Wie man radikal ist

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Ich lese grade den Streit zwischen Sascha Lobo und Lantzschi über die 50-Prozent-Frauen-in-Blogrolls-Quote nach und dabei ist mir ein Thema wieder eingefallen, das ich schon immer mal loswerden wollte. Es geht um die Frage: Wie ist man richtig radikal?

Meine These dazu ist Folgende: Richtig radikal ist man, indem man die Leute, mit denen man es grade zu tun hat (also in einer bestimmten, konkreten Situation, in diesem Blog, bei dieser Diskussion, in diesem Meeting, an diesem Kaffeetisch), genau so weit herausfordert, wie es eben noch möglich ist, ohne dass die Beziehung zerbricht.

Entstanden ist diese These aus meiner schon sehr alten Unzufriedenheit mit einer gewissen Angewohnheit in linken, radikalen, auch in feministischen Kreisen, die darin besteht, immer eine noch möglichst „radikalere“ Theorie zu entwickeln. Dahinter steckt implizit die Vorstellung, politische Ideen würden sich fortschrittsmäßig von eher falschen zu eher richtigen Ideen entwickeln. Jede neue Theorie hat immer wieder irgendwelche Schwächen, die dann aufgedeckt und noch weiter „radikalisiert“ werden. Den daraus entstehenden Wettstreit darüber, wer denn nun „radikaler“ ist, fand ich lange Zeit bloß langweilig, inzwischen halte ich es für einen komplett falschen Ansatz.

Die Gegenseite davon (im Sinne der anderen Seite der Medaille) sind diejenigen, die anderen „übertriebene Radikalität“ vorwerfen, mit Redewendungen wie „jetzt treibst du es aber zu weit“ oder „das ist jetzt aber über das Ziel hinaus geschossen“ und dergleichen. Man kann aber nicht „zu radikal“ sein, und es geht nicht darum, einen kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden.

Mein Problem mit dieser Art von Diskussionen ist, dass dabei die Theorie oder die Analyse oder das eigene Urteil quasi losgelöst vom Kontext und von den konkreten Beziehungen, in denen sie geäußert werden, betrachtet wird. So als wäre da zunächst die Theorie, die „objektiv“ richtig oder falsch, besser oder schlechter ist, und erst in einem zweiten Schritt wird diese Theorie dann „verbreitet“.

Meiner Erfahrung nach funktioniert Politik so nicht. Sondern Politik ist ein ständiges Verhandeln zwischen Differenzen, die Sache mit der Pluralität eben. Es ist eine Wechselwirkung von Beziehungen, Austausch und dem Herausbilden von Einsichten und Positionen, die dann ihrerseits wieder verhandelt, revidiert und so weiter werden. Weder kann man Beziehungen losgelöst von dem eigenen politischen Urteil und dem der anderen sehen (zum Beispiel kann ich mir kaum vorstellen, mit einem Neonazi oder einem Maskulinisten „privat“ befreundet zu sein), noch kann man aber die Theorie losgelöst von den Beziehungen sehen. Mein jeweiliges Urteil zu einer bestimmten Frage ist immer das vorläufige Ergebnis der Summe aller Gespräche und Gedanken und Gespräche und Gedanken, die mit mir als Akteurin bis heute dazu stattgefunden haben.

Andere Leute mit anderen Historien und anderen Beziehungen und anderen Gedanken, die sie bis heute gedacht haben, kommen zu anderen Positionen und Urteilen. Es ist möglich, dass sie bisher die – aus meiner Sicht – falschen Beziehungen und/oder falschen Gedanken hatten – das ist der erste Impuls, mit dem ich mir ihre von meinem Urteil abweichende Meinung erstmal erkläre. Aus Erfahrung (ich habe in der Vergangenheit auch schon vieles ganz überzeugt vertreten, das ich inzwischen für falsch halte) muss ich aber auch die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass ich es bin, die auf dem falschen Dampfer ist. Und dass ich von der anderen, der mit der anderen Meinung, möglicherweise etwas lernen kann.

Es gibt keine objektive Möglichkeit, das herauszufinden oder zu beweisen. Aber es gibt dazu eine Praxis, und sie besteht genau in dem, was ich oben beschrieben habe: den oder die andere im Gespräch genau so weit herauszufordern, wie es eben noch möglich ist, ohne dass die Beziehung zerbricht. Politische Ideen sind nicht einfach da und lassen sich durchdrücken, sondern sie müssen vermittelt werden. Es genügt nicht, recht zu haben (selbst wenn man jetzt mal annimmt, was man ja normalerweise tut, dass man mit dem eigenen Urteil recht hat), sondern es ist notwendig, dieses eigene Urteil den anderen so zu vermitteln, dass es bei ihnen etwas bewirkt, sie dazu bringt, ihre bisherigen Gewissheiten zu überdenken. Ich muss die anderen überzeugen, und das funktioniert nicht, indem ich sie belehre, sondern nur, indem ich mich auf eine Beziehung zu ihnen einlasse, was notwendigerweise bedeutet, dass ich auch offen bin für ihre Argumente und mich dem Risiko aussetze, dass am Ende nicht ich die andere überzeugt habe, sondern sie mich.

Diese Vermittlung geschieht nicht aus Nettigkeit, sondern aus Notwendigkeit: Anders wird meine Idee nämlich nichts in der Welt bewirken.

(Natürlich kann ich die anderen auch zwingen, aber erstens ist das nicht sonderlich nachhaltig, und zweitens geht das nur aus einer Machtposition heraus, und die habe ich normalerweise nicht, jedenfalls nicht, wenn ich herrschaftskritische Positionen vertrete. Ein Teil der Linken hat immer davon geträumt, die Macht zu erringen und die Welt dann so einzurichten, wie es ihnen gefällt, aber der Ausgang war meistens katastrophal).

Diese Praxis der „kontextbezogenen größtmöglichen Radikalität“ ist keine leichte. Die Versuchung ist groß, entweder (in einer bestimmten Situation) „um des lieben Friedens willen“ Konflikte zu vermeiden und Differenzen unter den Teppich zu kehren (also die anderen nicht allzu sehr herauszufordern), oder aber die eigene Position so „unvermittelt“ zu vertreten, dass die Beziehung darüber in die Brüche geht. Letzteres kann manchmal tatsächlich notwendig sein, oder jedenfalls unumgänglich, Beispiel der Neonazi von nebenan. Aber trotzdem bedeutet das dann auch faktisch, dass es an diesem Punkt keine Möglichkeit irgendeiner Vermittlung mehr gibt, mit all den Problemen, die daraus folgen.

Der Vorteil dieser Praxis ist aber, dass ich keine Revolution abwarten muss, um damit anfangen zu können. Es geht gleich hier und jetzt.

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Ich bin Journalistin und Politologin, Jahrgang 1964, und lebe in Frankfurt am Main.

39 Gedanken zu “Wie man radikal ist

  1. Antje,

    vielen Dank für den interessanten und ausführlichen Einblick in deine Politik-Erfahrungen.

    Ich verstehe nicht so ganz, worauf du hinaus willst, möchte es aber gern nachvollziehen können. In diesem konkreten Fall, wie hätte die Vermittlung deiner Meinung nach aussehen können?

    Ich halte meinen Standpunkt zu der Sichtbarkeitsgeschichte übrigens nicht für sonderlich radikal. Mich selbst und meine theoretische Verortung schon gar nicht.

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  2. Ich finde, man muss zwischen Gespräch und Diskussion unterscheiden. Gespräche sind sehr auf den Moment fokussiert, bevorzugen damit automatisch RednerInnen/Menschen, die schlagfertig sind. Das bessere Argument zu kennen, reicht nicht, man muss es auch formulieren können.

    Ansonsten ist die Ansicht, Menschen ließen sich durch Argumente überzeugen zwar naheliegend, aber ich bin mir nicht so sicher, ob das wirklich zutrifft. Ich kann mir schlicht und ergreifend nicht vorstellen, dass eine erst revo- und in der Folge evolutionäre Bewegung sich auf Basis eines Rationalitäts-Diskurses durchgesetzt hätte. Zumindest nicht als Anfangspunkt. Dafür kann man viele Beispiele nehmen: Die Frauenbewegung, warum die Ausländer in Deutschland so wahnsinnig sprachlos geblieben sind, Libyen.

    Ich glaub, man muss erst Positionen beziehen. Libyen funktioniert über die Position, die Leute einnehmen, die Sprachlosigkeit der Ausländer erklärt sich darüber, dass jahrzehntelang keine Position eingenommen werden konnte.

    Wenn man genügend Leute findet, die sich mit der Position anfreunden können oder ihr was abgewinnen, dann hat man automatisch mehr Gewicht, man kann nicht mehr so leicht als irre Person abgestempelt werden, die Argumente fallen anders ins Gewicht usw.

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  3. Ja! „Diese Vermittlung geschieht nicht aus Nettigkeit, sondern aus Notwendigkeit“ – an der Nichtbeherzigung scheitern die meisten. Ist (der Erziehung gemäß?) schwer zu begreifen, daß die Übersetzung für Konflikt nicht ‚mit dem Kopf durch die Wand‘ ist.

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  4. Ich bin eigentlich meistens froh über die „mit dem Kopf durch die Wand“-Leute – diese geben häufig erst die Möglichkeit, ein Thema zu besprechen und weiterhin ist die Wut anderer spüren und mit dieser adäquat umgehen ein ausgezeichneter Indikator für eine Gesprächsgrundlage.

    Mir persönlich fällt es schwer, mich noch wütend in einen Konflikt zu begeben und so bekommt mein Gegenüber tatsächlich selten mit, wie groß der kritisierte Bockmist – zumindest für mich – ist.

    Aber gerade weil Diplomatie höher geschätzt wird, als direkte Artikulation braucht es häufig zur Selbstverteidigung auch eine radikale Theorie/Einstellung.

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  5. Das ist ja ein demokratisches Grundprinzip, dessen du dich da annimmst. Ganz pragmatisch gesehen ist es natürlich möglich, immer noch radikaler zu sein, als es die Gesprächspartnerin noch akzeptiert, sobald aber ein Grundkonsens über die Regeln gemeinsamen Diskurses dabei aufgegeben wird, gibt es – welch Wunder – keinen Diskurs mehr.

    Bis zu dieser „funktionalen“ Grenze einer Debatte halte ich es aber sehr wohl für möglich, Standpunkte in ihr zu vertreten, die für den Geprächspartner nicht satisfaktionsfähig sind. Dann gilt es eben ein Einverständnis über Nichteinverständnis zu schließen (agree to disagree ist ein schönes Element amerikanischer Debattenkultur). Diese Übereinkunft lässt immer noch die Möglichkeit, das Nichteinverständnis der Gegnerin mit neuen Argumenten auf verschiedene Arten zu „framen.“ Dergestalt sind dann sogar Annäherungen auf der Metaebene des Diskurses möglich.

    Eine Debatte ist ja kein Wettbewerb, in dem es darum ginge, das Gegenüber zu Überzeugen und so zu „gewinnen.“ Da finde ich eine gewisse Schärfe und auch Radikalität ab und zu durchaus angemessen. Manchmal geht es auf der Metaebene ja nur darum, sich öffentlich als mögliche Alternative zum herrschenden Diskurs zu positionieren.

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  6. @lantzschi – Es ist immer schwer, sowas auf einen konkreten Fall anzuwenden, in dem man selbst nicht drinsteckt. Jedenfalls habe ich nach Lobos Antwort auf dich den Eindruck gehabt, dass er nicht verstanden hat, was du meinst, und bei deiner Replik hatte ich den Eindruck, dass du darüber wütend oder frustriert bist. Und das hat mich an mich selbst erinnert, weil ich auch früher oft wütend und frustriert war, wenn mich Leute nicht verstanden haben, obwohl ich doch diese und jene objektiv tollen Argumente hatte oder wenn sie in meinen Reden Sachen rausgehört hatten, die ich gar nicht gesagt hatte usw. Nach einem solchen Vortrag stand ich dann mal auf dem Flur und beschwerte mich über die „falsche“ Aufnahme dessen, was ich gesagt hatte, indem ich anhand meines Manuskriptes „bewies“, was ich „wirklich“ gesagt hatte, und Luisa Muraro sagte mir: „Mag sein, dass du das gesagt hast und dass du recht hast, aber es ist dir eben nicht gelungen, es auch zu vermitteln.“ Für mich war das ein echtes Schlüsselerlebnis, denn seither kann ich in solchen Situationen viel gelassener sein, nicht so moralisch à la „Ich hab schlecht geredet“ oder „die anderen sind zu dumm es zu verstehen“, sondern einfach als Fakt konstatieren, an dem niemand Schuld ist: Die Vermittlung ist halt nicht gelungen. Muss man eben weiter machen.
    Inwiefern das jetzt für deine Situation und diesen konkreten Konflikt etwas beiträgt, weiß ich nicht, er war aber der Auslöser für diesen Blogpost. Und zu „Ich halte meinen Standpunkt nicht für sonderlich radikal“ – das mag schon sein. Aber andere halten ihn eben möglicherweise für radikal, und das zu wissen kann beim Versuch, etwas zu vermitteln, wichtig sein.

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  7. Wenn man/Frau schon jahrelang eine partnerschaftliche Gleichberechtigung lebt und immer im Gespräch bleibt, so heisst dies nicht: es ist oder es wird langweilig.
    Es bleibt eine höchstmögliche Freiheit und Verantwortung sich selbst und anderen gegenüber. Neue Anregungen nimmt man gerne entgegen.

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  8. @Stephanie – Ich denke eigentlich nicht, dass wütend werden prinzipiell keine Vermittlung möglich macht. Der Unterschied liegt imho nicht in „diplomatisch“ vs. „undiplomatisch“, sondern in „auf die Beziehung achtend“ vs. „nicht auf die Beziehung achtend“. Wut kann eine gute Möglichkeit sein, das Interesse der anderen zu wecken, und Diplomatie kann ein Mittel sein, um Beziehungen zu zerstören. Bestes Beispiel sind die „netten Männer“, die mich in letzter Zeit immer häufiger nerven, die zu feministischen Positionen vordergründig nett immer „Ja“ sagen, aber eigentlich nur, um damit dann in Ruhe gelassen zu werden.

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  9. @Hakan Tee – Du schreibst „Ansonsten ist die Ansicht, Menschen ließen sich durch Argumente überzeugen zwar naheliegend, aber ich bin mir nicht so sicher, ob das wirklich zutrifft“ – na, es ist doch wohl so, dass es manchmal zutrifft und manchmal nicht. Wofür ich plädiere ist, eben nicht nur auf das Argument als solches zu achten, sondern auch darauf, wie ich es vermittle. Und das kann manchmal gelingen und manchmal eben nicht. „Position beziehen“ kann auch eine Form von Vermittlung sein. Wie @erz sagt: disagreen ist eine wichtige Möglichkeit. Zum Beispiel wenn man einer Mehrheit von Andersmeinenden gegenüber steht, wo klar ist, dass die eine für völlig bekloppt halten. Da sage ich dann manchmal „Ich bin anderer Meinung, aber offenbar gelingt es mir momentan nicht, sie euch zu vermitteln.“ Der Punkt ist eben: Achte ich auf die Beziehung oder nicht? Und nicht: Beziehe ich Position oder nicht.
    Und was du zu dem „Gewicht“ von Menschen mit gleichen Positionen sagst: Erstens mal müssen die ja vorher schon überzeugt worden sein. In „revolutionären Situationen“ kommt nur das Ergebnis eines Vermittlungsprozesses zur Sichtbarkeit, der vorher schon passiert sein muss. Ob das wirklich so war, oder ob da ein Großteil der Leute bloß ihr Mäntelchen nach dem Wind gehängt hat, stellt sich meistens erst später heraus.
    Der Punkt „man kann nciht mehr so leicht als irre Person abgestempelt werden“ ist übrigens sehr wichtig. Dafür muss man aber nicht in der Mehrheit sein, es genügt, wenn man eine kleine Gruppe von Menschen um sich hat, die einer bestätigen, nicht irre zu sein. (Genau genommen reicht eine andere Person).

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  10. Also, wenn ich dich richtig verstehe, sind Wut und Frustration oft ausschließend dafür, dass andere verstehen, was mensch sagen will?! Steile These, um ehrlich zu sein.

    Ich weiß auch, dass wertschätzende Kommunikation ein großer Schlüssel zum Erfolg ist bzw. sein kann, wenn es darum geht, eigene Anliegen beim Gegenüber vorzubringen. Aber das ist alles?

    Ich gebe noch zu bedenken, dass eine Analyse von Machtverhältnissen und Sprecher_innenpositionen (bei Diskursen über Geschlechterverhältnissen wie im konkreten Fall) eine wesentliche Rolle dabei spielt, was vermittelt werden kann und was nicht. Sonst wäre mir das persönlich eine zu individualisierte Herangehensweise an gesellschaftliche Strukturen, für die der konkrete Fall ein geeignetes Beispiels ist.

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  11. Hej Antje,

    meiner Meinung nach fehlt in Deinem wunderbaren Text noch einen ganz wesentlicher Punkt. Nämlich was es bedeutet radikal zu sein. Ist nicht vielmehr das Problem, ungefähr so wie bei der Liebe, dass jeder ein vollkommen anderes Bild im Kopf, eine eigene Vorstellung und auch ein eigenes Empfinden hat, wenn er das Wort radikal benutzt?

    Zunächst müsste man doch eigentlich erstmal dafür sorgen, dass alle unter dem Wort die gleiche Bedeutung verstehen, sich abgleichen und auf eine gemeinsame Ebene bringen. Denn für den einen bedeutet radikal unnachgiebig, hart, rücksichtslos und unerbittlich zu handeln, für einen anderen, dass irgendwas in besonderem Maß von der Norm abweicht, während ein Dritter nur an Chemie denkt.

    Im Kontext zu der unsäglichen Quotendebatte bedeutet Radikal (lat.: radix = Wurzel, Ursprung) für mich, dass man dem Übel der fehlenden Gleichberechtigung im Kern begegnen muss. Im Denken und Fühlen der Menschen.
    Nicht eine Quotenregelung macht „die Frau dem Mann gleich“, sondern ein Gesetz, nachdem Frauen bitteschön und gefälligst das gleiche Geld für die gleiche Arbeit zu bekommen haben, wie ihre männlichen Kollegen. Es bräuchte einen finanziellen Ausgleich und die Garantie auf den Arbeitsplatz, wenn und weil Frauen Kinder bekommen. Was fehlt sind Angebote, mit denen sich Frauen hinterher wieder auf einen aktuellen Wissensstand bringen und dann mindestens wieder an ihrer Karriere (was auch immer jede/r darunter versteht) nahtlos anknüpfen können. Das Gleiche müsste natürlich auch für Männer, die wegen des Nachwuchses zu Hause bleiben, gelten.

    Wenn Frauen zwei Drittel der weltweiten Arbeit erledigen, aber nur 10% des gesamten Einkommens verdienen und 1% des Eigentums besitzen, dann wird mit dieser Debatte, ganz radikal, auch das Märchen von der Leistungsgesellschaft entlarvt. Die Leistungsgesellschaft ist eine Lüge –> siehe Frauen-Arbeiter-Angestellte vs. Nieten in Nadelstreifen.

    Man müsste dem Übel an die Wurzel gehen, was aber eine politische Aufgabe wäre.
    Nur die Legislative kann die notwendige – und wenn Du mich fragst auch bei vielen Männern schon längst begonnene – gesellschaftliche Veränderung im Denken und Handeln anstossen und somit die Werte dem 3. Jahrtausend angleichen. Nur wird sie das aus gutem Grund nicht tun, weil die Politik selbst die Wurzel des Problems ist. Denn sie ist männlich – und zwar zutiefst. Da nützt auch eine Kanzlerin nichts, die Spielregeln sind patriarchal.

    Was meine Hoffnung ist, dass Frauen in den nächsten x Jahren zu einem ökonomischen Gewicht in der Betriebswirtschaft werden, eben weil sie oft so fleißig und klug sind und deshalb ihren männlichen Kollegen mächtig was voraus haben. Auch beobachte ich immer öfter, dass „weibliche“ Verhaltensweisen in diesem globalen, sich selbst radikal zerfleischenden männlichen Gesellschaftssystem, genau wegen der „weiblichen“ Verhaltensweisen erfolgreich sind.

    Am Ende beantwortet das Beispiel Gleichberechtigung Deine Frage, wie man „richtig“ radikal ist, sein könnte, sein müsste. Jedenfalls für mich. Man könnte aber auch einfach nur immer nach der besten Lösung suchen und nicht nach den stärksten Interessen handeln. Das fände ich auch schön radikal.

    Liebe Grüße

    Olaf

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  12. @lantzschi – Nein, genau das habe ich ja (vgl. meine Antwort auf Stephanie) gerade nicht gemeint. Auch Wut und das Zeigen derselben kann Vermittlung ermöglichen. Wut und Frustration sind andersrum aber (u.U.) ein Zeichen dafür, dass man in dem Versuch, etwas zu vermitteln, gescheitert ist. Das muss man im einzelnen Fall beurteilen. Worauf ich hinaus will, ist dass das Gelingen/Nicht-Gelingen von Vermittlung überhaupt erstmal ein Kriterium bei der Bewertung von politischem Handeln ist.
    Wieso du eine politische Praxis, die von Beziehungen und Vermittlungsaustausch her denkt, individualistisch findest, verstehe ich übrigens nicht.
    Und natürlich spielt die Analyse von Machtverhältnissen eine Rolle bei der Möglichkeit, etwas zu vermitteln, jedenfalls wenn man es optimistisch sieht ::) Aber die beste Analyse bewirkt nichts, wenn sie nicht auch vermittelt wird.

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  13. @Olaf – Ich weiß nicht, ob man eine objektive Definition von „radikal“ suchen sollte, ich denke, nicht. Mein Versuch war ja, es kontextbezogen zu sehen. Je nachdem, mit wem ich gerade zu tun habe, ist das eine oder das andere radikal. Daher habe ich ja versucht, Radikalität eben nicht vom Inhalt der Position als solcher her zu denken, sondern von dem Kontext her, in dem eine Position vertreten wird. Also: Wenn ich für die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln eintrete, dann ist das bei einem Unternehmerinnenkongress radikal, in einer Versammlung von alten K-Gruppen aber überhaupt nicht. Radikalität bemisst sich daran, so meine These, ob ich angesichts der Leute, mit denen ich es gerade zu tun habe, meinen Spielraum so weit wie möglich ausnutze.

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  14. Ich meinte das so, dass Wut&Frustration u.U. auch eine Reaktion auf Machtverhältnisse sind oder eine Reaktion auf die unterschiedliche Positionierung als Sprecher_in. Was hilft dann die beste Vermittlung, wenn wir eigentlich doch auch über Hierarchien sprechen müssen, damit eine solche Vermittlung überhaupt geschehen kann?
    Ich würde also noch eine Stufe darunter ansetzen bzw. sind für mich Wut&Frustration nicht in erster Linie ausschlaggebend für (Nicht)Vermittlung.

    Ein individualisierter Zugang ist deine These mMn dahingehend, dass Menschen, die vermitteln wollen, doch bitte zunächst ihre „Emotionen in den Griff“ bekommen sollen, bevor sie anfangen zu sprechen oder wenn sie möchten, dass sie vermitteln können.

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  15. @lantzschi – Ja natürlich sind Wut und Frustration eine Reaktion auf Machtverhältnisse. Das andere ist die Frage nach dem Henne und dem Ei. Brauchen wir Vermittlung, um Hierarchien abzubauen, oder müssen wir Hierarchien abbauen, um vermitteln zu können? Beides, je nachdem, in welcher Position ich mich grade befinde. Bin ich in einer Position der Macht (z.B. als Leiterin meiner Redaktion), wäre es gut, möglichst zum Abbau von Hierarchien beizutragen. Bin ich in einer Position der Ohnmacht (z.B. in einer Situation, wo ich nichts formal zu bestimmen habe), bleibt mir nichts anderes übrig, als Vermittlungen zu suchen, wenn ich dennoch etwas bewirken will. Wobei es auch in einer Machtposition sinnvoll ist, nicht nur etwas durchzudrücken, sondern auch dessen Sinn zu vermitteln, damit es nachhaltig ist.
    Dass Menschen bevor sie sprechen, zunächst ihre „Emotionen in den Griff“ bekommen sollen, habe ich an keiner Stelle gesagt. Ich betone es auch gerne nochmal: Emotionen zu zeigen und sichtbar zu machen, kann ein guter Weg der Vermittlung sein. (Ich hab ganz früher mal etwas darüber geschrieben: http://www.antjeschrupp.de/zorn.htm.) Aber ich finde es interessant, dass du das immer so hörst – wahrscheinlich kriegst du das einfach sehr oft an den Kopf geworfen 🙂

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  16. Ahh, jetzt ist es angekommen… ;o)

    Besteht dann aber nicht die Gefahr, den eigenen Standpunkt zu verlieren bzw. zu verlassen, weil man seinen Standpunkt mit der möglichen Radikalität, oder Radikalitätsgrenze, der anderen zu sehr abgleicht? Oder packt man die eigenen, von den anderen vermutlich als radikal empfundenen, Standpunkt anders ein? Sozusagen Ton und Wortwahl als diplomatisches Vehikel für die Botschaft?

    Ich glaube, Deine These setzt sehr viel Empathie und „Zielgruppenwissen“ voraus. Aber mit der Empathie hapert es oft im Umgang mit anderen Menschen und das „Zielgruppenwissen“ speist sich viel zu sehr aus dem Ozean der Vorurteile. Sicher nicht bei Dir, aber bei der Mehrheit der Menschen ist das meiner Meinung nach so.

    Dennoch kommt mir Deine These jetzt wie eine alte Bekannte vor. Eine These nach der ich, auch der Erziehung wegen, oft instinktiv gehandelt habe, wenn ich an so manche mehr oder weniger fruchtbare Diskussionen denke, bei denen ich einer der Diskutanten war. Dein Blogpost hat mir diese Verhaltensweise deutlich gemacht. Das wird mir in Zukunft sicher ein wenig helfen, meine Argumente besser unters Volk zu bringen.

    Dafür vielen Dank, Antje.

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  17. @Antje

    och nö, eigentlich bist du die erste, die das sagt 🙂 Im Ernst: nein so oft bekomme ich das wirklich nicht gesagt, ich finde nur die Reaktion auf diesen „Streit“ bemerkenswert, dass du damit dieses Thema assoziierst, was du auch aufgeschrieben hast. Überrascht mich.

    Und ja, Vermittlung ist auch für mich eine wichtige Strategie, aber nicht immer. Ich denke, dass Politik auch anders funktionieren kann. Ich würde das nicht mit Wut, Zorn oder Frustration in Verbindung bringen, sondern mit Verneinen einer Diskussion oder eines Diskurses, in dem ich (oder andere) immer nur eine ungleiche Position einnehmen können.

    Ich stimme ebenfalls überein, dass es eine Frage der Perspektive ist, ob Huhn oder Ei, ob Hierarchie aufbrechen oder Vermittlung an erster Stelle kommt. Können wir Lösungen finden innerhalb eines etablierten (Kommunikations)Systems oder können wir es auch schaffen ohne auf diese zurückzugreifen? Ich finde Variation dahingehend für mich sehr praktikabel.

    Danke für deine weiteren Ausführungen. Wie immer erfrischend.

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  18. @Antje & @lantzschi
    Beim Lesen deines Textes, Antje, habe ich tatsächlich ein Privilegienproblem und/oder einen Realitätsunterschied.

    Ich befinde mich in einer emotional priviligierten Situation, wenn ich mich in einem Konflikt „auf die Beziehung achtend“ bewegen kann. Habe ich ein Umfeld, dass mit Konflikten auf die von Dir gewünschte Art umgeht, fällt mir dies möglicherweise nicht auf – artikuliere ich Wut, kann ich mir in diesem Umfeld sicher sein, dass es diese Wut als Verbundenheit versteht und entsprechend darauf eingeht.

    Ebenso ist die Wahl des Konfliktfelds von Privilegien abhängig. Fühle ich mich betroffen oder nicht? Welche Erfahrungen habe ich mit dieser Betroffenheit gemacht? Welche Erfahrungen habe ich mit Konflikten gemacht? etc.

    Von daher finde ich es schwierig, Deine Art der Herangehensweise an das Thema als zustimmbar zu erleben. Für mich stellt sich nicht die Frage, nach Effektivität, Sinnhaftigkeit, Nachhaltigkeit usw. einer Konfliktmethode, sondern vielmehr die Frage, wie mit Konflikten umgehen? Wenn ich auf die Beziehung achte, gilt dies eben auch für mein Gegenüber. Wenn mein Gegenüber „radikalisiert“ stellt sich für mich nicht die Frage, ob mein Gegenüber sinnvoll handelt, sondern ob ich eine Situation des Verstehens schaffen kann.

    Was das Gespräch zwischen Euch betrifft, habe ich das Gefühl, dass ihr ziemlich gekonnt aneinander vorbei schreibt. Während ich lantzschis Kommentare so lese, dass sie aus der Perspektive marginalisierter Menschen die in einer Ohnmachtssituation sind schreibt – glaube ich, dass Antje eher aus der politischen Praxis der Stellvertreter_innenpolitik schreibt. Kann das sein?

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  19. @Stephanie – Ich verstehe nicht, wieso du das, was ich sage, für Stellvertreterinnenpolitik hältst, ich sehe das genau andersherum. Wie ich im letzten Kommentar schon schrieb, habe ich doch gerade in einer Ohnmachtsposition gar keine andere Möglichkeit, als Vermittlungen zu suchen. Was könnte ich denn sonst tun, deiner Meinung nach? Ich müsste mich entweder unterwerfen oder kollaborieren. Oder versuchen, selbst in eine privilegierte Machtposition zu kommen. Nur Leute, die Privilegien haben, können eventuell auf Vermittlung verzichten, weil sie ja ihre Ansichten mit Hilfe ihrer Privilegien durchdrücken können. Ohnmacht verstehe ich nicht als gleichbedeutend mit Handlungsunfähigkeit. Ohnmacht bedeutet eben, ohne Machtmittel zu sein. Dass das schwierig ist, dass es dabei jede Menge Hindernisse gibt, dass mir Steine in den Weg gelegt werden, dass ich unter Druck gesetzt werde, – na klar. Aber dass etwas schwierig ist, bedeutet nicht, dass es unmöglich ist.

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  20. Du hast den Begriff Radikalität gut getroffen.
    Allerdings ist Vermittlung gerade im Zusammenhang mit Radikalität nicht immer möglich. Gerade der Begriff Radikalität setzt eine extreme Meinung voraus und einen besonders starken Glauben an die eigene Meinung, teilweise auch entgegen vernünftiger Argumente. Man sollte hier vielleicht einen weiteren Begriff einführen, der gerade diese Extremität beschreibt. Mein Vorschlag wäre der Begriff Fanatismus. Jemand der nur eine radikale Meinung vertritt, kann noch überzeugt werden, wer jedoch eine radikale Meinung auch radikal vertritt, grenzt mit seinem Verhalten an Fanatismus und eine Vermittlung ist damit kaum noch möglich.

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  21. @Antje,
    Stellvertreter_innenpolitik ist keinesfalls negativ gemeint – nur damit keine Missverständnisse entstehen :-).

    Ich glaube nicht, dass es notwendig ist, aufgrund von „Ohnmacht“ nach Vermittler_innen zu suchen. Vielmehr sehe ich diese politische Praxis als eines der grundlegenden Probleme.

    In meiner politischen Sozialisation und Ausbildung ging es vor allem darum, auch in einer Situation von Betroffenheit, Wut usw. meinem „gegnerischen“ Gegenüber nicht auf den Tisch zu kotzen. Im Gespräch mit anderen komme ich immer wieder auf diese „Themen, die mir wichtig sind“ + „Verhandlungssituation beibehalten“ Problem. Das Ohnmachtsgefühl entsteht u.a. eben dann, wenn es unmöglich ist/erscheint, dies ohne auf den Tisch kotzen zu artikulieren. Artikulation jedoch befreit zumindest teilweise aus der Ohnmacht.

    Wenn ich in einem persönlichen Gespräch an den Punkt komme, dass mir mein Gegenüber auf den Tisch kotzt, gibt es natürlich zwei Möglichkeiten: Ich verlasse das Gespräch wutschnaubend, weil ich damit nicht umgehen kann – und versuche im Nachhinein durch Gespräche meistens mit Anderen herauszufinden, warum mein Gegenüber so „gemein“ war. Oder aber ich suche eine Möglichkeit, die Kotzerei als Artikulation ehrliche Kommunikation wahr zu nehmen.
    Welches Weg ich in so einer Situation wähle, ist von vielen Faktoren abhängig.

    In der Politik ist jedoch auf den Tisch kotzen, Steine werfen usw. ein Zeichen dafür, nicht mehr ernst nehmen zu müssen – erst wenn eine „vernünftige“ Person gefunden wurde, gibt’s vllt. eine Chance für das Thema. Diese Distanzierung führt dazu, dass alles unwichtiger wird, die Ohnmachtsgefühle verstärkt werden etc.

    Auch wenn ich für mich lieber den Weg der Distanzierung gehe, sind mir die undistanzierten Äußerungen umso wichtiger – denn ohne diese sehe ich den Baum vor lauter Wald nicht.

    Ich müsste dazu glaube ich mehr schreiben, aber das sprengt die Kommentarlänge. Hoffe, es ist auch so nachvollziehbar,

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  22. Diese Form von Radikalität stößt halt in den Massenmedien an ihre Grenzen. Weil da ja nicht wirklich eine Beziehung zwischen mir und den Konsumenten besteht. Klar, ich hab auch da Beziehungen und ich kann in der einen Publikation anders schreiben als in der anderen. Aber am Ende kommt dann doch jemand her und zieht mich in der einen Publikation für meine Äußerungen in der anderen zur Verantwortung. Das Ganze funktioniert idealtypisch nur in einem privaten Gespräch und am wenigsten in einer zentralisierten Öffentlichkeit. Letztere ist ja ein Phänomen der Moderne und insofern ist es vielleicht auch kein Wunder, dass die Idee man müsste nur die eine radikale und ein für alle mal wahre Theorie finden und die dann den Massen vermitteln ein zutiefst modernes Phänomen ist.

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  23. Hier gefällt mir Wikipedias Beschreibung besser:

    Als Radikalismus bezeichnet man eine politische Einstellung, die grundlegende Veränderungen an einer herrschenden Gesellschaftsordnung anstrebt. Das Adjektiv „radikal“ ist vom lateinischen radix (Wurzel) abgeleitet und beschreibt das Bestreben, gesellschaftliche und politische Probleme „an der Wurzel“ anzugreifen und von dort aus möglichst umfassend, vollständig und nachhaltig zu lösen.

    (http://de.wikipedia.org/wiki/Radikalismus )

    Von dem „an die Grenze gehen“ würde ich selbst dringend abraten:

    o Bei Menschen mit ähnlichen Ansichten unterschiedlicher „Radikalität“, weil ein gewöhnliches Problem in unterschiedlichen Ideologien sowieso ist, dass man sich in Orthodoxie überbietet. Darüber besteht ein in der Psychologie bekanntes Problem darin, dass Menschen sich tendenziell der Ansichten der Umgebung angleichen. Wenn jemand an die Grenze geht, könnten die Ansichten einer Gruppe hierdurch in destruktiver Art verzerrt werden. (Ich würde sogar raten, mehr auf die Ansichtsgegner zu hören als auf diejenige, die unsere Ansichten Teilen…)

    o Bei Menschen mit unterschiedlichen Ansichten, weil man sich besser an seine wahre Ansichten halten soll—nicht diese übertreiben um an die Grenze zu gehen. (Dagegen kann es u.U. sinnvoll sein, Ansichte in dem Ausdruck zu mildern, wenn diese schon über die Grenze gingen.)

    Im Sonstigen ist es wichtig zu bedenken, dass wenn ein Bisschen A gut ist, folgt es nicht, dass mehr A noch besser ist. Öfters ist es sogar umgekehrt.

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  24. Hallo Antje,

    wird die Frage, wie radikal eine Theorie, Äußerung oder der Tonfall sein sollte, nicht durch die Absicht des Autors/Autorin definiert? Will jemand das System verändern oder umstürzen, will er oder sie das Establishment mit an den Tisch holen oder fortjagen?

    Je älter ich werde, desto mehr setzt bei mir das Gefühl ein, dass wer andere „mitnimmt“ mehr erreicht. („Andere“ meint den halbwegs vernünftigen Teil der Gesellschaft, Gruppe oder Szene und nicht Extremisten.) Natürlich schafft eine provokante Headline mehr Aufmerksamkeit, aber ist der darunter befindliche Text eine Tirade, ein Rant, bekommt man höchsten Beifall von denen, die man ohnehin nicht mehr überzeugen muss, die anderen stößt man weg.

    Vielleicht will man bei Gegnern mit einer polemischen Provokation eine entsprechende Reaktion erzwingen. Das ist nicht schwer. Es ist fast schon billig. Denn es führt zwar kurzfristig zu mehr Aufmerksamkeit für das Thema, vertieft meiner Ansicht aber die Gräben und schadet so dem eigenen Ziel eine Sache nachhaltig voranzutreiben. Abgesehen davon kann es bei besonders langen und emotionalen Debatten zu einem Overkill-Effekt kommen, was dazu führt, dass Menschen, die der Sache vielleicht aufgeschlossen gegenüber gewesen wären, vom Thema einfach nur noch genervt sind und „zu machen“.

    Viele Grüße

    Deef

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  25. @Benni – Da hast du genau recht, ich würde sogar fast sagen, sie stößt in den Massenmedien nicht nur an ihre Grenzen, sondern sie ist geradezu unmöglich. Allerdings heißt es nicht, dass die Alternative nur das private Gespräch ist. Es gibt ja einen sehr großen Bereich von Öffentlichkeit, der sich aber unterhalb der massenmedialen Schwelle abspielt. Die Diskussionen in diesem Blog hier. Öffentliche Veranstaltungen aller Art, über die höchstens regional berichtet wird, wenn überhaupt. Alle möglichen Leute sprechen in allen möglichen Situationen öffentlich. Dieser Bereich ist imho der eigentliche Ort, an dem Politik stattfindet. Eigentlich betrifft das alle Menschen, die öffentlich sprechen, ohne aber „Promis“ zu sein, und das sind sehr, sehr viele. Beispiel: Wenn ich einen Vortrag halte vor 50, 100 oder meinetwegen 300 Leuten, dann kann es zwar sein, dass da auch eine Lokalreporterin ist, aber ich spreche dennoch zu dem „Publikum“ (!), mit dem ich es jeweils zu tun habe, und kann mich darauf einstellen, ob das jetzt ein autonomes Lesbenzentrum ist, eine linke BGE-Versammlung oder die Frauenunion. Es ist richtig, dass ich dann vor der Wahl stehe, „medientauglich“ zu sprechen oder zu den konkreten Leuten, die dort sind, und dass sich beides bis zu einem gewissen Grad ausschließt. Aber ich mache das bislang so, dass ich es eben riskiere, dass das Gesagte am nächsten Tag „falsch“ (im Sinne von kontextlosgelöst) in der Zeitung steht. Aber als Nicht-Promi kann ich mir das leisten. Promis haben diese Möglichkeit nicht, was aber auch der Grund ist, dass sie so floskelmäßig zitierbar sprechen. Simone Weil war aus genau diesem Grund der Ansicht, dass Pressefreiheit unter massenmedialen Bedingungen schädlich ist – darüber wollte ich immer schonmal was schreiben, aber habe es bisher nicht gemacht, weil ich es, ähemm, für sehr schwer vermittelbar halte :)) Es müsste aber sowas wie eine kulturelle Praxis geben, dass man bei Berichterstattung oder beim Zitieren auf den Zusammenhang achtet, weil nur so der Vermittlungsaspekt ebenfalls wiedergegeben ist. Aus dem Zusammenhang gerissene Zitate, die einem dann in anderen Kontexten vorgehalten werden, wären dementsprechend „falsche“ Zitate, obwohl sie dem Wortlaut gemäß „richtig“ wiedergegeben sind.

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  26. @Antje Schrupp: Du hast mit deiner Beschreibung der Radikalität und wie sie in Diskussionen angewendet wird bzw wie du es dir vorstellst, ziemlich gut die Art und Wweise eines wissenschaftlichen Diskurses getroffen.

    Jeder Mensch hat seine Modellbildung und sein ganz persönliches Modell zu bestimmten Sachverhalten. Diese Modelle basieren aus meiner Sicht auf seinen Erfahrungen, seinem Wissen und seiner Abstraktionfähigkeit und ist die Grundlage auf der seine Argumentation aufbaut. Als Mensch ist man natürlich emotional von der Richtigkeit seiner Vorstellungen überzeugt und geht mit Überzeugung von der Richtigkeit des eigenen Modells aus. Modelle, ob wissenschaftlich oder persönlich aus Alltagserfahrung gewonnen, lassen sich aber nur dann gegeneinander abwägen, wenn man nicht die Punkte ausdiskutiert, bei denen sie gleich sind und die selben Vorhersagen treffen, sondern man muss gerade die Extrema untersuchen/ausdiskutieren. Nur so kann man die Unterschiede herausarbeiten und Anhaltspunkte finden, welches Modell angepasster ist und welches nicht, welches besser funktioniert und welches versagt.

    Es ist eine menschliche Eigenschaft, dass derlei Diskussionen emotional und oft mit viel Temperament geführt werden. Aufgeregtheit ist nicht immer ein Zeichen von Aufgebrachtheit sondern auch von Leidenschaft. Oft genug auch, weil die Widerlegung eins Aspektes aus dem eigenen Modell beim Modellvertreter das Gefühl auslöst, dass auch er widerlegt und gar angegriffen wird. Die eigene Persönlichkeit soweit von den selbst vertretenen Modellen zu trennen, dass man die Modelle selbst in Frage stellen kann, ohne sich selbst in Frage zu stellen, ist eine immer-währende Herausforderung bei Diskussionen. Deshalb muss man nicht nur selbst darauf achten, dass man die Diskussion nicht mit Worten führt, die andere zu sehr verletzen, sondern sich auch bei selbst immer wieder darauf achten, ob man denn selbst angegriffen wird oder einem nur die eigenen Argumente um die Ohren gehauen werden. Auf ersteres sollte man den Gegenüber ruhig hinweisen, letzteres hat man zu ertragen, auch wenn es weh tut.

    Erkenntnis und Erkenntnisprozesse (als was anderes sehe ich Diskussionen nicht) tut oft genug weh, weil sie die Möglichkeit enthält, dass man auch erkennt, was man aus jetziger Sicht in der Vergangenheit falsch gemacht hat.

    Danke an Opalkatze für den Link auf diesen verdammt guten Artikel.

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  27. Bis zu meinem 45. Lebensjahr war ich Tierleichenesser. Durch Diskussionen, Sachbücher, Filme und Vorbilder in meinem sozialen Umfeld wurde ich dank meiner Einsichtsfähigkeit, Sensibilität und dem Vorsatz, Widersprüche in der kapitalistischen Lebensrealität aufzulösen, schnell ethisch motivierter Lakto-Varier, wobei dies nur eine Facette meiner linksradikalen politischen Identität ist. Den Schritt in die vegane Lebensweise habe ich noch nicht vollzogen, stehe aber den vielen Veganern in meinem politischen Umfeld positiv gegenüber. Niemals käme ich auf die Idee, diese extremste Form der Verweigerung von Tierverwertungen aller Art als nicht die meine zu kritisieren. Vielmehr bewundere ich diese gelebte Konsequenz.

    Anders dagegen meine „Freunde“ aus der Tierleichengastronomie. Obwohl gebildet, aufgeklärt und sehr gut informiert, sind sie absolut resistent gegen jede Form der persönlichen Veränderung in Richtung einer Beendigung Ihres Fleischkonsums. Für die Feinschmecker von der Öko-Fleischfront bin ich sogar das personifizierte radikalisierte Feindbild (und das schlechte Gewissen). Denn die tun doch was. Bei denen beschränke ich mich meistens nur noch auf Provokationen, Polemik und Sarkasmus, da in Diskussionen die kognitiven Fähigkeiten abgeschaltet zu sein scheinen.

    Dies nur mal als Beispiel für die Wirkungslosigkeit überzeugender Argumente aus Zwickmühle einer radikaler Position.

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  28. Ich habe erst jetzt diese Seite entdeckt.
    Heutzutage besteht ja die Neigung, radikal oder noch stärker fundamental gleich als gefährlich hinzustellen. Radikal kommt von radix = Wurzel und Fundament ist ein fester Untergrund, worauf man etwas baut. Es ist also wichtig, was die Wurzel oder das Fundament beinhaltet.

    Wer radikal ist, geht also bis tief an die Wurzel heran. Auf deutsch könnte man vielleicht gründlich sagen. Den Radikalisten könnte man auf deutsch auch als (eifrigen) Verfechter bezeichnen. Verfechter für etwas sind von rücksichtslosen Eiferern, mit einem Fremdwort als Extremisten bezeichnet, zu entscheiden. Jener will seine Überzeugung notfalls mit (unverhältnismäßiger) Gewalt und Zwang durchsetzen, wozu ich auch Gewalt mit Worten zähle.

    Wer gründlich für oder gegen etwas ist, aber nicht rücksichtslos und besessen, wird immer versuchen, das Gegenüber zu überzeugen und zu begeistern, wenn auch nur von Teilen der eigenen Einstellung. Durch gründliche Überzeugungen entstehen schließlich Verhandlungen und fruchtbare Auseinandersetzungen. Wenn allerdings rücksichtslose Eiferer verschiedener Richtung aufeinandertreffen, entsteht ein durch Einschüchterung und Gewalt geprägtes Umfeld. Es fehlt dann an der Achtung vor der Würde des Gegenübers. Diese Unterschiede werden heutzutage zu wenig beachtet. Mir kommt es vor, daß der schlechte Beigeschmack von radikal einigen Gruppen dazu dient, jene zum Schweigen zu bringen, die unliebsame Meinungen äußern.

    Die Achtung vor der Würde des Anderen ist also bei allen Auseinandersetzungen wichtig, damit es nicht zu Haß und Gewalt kommt. Denn jeder Gegner ist auch ein Mensch mit Empfindungen und Gefühlen. Es gehört zur Würde des Menschen, daß man sagen kann, was man denkt und ohne Angst leben kann. Voltaire hat die Frage nach Meinungsfreiheit und Achtung vor dem anderen einmal passend mit jenem Satz beschrieben:“Ich mag verdammen, was Du sagst. Aber ich würde mein Leben dafür einsetzen, daß Du es sagen darfst.“ Die Grenze liegt dort, wo eindeutig zu Haß und Gewalt ermutigt wird. Das hat dann mit dem eigentlichen Wortsinn von „radikal“ kaum noch etwas zu tun.

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