieren würden. judith butler formuliert diese beschäftigung des feminismus mit sich und „dem anderen“ aber als große errungenschaft, sie zählt feminismus zu den wenigen politischen denkweisen und praxen, die das tun und deshalb viel existenzieller, nachhaltiger und selbstkritischer an der realität arbeiten. ich sehe das ähnlich. vielleicht kann das ein ansatzpunkt sein, postmodernes denken und schielen auf die moderne miteinander zu verbinden.

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  12. @lantzschi – Der Mechanismus besteht, verkürzt gesagt, darin, dass das postmodern unendlich fragmentierte und aufgespaltene Subjekt letztlich wieder auf die Logik des „Einen“ hinausläuft (nur dass das Eine jetzt eben in unendlich vielen Varianten auftritt). Oder: Wenn „Gott“ oder die „Vernunft“ als der „eine Maßstab“ abgesetzt wurden und jetzt eben der Diskurs als solcher der relevante Maßstab ist, ist das auch wieder ein „Eins“. Das zeigt sich auch darin, dass die Erscheinungsformen, in denen sich die „neue Theorie“ äußert, genau dieselben sind, wie in der klassischen Moderne: Professoren (jetzt auch Professorinnen) schreiben Bücher, in denen sie ihre Theorien „einem Publikum“ möglichst plausibel machen. Eine Alternative zu denken ist natürlich schwer, daher mein Rumgestammele. Aber vielleicht so: Die „Wahrheit“ existiert nicht universal (und ihre Nicht-Existenz in der Postmoderne ist auch eine universale Aussage über die Wahrheit), sondern kontextbezogen. Es geht dann nicht darum, Recht zu haben, sondern in der Lage zu sein, in einer gegebenen Situation sinnvoll zu handeln.
    Zu deinem konkreten Sarrazin-Beispiel: Auch diese Frage nicht theoretisch allgemein entscheiden, sondern in der Situation: Mit wem hast du es gerade zu tun und was verbindet diese Person mit Sarrazins Thesen? Was ist ihr Anliegen dahinter? Und dann entsprechend handeln. Von daher hast du recht: Nicht über die Kategorien von Sarrazin reden, sondern über die Themen, die die jeweiligen Gesprächspartner_innen darin sehen und die ihnen wichtig sind.

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  13. „Dass es ein so eklatantes Auseinanderklaffen zwischen geisteswissenschaftlicher Forschung und Erkenntnissen und der tagesaktuellen Politik und politischen Debatte gibt.“

    Vielleicht sollte man auch sagen, „dass es […} zum Glück gibt.“ ?
    Ich meine, in welcher Epoche „klafften“ denn aktuelle geisteswissenschaftliche Forschung und politische Debatte nicht auseinander?

    Im Heiligen Römischen Reich?

    Hübscher Text aus dem Spiegel:
    „Die Beratertätigkeit von Philosophen in der Politik hat ja eine tragische Geschichte. Platon ging nach Syrakus zum Tyrannen Dionysos, um seine Gesellschaftsutopie zu verwirklichen. Das Experiment scheiterte bekanntlich schmählich, Platon landete auf dem Sklavenmarkt und musste von einem Schüler freigekauft werden. Und der Preußenkönig Friedrich der Große spottete nach seinen Erfahrungen mit Voltaire: Wenn ich eine Provinz bestrafen will, schicke ich ihr einen Philosophen als Gouverneur.“

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  14. Welche Theorie besagt eigenlich, dass vermeintliche wissenschaftliche Erkenntnisse und Debatte nicht auseinanderklaffen dürfen? Und wie ließe sich überhaupt beweisen, dass sie auseinaderklaffen? Ich sehe bspw. viele kluge Beiträge von Geisteswissenschaftlerinnen, die Wirklichkeit sehr präzise beschreiben und in der praktischen Anwendung von Sozialtechnikerinnen wie Merkel und von der Leyen sehr wirksam werden.

    Und andersrum: Dort, wo wissenschaftliche Erkenntnisse recht schnell adaptiert werden – bspw. in den Natur- und Technikwissenschaften – liegt das u.a. daran, dass sie bei der Lösung relevanter Fragestellungen einen substantiellen Beitrag leisten (und die Fragestellungen naturgemäß weniger komplex sind). Im Übrigen müssen wir uns damit befassen, dass im Gegensatz zu vielen „alten“ Techniken, die alten Sozialtechniken nicht substituiert wurden. Sie sind, in unterschiedlichen Ausprägungen immer noch da und damit aktivierbar bzw. in vielen Gesellschaften noch Leittechnik.

    Auch Sarrazin ist ein Beispiel dafür, wie gezielt Wirkung erzeugt werden kann (und um das zu erklären, braucht es noch nicht einmal verschwörungstheoretische Ansätze, denen einige Kommentierende hier anhängen).

    Eine Anwendung geisteswissenschaftlicher Erkenntnis vermisse aber auch ich in der Diskussion um Sarrazins-Buch: Das eigentlich zentrale inhuman Argument, nämlich das Kosten-Nutzen-Kalkül in Bezug auf Menschen wird nicht hinterfragt, sondern nur Sarrazins Berechnungsmethoden. Das lässt sich auch für weniger Intellektuelle übersetzen, in dem man sie einfach fragt, was sie davon hielten, wenn ihre Existenz und Hiersein nach der gleichen Methode kalkuliert würden.

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