
Immer mehr Leute gucken unterwegs in ihre Smartphones und nicht mehr auf die Leute, die ihnen gegenüber sitzen. And so what?
Diesen Artikel hier möchte ich euch zur Lektüre empfehlen. Johnny Haeusler beschäftigt sich darin mit der Frage, wie sich unsere Kultur verändert, wenn wir nicht mehr analoge Medien nutzen (also zum Beispiel Bücher, auf deren Rücken draufsteht, was drinsteht), sondern digitale Medien, denen man nicht ansieht, was sie enthalten. Italienischkurs, Musik, Pornovideo oder Businessmails, das alles sieht für Danebenstehende gleich aus, wenn es per Smartphone und Stöpsel im Ohr konsumiert wird.
Nun ist die Frage müßig, ob diese Veränderung gut oder schlecht ist, denn sie ist einfach eine Tatsache. Aber sie ist dennoch ein bisschen des Nachdenkens wert. Denn gerade was das Smartphonisisieren in der Öffentlichkeit betrifft, so geht damit eine Tendenz einher, die durchaus problematische Aspekte hat: und zwar die, immer weniger mit Fremdem, Anderem konfrontiert zu sein. Beispiel: Früher habe ich es mitbekommen, wenn die Frau im Zug mir gegenüber Eva Herman las oder den Sportteil der FAZ, und mich darüber zwangsläufig gewundert. Bewusst oder unbewusst speicherte ich das im Kopf ab: Aha, es gibt also Leute, die so was lesen. Nicht nur theoretisch, sondern direkt hier vor meiner Nase. Heute gibt es solche Irritationen kaum noch: Ich sehe nur, wie die Frau gegenüber in ihr Smartphone guckt – und kann mir gut einbilden, dass sie eigentlich so ähnlich ist wie ich selbst.
Und deshalb kann ich es durchaus verstehen, wenn manche Menschen den Trend zum „In diese Dinger Starren“ bedauern, weil dadurch das „Zwischenmenschliche“ verloren gehe. Denn es tatsächlich etwas verloren. Vielleicht nicht das Zwischenmenschliche, denn das war zwischen mir und der Eva Herman-Leserin nie besonders großartig. Aber eben etwas anderes: Früher, als wir diese Dinger noch nicht hatten, in die wir reingucken können, und also gezwungen waren, uns unterwegs oft zu langweilen, konnten wir gar nicht umhin, unsere Umgebung anzustarren und also wahrzunehmen. Und was wir da sahen, war vielleicht nicht immer erfreulich, aber auf jeden Fall lehrreich.
(Kleine Randbemerkung: Das Leute Anstarren war früher ja verboten, denn es gehörte sich nicht. Irgendwie scheint mir manchmal, es sind dieselben Leute, die mir früher sagten, man dürfe Fremde in der Öffentlichkeit nicht anstarren, die sich jetzt darüber beklagen, dass ich sie nicht mehr anstarre).
Man sollte sich also schon bewusst machen, dass diese neue Art des „In der Öffentlichkeit Seins“ die Wahrnehmung faktisch einschränkt und uns anfälliger für Selbsttäuschungen macht. Denn indem wir im Bus, auf der Straße, in der Kaufhauskantine nicht mehr mit den Leuten zusammen sind, die sich auch gerade dort befinden (den anderen also, den Fremden, denen, die wir uns nicht ausgesucht haben und die wir nicht kennen und von denen wir nicht wissen, ob wir sie mögen oder nicht), sondern mit unseren Freundinnen und Freunden, unserer eigenen Szene, mit all den vertrauten Feeds, die uns niemand aufdrückt, sondern die wir uns selber nach eigenen Vorlieben zusammengestellt haben, verringert sich die Notwendigkeit, sich dem unangenehmen Gefühl auszusetzen, mit Unbekanntem, Fremdem, Anderem konfrontiert zu sein. Und das führt in der Tat leicht zu Realitätsverlust und dann gegebenenfalls auch zu Herumtrollerei: Leute, die sich immer nur unter Ihresgleichen aufhalten, neigen dazu, die eigenen Moden und Ansichten für die einzige realen und möglichen zu halten.
Zum Glück hat das Internet selbst schon ein Gegenmittel erfunden, nämlich die so genannten „schwachen Kontakte“. Also diese ganzen Leute, die man nicht kennt, mit denen man sich aber irgendwie doch mal lose vertwittert hat, und die Sachen in die Timeline schreiben, die man sich selber niemals ausgesucht hätte. Sachen, denen man aber dann doch ein Quentchen Aufmerksamkeit widmet. Da liest man dann vor lauter Langeweile, während man an der Bushaltestelle herumsteht und in dieses Ding starrt, Sachen, von denen man ansonsten nie etwas mitbekommen hätte. Ich zum Beispiel habe mich im vergangen Jahr mit der Piratenpartei, mit Queertheorie und mit Veganismus beschäftigt, worauf ich im Leben nicht von selbst gekommen wäre. Ohne „schwache Kontakte“ wären mir diese Themen keine Aufmerksamkeit wert gewesen. Denn von „Fremden“ hätte ich mich niemals dazu animieren lassen. Und meine „echten Freundinnen“ interessieren sich dafür genauso wenig wie ich selbst.
Das Paradoxe und geradezu Gefährliche an der derzeit in den Mainstreamdiskursen verbreiteten Panikmache vor den sozialen Netzwerken ist daher, dass sie gerade die „Selbstheilungskräfte“ der mobilen Internetkultur schwächen. Ihr Tenor ist ja oft die Warnung vor allzu vielen „falschen Freunden“, davor, zu viel vor „Fremden“ von sich preis zu geben und so weiter. Diese Angst nimmt inzwischen zum Teil irrationale, paranoide Züge an, wie ich selbst ein paar Mal erlebt habe.
Natürlich gibt es berechtigte und notwendige Kritik an Facebook und Co. Aber der Sinn dieser Kritik kann doch nur sein, diese Angebote zu verbessern, im Hinblick auf Datenschutz vor allem, aber auch im Hinblick auf alles Mögliche sonst. Wenn die Kritik dazu dient, Menschen aus den sozialen Netzwerken fernzuhalten oder die Kontakte dort nur auf ihre wahren, echten, engen Freundinnen und Freunde zu beschränken, dann ist sie nicht nur altbacken, sondern gefährlich – gerade wenn man das „Zwischenmenschliche“ aus der alten Vorinternetkultur retten oder ein entsprechendes Äquivalent etablieren möchte.
Die Angst vor „schwachen Kontakten“ macht blind dafür, dass gerade sie ein Heilmittel sind, das wir meiner Ansicht nach dringend brauchen, um den problematischen Nebenwirkungen des „In die Dinger Starrens“ entgegenzusteuern. Und vielleicht sind sie ja sogar noch mehr als nur ein Heilmittel, nämlich eine neue Kulturtechnik und Beziehungsform, die uns langfristig nicht nur nicht verschlossener, sondern sogar offener für das Andere macht, als wir es früher waren. Aber das ist jetzt Optimismus.