Die Unschuldsvermutung

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Ich bin ja wirklich kein Fan von Alice Schwarzer, und weil das inzwischen allgemein bekannt sein dürfte, kann ich es vielleicht wagen, sie jetzt mal an einem Punkt zu verteidigen. Einfach weil mir ein Argument, das ich derzeit häufig gegen ihren Einsatz als Prozessbeobachterin im Fall Kachelmann höre, überhaupt nicht einleuchtet.

Dieses Argument lautet, sie würde feministisch voreingenommen an den Prozess herangehen und eine der wichtigsten Regeln der Demokratie missachten, nämlich die, dass Menschen, die eines Verbrechens beschuldigt werden, solange als unschuldig zu gelten haben, bis sie rechtskräftig verurteilt sind.

Mich interessiert dabei überhaupt nicht der Fall Kachelmann, bei dem ich die Fakten nicht kenne und zu dem ich daher auch keine Meinung habe. Mich interessiert lediglich der grundlegende Tenor des Arguments, das ich für falsch halte: Es ist nämlich, gerade in einer Demokratie (aber vor allem einfach auch so generell), durchaus sehr wohl möglich, jemanden für schuldig zu halten, obwohl kein Gericht ihn rechtskräftig verurteilt. Einfach deshalb, weil es schlicht und ergreifend auch möglich ist, dass Gerichte Leute nicht rechtskräftig verurteilen, obwohl sie schuldig sind (und, was noch schlimmer ist, auch andersrum).

Die Gründe dafür können vielfältig sein: Eine Handlung wird nach den derzeit herrschenden Gesetzen nicht als Verbrechen eingeordnet, obwohl ich der Meinung bin, dass sie durchaus eines ist. Oder: Jemand ist zwar schuldig, das Gericht kann aber nicht ausreichend Beweise beschaffen. Oder: Das gesellschaftliche Klima im Bezug auf das Thema, das hier verhandelt wird, ist voreingenommen.

Gerade im Bezug auf Vergewaltigungen ist es ja noch nicht allzu lange her, dass erzwungener Sex nicht als Verbrechen galt, sondern als normale Angelegenheit. Und es ist auch noch nicht allzu lange her, dass die Gerichte hier tatsächlich voreingenommen verhandelten und entschieden. Es ist der Frauenbewegung zu verdanken, dass sich diesbezüglich in den letzten Jahrzehnten vieles zum Besseren verändert hat. Aber das war nur möglich, weil viele Leute (Alice Schwarzer war eine davon) darauf bestanden haben, dass Vergewaltiger Verbrecher sind, obwohl Gesetz und Polizei das anders sahen.

Das heißt natürlich nicht, dass Schwarzer auch im vorliegenden Fall Recht hat. Alles, was ich sagen will ist, dass das rechtliche Konstrukt der Unschuldsvermutung in dem Zusammenhang kein gutes Argument ist.

Viel grundsätzlicher frage ich mich aber auch, warum solche „Beispielfälle“ überhaupt dieses öffentliche Echo haben (und nur deshalb kann Schwarzer ja so viel Aufmerksamkeit bekommen). Schließlich kann wahrscheinlich kaum jemand ein begründetes Urteil im Bezug auf die Schuld oder Unschuld von Kachelmann fällen. Wir sind doch alle darauf angewiesen, was die Medien schreiben. Aber, was noch viel wichtiger ist: Es ist eigentlich auch schnurzpiepegal, was wir alle im Bezug auf Kachelmann für Meinungen haben.

Solche mediengehypten „Fälle“ lenken uns letztlich von dem ab, was eigentlich unsere Aufgabe wäre: Nämlich in den „Fällen“, mit denen wir selbst tatsächlich etwas zu tun haben, ein Sensorium für Schuld und Unschuld zu entwickeln. Also begründete Urteile zu fällen über das, was die Menschen um uns herum (inklusive uns selber) tun und lassen.

Die allermeisten dieser „Fälle“  kommen nie vor Gericht, weil sie sich weit unterhalb der juristischen Ebene abspielen. Und in den allermeisten dieser „Fälle“ hilft uns auch keine Gesetzeslage weiter. Im Gegenteil: Meistens ist es gerade nicht möglich, Konfliktfälle, die sich uns im realen Leben stellen, anhand von abstrakten „Gesetzen“ und in den überlieferten Kategorien von Schuld und Unschuld zu lösen. Die „Absehung von der Person“ ist meistens keine gute Idee, denn es geht hier um Beziehungen, in denen es gerade auf die beteiligten Personen ankommt. Und statt uns eine Augenbinde umzubinden, wie Justizia, ist es vielmehr notwendig, genau hinzusehen, um eine gute Lösung zu finden.

Genau das ist Politik, und nur die kleine Spitze dieses Eisberges wechselt irgendwann auf die juristische Ebene – nämlich dann, wenn es uns nicht gelingt, eine gute Lösung zu finden. Wenn uns also nichts anderes übrig bleibt, als Justizia anzurufen, die keine „richtigen“ Urteile fällt, sondern nur solche, die formal „gerecht“ sind. Und nur eine noch viel kleinere Spitze davon schafft es, mediale Aufmerksamkeit zu bekommen.

Das sollte uns aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese anderen „Fälle“, von denen unser alltägliches Leben voll ist, die eigentlich wichtige Angelegenheit sind. Hier, in diesen „Verhandlungen“ wird der Grundstein für unsere Kultur gelegt, wird um Wesentliches gerungen, passieren gesellschaftliche Veränderungen und modifizieren sich überkommene Auffassungen über Recht und Unrecht. Und vielleicht münden die dann irgendwann, viel, viel später, auch in ein neues Gesetz oder in die Abschaffung von alten.

Auch hier, im Alltag, ist die „Unschuldsvermutung“ übrigens eine gute Idee. Aber sie hat nur dann einen Sinn, wenn wir sie nicht als formale Angelegenheit verstehen, sondern darin eher so etwas wie eine Haltung sehen, die sich bemüht, die anderen zu verstehen, sich in ihre Lage zu versetzen, die Angelegenheit auch aus ihrer Perspektive zu betrachten, bevor man sich ein Urteil darüber erlaubt. Und vor allem haben diese Verhandlungen im Alltag auch Konsequenzen für mich selbst und mein Handeln (weshalb Urteile auch etwas völlig anderes sind als bloße Meinungen).

Und wenn ich dann zu einem solchen eigenen Urteil komme, einem Urteil, das begründet ist, weil ich mich mit den Fakten so gut wie möglich vertraut gemacht habe, weil ich die Gegenseite gehört habe, das Für und Wider abgewogen – dann ist dieses Urteil, wenn es gut ist, normalerweise gerade nicht einfach von abstrakten Maximen abgeleitet worden. Es ist auch nicht so ohne weiteres verallgemeinerbar (wie es die Logik von „Recht und Gesetz“ vorsieht), sondern eine verantwortliche Einzelfallentscheidung, die der Komplexität des Lebens Rechnung trägt. Diesem unserem subjektiven und verantwortlichen Urteilen im Alltag sollte unser Engagement und unsere Aufmerksamkeit gelten, nicht irgendwelchen stereotyp abgewickelten und medial inszenierten Gerichtsfällen.

Ich kann es auch anders sagen: Jeder mittelmäßige Krimi und jeder häusliche Familienstreit haben mehr mit Politik zu tun, als diese Kachelmann-Debatten.


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Ich bin Journalistin und Politologin, Jahrgang 1964, und lebe in Frankfurt am Main.

25 Gedanken zu “Die Unschuldsvermutung

  1. > Das heißt natürlich nicht, dass Schwarzer auch im vorliegenden Fall Recht hat.

    Öhm, womit denn? Sie sagt doch eh nicht, dass Kachelmann schuldig ist? Oder hab ich was verpasst und muss erst bei bild.de lesen, damit ich Deinen Beitrag verstehe?

    Auf mich wirkt sie bisher tendenziell parteiisch für das mutmaßliche Opfer, was aber was anderes ist als eine Vorverurteilung Kachelmanns.

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  2. @Irene – Sie sagt, dass die meisten Mainstream-Medien sich vorschnell auf die Seite Kachelmanns gestellt hätten. Darauf bezog sich dieser Satz, du hast recht, der Zusammenhang wird in dem Blogpost nicht ganz klar.

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  3. Politik in der Kachelmann-Debatte? Hat die da jemand ernsthaft vermutet? Jetzt mal ehrlich, wer diskutiert einen solchen Prozess auf der politischen Ebene?

    A. Schwarzer kann sich mit der Aktion nur selber – und leider auch uns Frauen – schaden. Es gab vom letzten Verhandlungstag zwei Frauen, die in den Medien zu den ersten 15 Prozessminuten zu Wort kamen. Gisela Friedrichsen, ich denke auf dem Gebiet, eine unumstrittene Fachkompetenz. Und Mme. Schwarzer. Beide Damen sind Journalistinnen. Beide Damen haben das Auftreten von Kachelmann völlig unterschiedlich beschrieben. Subjektive Beobachtung anheim gestellt, ist die von Frau Schwarzer dann ganz klar eingefärbt gewesen.

    So etwas kann ich, kann niemand – übrigen auch nicht das Opfer – gebrauchen in einem solchen Prozess. Auch nicht auf der eher denkwürdigen Plattform für die Schwarzer da schreibt. Ich finde es frauenunwürdig, was die Frau treibt.

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  4. Ach so. Ich finde solche Behauptungen, was „die meisten Medien“ angeblich schreiben, auch immer schwierig.

    In der Anne-Will-Sendung zum Thema hatte Will übrigens über eine Anwältin interviewt, die öfter Vergewaltigungsopfer vor Gericht vertritt, und das nannte Anne Will „verteidigen“ – als wären die Frauen Angeklagte. Da sind schon einige Wahrnehmungen verschoben.

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  5. Gisela Friedrichsen ist eben nicht unumstritten, nur weil sie für den Spiegel schreibt. Ich kann ihre Artikel in der Sache zwar nicht beurteilen, aber ihren teils höhnischen Stil mag ich eher nicht.

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  6. Hallo Antje,

    ich muss ausnahmsweise mal deinen Darstellungen widersprechen, daher mein erster Kommentar auf deinem Blog.

    Du schreibst,

    „Auch hier, im Alltag, ist die „Unschuldsvermutung“ übrigens eine gute Idee. Aber sie hat nur dann einen Sinn, wenn wir sie nicht als formale Angelegenheit verstehen,..“

    Dies halte ich für falsch. Wenn wir die Unschuldsvermutung nicht formal auslegen, dann entfernen wir uns vom jetzigen geltenden Recht, welches in der heutigen Form dem „Willen“ der Gerechtigkeit des Volkes entspricht. Würde man hier sagen, dass das geltende Recht nur eine Art „Leitfaden“ darstellt, die Gerechtigkeitsvorstellungen (vom Volk) jedoch heute eine andere ist (oder sein könnte), die der Gesetzgeber naturgemäß nur langsamer abbilden kann (so wie in deinem Beispiel, dass früher ein anderes Verständnis für Vergewaltigung existiert hat, welcher sich von den Gerechtigkeitsvorstellungen (der Vergewaltigung) des Volkes aufgrund der Aufklärung durch die Frauenbewegung unterschied und erst später durch die Legislative abgebildet werden konnte), so würde man willkürlich urteilen.

    Wenn Schwarzer nämlich den Fall Kachelmann „kritisch“ begleitet und ihn quasi als Vergewaltiger vorverurteilt, weil sein Verhalten in Schwarzers Augen den Vergewaltigungstatbestand erfüllen müsste, obwohl objektiv Kachelmanns Verhalten nicht den Tatbestand der jetzigen Vergewaltigungsstrafnorm entspricht, dann „täuscht“ Schwarzer den eher uninformierten Leser.

    Der uninformierte Leser kann nämlich nur die Vergewaltigungsebene halbwegs einschätzen, welche im Gesetz definiert ist. Wenn Schwarzer meint, dass Kachelmann vergewaltigt hat, auch wenn nach Auslegung der jetzt geltenden Strafnorm etwas anderes gelten würde, dann besteht die große Gefahr, dass die Menschen Schwarzers Aussagen so interpretieren als habe Kachelmann tatsächlich nach geltender Strafnorm vergewaltigt!

    Ich habe bei Schwarzer bisher nie wirklich raushören können, dass sie meint, dass SIE selbst es so sieht, dass Kachelmann ihrer Meinung nach vergewaltigt hat, auch wenn es nicht im Sinne der Strafnorm passiert ist. Dies sollte sie jedoch machen, wenn man sie als unabhängige „Gerichtsreporterin“ ernstnehmen will. Ihre eigene Interpretation von Vergewaltigung nicht offen zu legen oder zumindest undeutlich zu halten, ist ein Manipulationsversuch, der dem Leser suggerieren soll, dass Kachelmann objektiv vergewaltigt habe.

    Der objektive Vergewaltigungstatbestand ist und bleibt aber in der Hand des Gesetzgebers, da nur dieser verbindlich für das Volk sprechen kann. Schwarzers (und anderer Leute) subjektiver Vergewaltigungstatbestand, welcher im Fall Kachelmann vielleicht passen würde, darf natürlich geäußert werden, muss aber als subjektive Meinung deutlich gemacht werden.

    Deswegen ist der Grundsatz „in dubio pro reo“ („Im Zweifel für den Angeklagten) immer nach dem objektiven Straftabestand auszulegen und nicht nach dem subjektiven. Dies hat Schwarzer bisher aber kaum getan. Daher finde ich die Kritik an sie in dieser Sache für berechtigt.

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  7. @Matthias – Ich würde da halt unterscheiden zwischen einem politischen Kommentar und einem juristischen Kommentar. Und ich denke, zur Politik gehört es auch, zu anderen Urteilen zu kommen als die Justiz. Allerdings stimmt das, dass man diesen Unterschied auch deutlich machen sollte (also meinetwegen sagen: Juristisch mag das in Ordnung gehen, politisch halte ich es für falsch oder so). Inwiefern sich das auf das konkrete Verhalten von Alice Schwarzer „anwenden“ lässt, kann ich nicht beurteilen, weil ich die Sache ja, wie gesagt, nicht en Detail verfolgt habe (und auch nicht vorhabe, damit anzufangen :))

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  8. Grundsätzlich stimme ich der Grundintention (die Frage nach „Gerechtigkeit“ ist auch immer ein Spiegel der moralischen Kodizes einer Gesellschaft) zu.

    Dennoch:
    „Justizia […], die keine „richtigen“ Urteile fällt, sondern nur solche, die formal „gerecht“ sind.“

    Das ist ein nicht wirklich haltbarer Vorwurf. In der BRD legt man besonders viel Wert darauf, das rechtspositivistische Element nach 1945 hinter sich gelassen zu haben. Die Urteile, die gefällt werden, sind dementsprechend nicht nur „formal“ gerecht, sondern auch materiell. Der Punkt ist, dass die damaligen Entscheidungen zur „Vergewaltigung in der Ehe“ einer materiellen Überprüfung nicht standgehalten hätten. Ja, das ist nur eine Detailkritik.

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  9. Die Unschuldsvermutung bezieht sich natürlich nicht auf Privatpersonen und deren Meinung, sondern auf den Strafprozess und, hier sehr relevant, den Pressekodex:

    „Ziffer 13 – Unschuldsvermutung
    Die Berichterstattung über Ermittlungsverfahren, Strafverfahren und sonstige förmliche Verfahren muss frei von Vorurteilen erfolgen. Der Grundsatz der Unschuldsvermutung gilt auch für die Presse.“

    Die Bildzeitung hat in diesem Fall selbst mehrfach gegen den Pressekodex verstoßen. Da passt Schwarzer natürlich „ins Bild“.

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  10. Hallo Antje,

    ich muss dir mal gehörig widersprechen. Kachelmann ist mir egal und was der Mann getrieben hat, weiß ich nicht. Vergewaltigung in der Ehe *ist* heute strafbar. Es geht schon lange nicht mehr darum, dass etwas schlimmes kein Straftatbestand ist, sondern nur noch darum, ob die Kläger beweisen können, dass Kachelmann seine Ex vergewaltigt hat. Die Unschuldsvermutung hat sehr wohl auch im Alltag zu gelten, sonst würde im Umgang miterinander allerlei aus den Fugen geraten. Selbstverständlich kann Alice Schwarzer gerne die Meinung vertreten, Kachelmann sei schuldig, und das auch kundtun. Es gibt aber auch so etwas wie „soziale Exekution“ und mediale Hetze. Selbige findet selbstsamerweise fast immer VOR einem Richterspruch statt und so gut wie nie, nachdem ein Urteil gefällt wurde. Ja, Alice Schwarzer ist voreingenommen. Darf sie sein, aber ein Journalist sollte versuchen, einen sachlich-neutralen Standpunkt einzunehmen. Den man allerdings von „Bild“ sowieso nicht erwarten, womit sich die ganze Diskussion in Irrelevanz auflöst. 😉

    Zur Voreingenommenheit hilft vielleicht folgender Link weiter. http://www.aliceschwarzer.de/publikationen/blog/?tx_t3blog_pi1%5BblogList%5D%5BshowUid%5D=43&tx_t3blog_pi1%5BblogList%5D%5Byear%5D=2010&tx_t3blog_pi1%5BblogList%5D%5Bmonth%5D=08&tx_t3blog_pi1%5BblogList%5D%5Bday%5D=02&cHash=cfc8c21ab4

    Anders gesagt: Ich hab Alice Schwarzer immer mal gemocht und dann wieder völlig daneben gefunden. Es gab sehr viele Situationen, wo ich sie durchaus verteidigt hätte. Nur hier gerade nicht.

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  11. @Enno – Das „nur noch“ im Bezug auf Vergewaltigungen ist natürlich genau der heikle Haken, denn – und mehr wollte ich gar nicht sagen – es ist halt schwer, bei so etwas hieb- und stichfeste Beweise anzubringen. Anders als eine Vergewaltigung im Park oder unter nachweislicher Gewaltanwendung sind bei Vergewaltigungen im Privaten Beweise nicht so leicht zu liefern. Zumal wenn sich das Opfer nicht wehrt, was aber aus verschiedenen Gründen in der Situation eine abgemessene Reaktion ist. Von daher würde ich mich, was die Feststellung von „Schuld“ im Zusammenhang mit Vergewaltigungen innerhalb von Beziehungen betrifft (das sind die allermeisten) nicht so ohne weiteres nur auf das zurückziehen wollen, was Gerichte feststellen. Ich habe vor einiger Zeit mal einen interessanten Vortrag von einer Polizistin gehört, die der Ansicht ist, dass die Dunkelziffer bei nicht angezeigten Vergewaltigungen innerhalb von Beziehungen wieder ansteigt, und zwar deshalb, weil die Frauen sich wieder mehr schämen, damit an die Öffentlichkeit zu gehen. Und zwar nicht mehr wie in den 1950ern dafür schämen, dass sie zum Sex gezwungen wurden, sondern dafür schämen, dass sie nicht „emanzipiert“ genug waren, sich einen besseren Mann zu suchen. Also: Auch wenn der Fortschritt in der Hinsicht groß und unbestreitbar ist, sind wir imho noch nicht an dem Punkt, wo wir sagen können: Darüber muss nicht mehr politisch verhandelt werden, sondern das ist jetzt Sache der Gerichte. Dies alles, wohlgemerkt, will ich nicht auf den konkreten Fall Kachelmann bezogen wissen.
    PS: Dass die Unschuldsvermutung auch im Alltag gelten soll, habe ich in meinem Blogpost auch geschrieben :))

    @ichgehschlafen – Ja, das ist sicher eine LEhre aus dem Nationalsozialismus gewesen, der ja in krassester Weise vor Augen geführt hat, dass die formale Einhaltung von Gesetzen absolut nichts mit „richtig“ und „falsch“ zu tun hat. Deshalb ist man hierzulande skeptisch mit rein „formalen“ Urteilen sondern schaut auch auf die „materielle“ Seite. Allerdings hat das imho (obwohl es natürlich GUT ist) auch problematische FOlgen, zum Beispiel die Illusion, dass solche „guten, materiell hinschauenden“ GErichte dann auch tatsächlich über gut und böse entscheiden können. Aber wie man es auch dreht und wendet, die juristische Perspektive muss vom Einzelfall abstrahieren, ihre Maxime müssen universalisierbar sein usw. Deshalb sind sie NICHT geeignet, politische Diskussionen zu ersetzen oder ganz normale Alltagskonflikte zu lösen. Und dies ist das Problem, dass wir an alles mit einer juristischen, universalistischen Perspektive herangehen. So wie ja auch in den Verwaltungen überall die Juristen die Mehrheit stellen. Das ist kein guter Zustand.

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  12. „Es ist nämlich, gerade in einer Demokratie (aber vor allem einfach auch so generell), durchaus sehr wohl möglich, jemanden für schuldig zu halten, obwohl kein Gericht ihn rechtskräftig verurteilt.“

    Sicher ist dem so. Z.B. dürfte es Millionen von Menschen geben, die OJ Simpson für einen Mörderer halten. Der springende Punkt, aber, ist zwischen persönlicher Meinung und Tatsache zu unterscheiden. Wenn jemand sagt „Ich bin der Meinung, dass X schuldig ist.“, habe ich im Grunde kein Problem damit. (Wenn ich auch, je nach Umständen, Zweifel haben kann, ob diese, den Urteil vorausgehende, Meinung zu rechtfertigen ist, oder denken kann, dass die Vorausgehung, in sich, ein Zeichen von schlechtem Urteilsvermögen ist.) Wenn man jedoch der Schuld als Tatsache darstellt und selbst agiert, als ob der Schuld bestünde, dann bewegt man sich in einem anderen Bereich.

    Hierbei besteht insbesondere bei einigen radikaleren Feministen ein Problem mit der umgekehrten Schuldvermutung: Wird die Anzeige gestellt, ist von Schuld auszugehen. Dies in einigen Fällen sogar trotz einer Freisprechung—ich habe mehrere Fälle gesehen, wo jemand als „nicht schuldig“ gefunden wurde und eine Feministin, trotz tatsächlichem Mangel an Beweise, sich über diesen angeblichen Justizmissgriff beschwert hat.

    Der aktuelle Fall ist mir leider nur oberflächlich bekannt, aber die an Schwarzer gerichtete Kritik sollte in diesem größeren Zusammenhang gesehen werden.

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  13. Der aktuelle Fall ist mir leider nur oberflächlich bekannt, aber die an Schwarzer gerichtete Kritik sollte in diesem größeren Zusammenhang gesehen werden.

    Dir zufällig bekannte Einzelfälle sind ein größerer Zusammenhang, an dem sich alle orientieren sollten? Ist das nicht bisschen egozentrisch?

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  14. @Irene

    Hier geht es keineswegs um Einzelfälle, noch um Egozentrism. Diese Probleme sind weitbekannt. Es ist höchst wahrscheinlich, dass die Kritiker eben deshalb ihre Kritik angeführt haben, weil sie gewohnt sind, diese Probleme zu sehen.

    Im Übrigen würde ich es schätzen, wenn die Debatte mit Argumenten und Gegenargumenten geführt würde—nicht mit Personenangriffen, Zerzerrungen von dem Gesagten, und Versuche, die Argumente zu delegitimisieren.

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  15. @Michael – Wenn ein Gericht Schuld oder Unschuld feststellt, ist es damit auch noch keine „Tatsache“, sondern eben nur das, was das Gericht entschieden hat. Es können auch vor Gericht Schuldige freigesprochen werden und Unschuldige verurteilt werden. Von daher ist es auch durchaus möglich, dass man der Meinung ist, jemand sei schuldig, obwohl er freigesprochen wurde. Die Frage ist nicht, imho, was ein Gericht entschieden hat oder nicht (das ist eine Frage für Richter usw.), sondern ob die Auffassung, dass es sich mit Schuld/Unschuld anders verhält als vor Gericht entschieden, begründet ist oder aus ideologischer Verblendung passiert. Das ist auch hier der Konflikt. Und meine Position ist: Auch wenn es vorkommen mag, dass einige Feministinnen „aus ideologischer Verblendung“ zu ihren Urteilen kommen, ist das kein Gegenbeweis dafür, dass es nicht auch Situationen geben mag, in denen man mit guten Gründen anders als die Gerichte urteilt.
    Etwas anders verhält es sich natürlich mit den Massenmedien, da die solche Wellen machen können, dass die „Privatmeinung“ von vielen Leuten, die sich auf einen angeblich Schuldigen einschießen oder die Freilassung eines angeblich Unschuldigen fordern, unter’m Strich mehr Bedeutung hat als das, was Gerichte entscheiden. Und zwar OHNE dass diese Leute überhaupt in der Lage zu sein, sich ein echtes Urteil zu bilden, weil sie über den konkreten Fall gar nichts wissen können. Sie plappern nur Meinungen nach. Und das ist das Problem, auf das ich mit dem Blogpost rauswollte.

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  16. Neben der Frage nach der Unschuldsvermutung treibt mich ein ganz anders Problem um: Warum arbeitet Alice Schwarzer im Auftrag von BILD? Mit fällt es schwer, dahinter journalistischen, feministischen oder politischen Ethos zu vermuten. Es ließe sich natürlich argumentieren, dass es wichtig ist, dass politische Debatten – wenn sie denn politisch sind, was ich in diesem Fall auch nicht sehe – auch und vor allem über „mainstream-Presse“ und auch und vor allem von Leuten einer – na sagen wir mal – alternativen Öffentlichkeit angestoßen und einer breiten Öffentlichkeit zugeführt werden sollten. Oder anders: Dass die verpönte Schwarzer nun im Namen der „Volkspresse“ schreibt, wäre ein Schritt in Richtung differenzierter Journalismus usw. Allerdings ist mir nicht klar, ob das a) die Intention ist – auch wenn Schwarzer sich als Anwältin der Gerechtigkeit versteht und b) in welcher Weise sie fruchtbar ist, wenn doch letztlich nur die Frage der „Verurteilung“ eine Rolle spielt und auf Bild-Niveau diskutiert wird, während die dahinter stehenden u.a. feministischen Debatten keine Rolle spielen. Und ganz ehrlich, ich möchte weder BILD lesen müssen noch „Anne Will“ sehen, um Schwarzers Positionen zu erfahren, mal ganz abgesehen davon, dass mir andere Personen und Positionen lieber wären. Mir erscheint dies alles ein großer Medienhype, den Alice Schwarzer mit generiert und von dem sie profitiert und ich bin nicht sicher, ob diese Form der Medialisierung einer Diskussion um Gewalt gegen Frauen, geschweige denn einer feministischen Öffentlichkeit zuträglich ist. Was heißt: Ich bin nicht sicher. Ich bin sicher, dass es nicht so ist. Die Frage allerdings, wie und wo diese eben feministische Sicht, von der ich nicht glaube, dass A.S. sie vertritt, eine Öffentlichkeit bekommen kann und soll, ist damit noch nicht geklärt.

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  17. „Dies in einigen Fällen sogar trotz einer Freisprechung—ich habe mehrere Fälle gesehen, wo jemand als „nicht schuldig“ gefunden wurde und eine Feministin, trotz tatsächlichem Mangel an Beweise, sich über diesen angeblichen Justizmissgriff beschwert hat.“

    Ich habe auch schon Feministinnen kennengelernt, die die Unschuld des „Täters“ gar nicht bezweifelten, aber für Verfahren wie „Vergewaltigung“, wo oft Aussage gegen Aussage steht, der Meinung waren, es wäre besser, den einen oder anderen Unschuldigen hinter Gitter zu bringen, als etwa das eine oder andere Verbrechen unbestraft zu lassen.

    Ein Mangel an Beweisen ist ein Mangel an Beweisen – man kann nicht jemanden schuldig finden, wenn es der Beweise mangelt. Es sei denn, man plädiert für die Abschaffung der Unschuldsvermutung und eine Beweislastumkehr, wie diese Feministinnen.

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  18. Ich bin ebenfalls der Auffassung, dass man zu einer anderen Auffassung kommen darf als ein Gericht und Beweise auch anders würdigen darf.

    Schwarzer allerdings würdigt meiner Meinung nach nicht mehr, für sie ist der Fall entschieden. Das wird ja auch daran deutlich, dass es in dem Prozess für sie darum geht, ob Gewalt Privatsache ist oder ein Verbrechen.

    Ich denke nicht, dass sie bereit ist eine Falschbeschuldigung zu akzeptieren. Unabhängig von der Beweislage.

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  19. @Antje

    In meinem Kommentar gibt es mehrere Themenbereichen, die vielleicht explizit getrennt werden sollten:

    1. Das Recht eine eigene Ansicht zu haben, ggf. auch trotz einem anderslautenden Gerichtsurteil. Dieses Recht habe ich ausdrücklich und als Erstes bejaht.

    2. Wie man sich basierend auf diese Ansicht verhalten sollte und wie nicht. Hier bin ich ein starker Befürworter für Mässigung und Zurückhaltung. (Hierbei kann man sich eventuell über die genaue Grenzziehung streiten, aber dass Grenzen da sein müssen ist klar. Um ein extremes Beispiel zu nennen: Einen des Mordes Freigesprochenen zu erschiessen, weil man an seine Schuld glaubt, ist offensichtlich nicht, oder nur unter aller extremsten Begleitumständen, akzeptabel.)

    3. Die Kritik an Schwarzer ist mit hoher Wahrscheinlichkeit durch Erfahrungen mit „Guilty until proven innocent“ (oder gar „Guilty, end of discussion“) Feministen beinflusst worden, und sollte in diesem Lichte gesehen werden. Z.B. ob Schwarzer tatsächlich zu diesen Feministen hört, ist dabei als Erklärungsgrundlage für die Kritik nicht relevant, auch nicht für die Frage, ob und wie die grundsätzliche Diskussion über Behandlung von Vergewaltigungsverdächtigten geführt werden sollte. (Könnte aber durchaus für die Frage, ob die Kritik, spezifisch in diesem Falle, berechtigt ist, relevant sein.)

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  20. … finde ich ja allein schon den (heute bei den Mädchen- und Neo -Feministinnen so schicken) Drang / Zwang sich noch vor dem eigenen Statement von „Schwarzer“ zu distanzieren. Ließe sich trefflich drüber psychoanalysieren… Kurz zusammengefasst ein Zeichen von Schwäche, wie ich finde.

    Befremdlich in diesem Posting -weil, bist ja eigentlich ‚ ne ganz Helle?!- kommt mir jedoch vor allem das Hinausposaunen von angeblichen Wahrheiten wider besseren Wissens oder zumindest, und das ist fast noch schlimmer, ohne diesbezügliche Vergewisserung vor. Wer wirklich interessiert ist, kann nämlich sehr leicht feststellen: Alice Schwarzer ist eine der wenigen (die einzige?) prominente Stimme, die sich deutlich immer wieder einer eigenen Schuld- oder Unschuldsvermutung enthält, weil das nämlich allein Sache des Gerichtes ist. Für sie (anders als für diese unsägliche, immer wieder täter-parteiische Friedrichsen), steht hier immer noch Aussage gegen Aussage. So z.B. geschehen in der Sendung von Anne Will, die sich bequem auf youtube nachsehen lässt.

    Und: Schwarzer berichtet nicht „parteiisch“, auch nicht „aus Sicht des Opfers“, sondern nach eigenem Bekunden „die Sicht des mutmaßlichen Opfers ernst nehmend“, – das ist etwas anderes!

    Wem die Sache wichtig ist, wer sich hierzu eine Meinung bilden möchte, sollte sich informieren. Schnell und einfach im Blog von A.S.: http://www.aliceschwarzer.de/publikationen/blog/ Allerdings muss man schon die Bereitschaft aufbringen, genau zu lesen, differenziert hinzuhören und Vorurteile über Bord zu werfen … all das scheint ja in unseren Zeiten (siehe Fall Sarrazin…) eine rar gewordene Tugend, – leider!

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  21. Kurze Detail-Frage zum Satz,

    „Wenn uns also nichts anderes übrig bleibt, als Justizia anzurufen, die keine „richtigen“ Urteile fällt, sondern nur solche, die formal „gerecht“ sind“,

    weil ich die Verwendung von „gerecht“ und „richtig“ hier interessant finde. Ich würde nämlich genau anders formulieren, dass die Justiz zwar richtige Urteile fällen kann (indem sie das Gesetz richtig, d.h. korrekt anwendet), aber keine gerechten, weil Gerechtigkeitsvorstellungen nicht allgemeingültig festschreibar, sondern immer subjektiv (weil an die subjektiven Moralvorstellungen) geknüpft sind.
    Dass man „richtig“ (im Sinne von „moralisch richtig“) auch anstelle von „gerecht“ einsetzen kann, sehe ich; nur den umgekehrten Weg nicht.
    Wie kommts also zu dieser Wortwahl?

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  22. @Jonas – Ich meinte das so: Gerichte können „gerecht“ entscheiden, indem sie abstrakte Normen und Vereinbarungen „ohne Ansehen der Person“ auf einen konkreten Fall anwenden – die Augenbinde der Justizia steht dafür. „Richtig“ wäre aber eher, gerade auch die Komplexität des Einzelfalls und die Eigenarten der Beteiligten einzubeziehen, was aber nur quasi „intuitiv“ geht. Etwas plattes Beispiel: Eine Mutter teilt einen Kuchen unter ihren Kindern auf. „Gerecht“ wäre, wenn jedes ein gleich großes Stück kriegt (sie bindet sich die Augenbinde vor, um zu vermeiden, jemanden zu bevorzugen, da sie nicht sieht, für wen das jeweilige Stück bestimmt ist). „Richtig“ hingegen könnte es sein, dem Kind, das am meisten Hunger hat, das grade besonders unglücklich ist und getröstet werden muss, das diesen speziellen Kuchen am allermeisten mag usw. ein größeres Stück zu geben. Für ein „gerechtes“ Urteil muss man sich nur an die Normen halten, für ein „richtiges“ Urteil muss man subjektiv Urteilen. Natürlich ist „gerecht“ besser als „ungerecht“ (also von Korruption, Klientelwirtschaft, persönlicher Meinung usw. geprägt) zu urteilen. „Richtig“ – in dem Sinne, wie ich das beschrieben habe – wäre aber noch besser als „gerecht“. Natürlich besteht da immer die Gefahr, von diesem „richtig“ wieder in „ungerecht“ umzukippen, deshalb zieht man sich meistens auf dieses unverfängliche „gerecht“ zurück. Das heißt aber nicht, dass man sich damit immer identifizieren bzw. dabei stehen bleiben muss. Ist das irgendwie verständlich?

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