Zwölf Punkte für das gute Leben

Heute bekam ich eine Einladung der Belgischen Frauenliga, die im Oktober einen Studientag zum Thema Elternschaft plant. Leider werde ich daran nicht teilnehmen können, aber diese Vereinigung scheint mir sehr interessant zu sein – und ich muss zugeben, dass ich sie bisher nicht kannte. Trotz Europa und allem ist die Frauenbewegung doch leider viel weniger international, als das wünschenswert wäre.

Die Liga besteht bereits seit 1931 und versteht sich als feministische Bewegung mit traditioneller Verankerung in der ArbeiterInnenbewegung – und genau dieser breite Fokus ist es, den ich sehr gut finde, und der mir in der deutschen Diskussion über die „Gleichstellung der Geschlechter“ manchmal etwas zu kurz kommt.

Im Mai 2010 haben rund 300 Frauen bei einem Kongress der Liga „Zwölf Bedingungen für eine gleichberechtigte, solidarische und gerechte Gesellschaft“ erarbeitet. Vorausgegangen war dem ein zweijähriger Diskussionsprozess. Mir gefallen diese Punkte sehr gut – auch wenn ich natürlich bei dem ein oder anderen Detail etwas anders formulieren würde – und vielleicht könnten sie ja auch eine Inspiration für entsprechende Diskussionen in Deutschland sein. Sie verbinden jedenfalls genau die Aspekte, die auch mir im Zusammenhang mit feministischen Impulsen wichtig sind: Die Verbindung von weiblicher Freiheit, Verantwortung für Hilfsbedürftige und den Fokus auf ein gutes Leben für alle.

Da ich mir vorstellen kann, dass diese Initiative aus Belgien nicht nur mir bisher unbekannt war, sondern in Deutschland generell nicht groß registriert wurde, stelle ich die Punkte auch hier einmal vor und zur Diskussion:

In einer gleichberechtigten, solidarischen und gerechten Gesellschaft

1. befinden sich würdige Erwerbstätigkeit und Privatleben im Gleichgewicht.

2. ist die lebenslange finanzielle Unabhängigkeit aller Frauen garantiert.

3. wird Konsum allen zugänglich gemacht und erfolgt auf der Basis von Nachhaltigkeit und fairem Handel.

4. ist die Pflege hilfsbedürftiger Menschen eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.

5. werden Pflege- und Betreuungsberufe gesellschaftlich anerkannt und wertgeschätzt.

6. verfügen Frauen über ausreichend Zeit, über die sie frei entscheiden können.

7. existieren keine sexistischen, stereotypen Frauenbilder, die Frauen unter Druck setzen.

8. ist Mutterschaft weder verpflichtend noch Anlass zur Diskriminierung.

9. werden Gewalt und Unrecht gegen Frauen als Ausdruck des patriarchalischen Gesellschaftssystems erkannt und als solche bekämpft.

10. werden in Politik und Verwaltungswesen die Interessen und Bedürfnisse von Frauen berücksichtigt.

11. wird die Initiative der Frauen selbst zum Motor für gesellschaftliche Veränderung.

12. schaffen Frauen Solidarität untereinander.

In dem Papier werden diese Punkte anschließend im Einzelnen ausgeführt und in weiteren Unterpunkten konkretisiert. Es steht als pdf-Dokument auf der Homepage der Liga. Dort gibt es sämtliche Texte auch auf Französisch.

Ich bin Journalistin und Politologin, Jahrgang 1964, und lebe in Frankfurt am Main.

15 Gedanken zu “Zwölf Punkte für das gute Leben

  1. Gut, dass Männer dieser Liste zufolge in einer gleichberechtigten Gesellschaft nicht vorkommen, somit können sie auch nicht Schuld an irgend einer Misere sein.

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  2. Verständnisfragen:

    2. ist die lebenslange finanzielle Unabhängigkeit aller Frauen garantiert.

    Das ist BGE, aber nur für Frauen?

    8. ist Mutterschaft weder verpflichtend noch Anlass zur Diskriminierung.

    Wo ist denn Mutterschaft verpflichtend?

    9. werden Gewalt und Unrecht gegen Frauen als Ausdruck des patriarchalischen Gesellschaftssystems erkannt und als solche bekämpft.

    Ist es nicht vollkommen egal, warum ein besoffener Ehemann seine Frau verprügelt? Ich meine, was bringt es denn, wenn man kranke Typen „Patriarchen“ nennt?

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  3. @Eunice – Punkt 1: Wenn irgendwo von Frauen die Rede ist, ist über Männer nichts gesagt. Sie könnten ja auch einfach mitgemeint sein, vielleicht sind sie auch einfach mal irgendwo gerade nicht das Thema. (dies auch @DrNi)
    Punkt 8: Es gibt – historisch nachweisbar und in bestimmten Milieus noch immer verbreitet – die Vorstellung, nur eine Frau, die Kinder hat, sei eine „richtige“ Frau. Die Auseinandersetzung mit diesem Frauenbild hat die Frauenbewegung ganz schön beschäftigt.
    Punkt 9: Das ist ein sehr großer Unterschied. Wenn man solche Vorfälle als „Ausbruch eines kranken Typen“ interpretiert, dann hat die betroffene Frau einfach nur Pech oder ist selber schuld, dass sie sich „so einen“ ausgesucht hat. So ist es aber nicht (obwohl beides, Pech und eigene Verantwortung durchaus eine Rolle spielen), denn solche Gewalt ist auch eine Folge von Strukturen, Geschlechterverhältnissen, Männer- und Frauenbildern und so weiter.

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  4. „…vielleicht sind sie auch einfach mal irgendwo gerade nicht das Thema.“

    Das Problem ist, eine Gesellschaft, in der „Männer einfach mal irgendwo gerade nicht das Thema sind oder halt mitgemeint sind“, kann von vornherein keine sein, die gleichberechtigt, solidarisch und gerecht ist.

    Die Punkte taugen also bestenfalls als notwendige, aber keinesfalls als hinreichende Bedingungen.

    Wir haben aber mittlerweile genügend Erfahrungen mit „Frauenbewegtheit“, um zu wissen, dass etwa die lebenslange weibliche finanzielle Unabhängigkeit durch lebenslange Arbeit auf Seiten von Männern finanziert werden soll usw. usf. …

    “ Punkt 9: Das ist ein sehr großer Unterschied. Wenn man solche Vorfälle als „Ausbruch eines kranken Typen“ interpretiert, dann hat die betroffene Frau einfach nur Pech oder ist selber schuld [….] solche Gewalt ist auch eine Folge von Strukturen, Geschlechterverhältnissen, Männer- und Frauenbildern und so weiter.“

    Ja, und manchmal oder auch ziemlich oft hat die Frau auch einfach verdient, ein paar Ohrfeigen zu kassieren, weil sie sich wie das letzte Arsch verhalten hat.
    Der Satz oben suggeriert, dass das gar nicht möglich wäre. Ist es aber …

    Übrigens – die zwölf Punkte sind Forderungen; an wen eigentlich adressiert?

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  5. @Andreas –

    1. Natürlich sind das nur notwendige, aber keineswegs hinreichende Bedingungen. Ich möchte mal die (oder den) sehen, die es schafft, eine Liste mit hinreichenden Bedingungen für ein gutes Leben aufzuschreiben!

    2. Damit bietest du natürlich das allerbeste lebendige Beispiel für patriarchale Strukturen – du vertrittst also die Meinung, dass deine körperliche Überlegenheit oder Machtposition dich dazu berechtigt, Konflikte in Form von körperlicher Gewalt zu bearbeiten (sonst wärst du ja gar nicht in der Lage, mal eben ein paar Ohrfeigen zu verteilen). Genau das ist Patriarchat. (BTW: Unser Rechtssystem verbietet das, Gewaltmonopol des Staates nennt man das.)

    3. Die zwölf Punkte sind keine Forderungen, sondern Bedingungen. Damit dienen sie als Diskussionsgrundlage für Menschen, die an einem guten Zusammenleben aller interessiert sind.

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  6. @Anke: Gut, das ist natürlich möglich, dass es hier nicht um Männer geht. D.h. diese Thesen beziehen „gleichberechtigt“ dann eben auf die Gleichberechtigung zwischen Frauen. Also nicht mein Bier, kann ich jetzt getrost ein solches trinken gehen. Uffz.

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  7. Wenn eine Frau einer anderen Frau schlägt, sind das dann auch
    patriachalische Gesellschaftsstrukturen?

    Sind diese Bedingungen nicht so sehr abstrakt, das man sie förmlich missverstehen muss?

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  8. Sie könnten ja auch einfach mitgemeint sein, vielleicht sind sie auch einfach mal irgendwo gerade nicht das Thema.

    wenns um elternschaft geht, geht es doch automatisch auch um vaterschaft. wenn frauen selbst das schon ausklammern, ist es kein wunder, wenn männer sich da wenig einbringen.

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  9. @ Antje: Danke für den Hinweis auf dieses interessante Dokument. Was für eine wohltuend selbstbewußte Sprache! Ich werden ebenfalls darauf verweisen.
    Schade, dass eine sachliche Diskussion um diese Themen noch immer so schwierig ist. Und äußerst interessant, welch provozierende Wirkung die alte Formulierung „Sie könnten ja auch einfach mitgemeint sein,…“ heute noch auslösen kann. Köstlich!

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  10. „Ja, und manchmal oder auch ziemlich oft hat die Frau auch einfach verdient, ein paar Ohrfeigen zu kassieren, weil sie sich wie das letzte Arsch verhalten hat.“

    Boah, hörst du dir eigentlich manchmal selber zu? *kotz*

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  11. @Birkenrinde – viele Kommentare von Andreas schalte ich schon sowieso nicht frei, aber bei dem dachte ich irgendwie, er spricht für sich.

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  12. Liebe Frau Schrupp!

    Mit Punkt 9 (werden Gewalt und Unrecht gegen Frauen als Ausdruck des patriarchalischen Gesellschaftssystems erkannt und als solche bekämpft.) habe ich auch meine Probleme. Unter Patriarchat verstehen die Arbeiterbewegten die ökonomische Vormachtstellung des Mannes, also genau das, was die Damen in Punkt 2 (ist die lebenslange finanzielle Unabhängigkeit aller Frauen garantiert.) bekämpfen möchten.

    Die Definition von Patriarchat als systemische, gegen Frauen gerichtete Gewalt ist ideologisch begründete Männerfeindschaft. Das behauptet ja, daß die Männer die Frauen vergewaltigten und verprügelten, um Herrschaft über sie auszuüben. Dieser Patriarchatsbegriff unterstellt dem männlichen Geschlecht eine von persönliche Verantwortung unabhängige, gesellschaftlich eingeforderte Gewalttätigkeit gegen Frauen, so als sollten Männer gegen Frauen in den Krieg ziehen. Das Ergebnis davon ist eine eingebildete Notwehrsituation, die dann zum Geschlechterkampf führt. Die Ehe wird dann buchstäblich als Eroberung gedeutet, der Mann als Feind. Und Frau Schrupps Argument, daß es bei Punkt 9 darum ginge, zu vermeiden, daß vergewaltigten Ehefrauen eine Mitschuld zugeschoben wird, ist angesichts der Situationen bei anderen Verbrechen wie Raub und Betrug auch nicht überzeugend.

    Auch mit Punkt 8 (ist Mutterschaft weder verpflichtend noch Anlass zur Diskriminierung.) bin ich nicht ganz einverstanden. Nicht Diskriminierung, sondern wirtschaftlich Abhängigkeit ist das Problem. Kinder muß man sich nämlich wirtschaftlich leisten können. Mütter sind dazu alleinverantwortlich für die Kinder. Väter können die Kinder verlassen, bei Müttern wäre das ein Verbrechen. Diese besondere Verantwortung den Kindern gegenüber zusammen mit der finanziellen Abhängigkeit begründet dann das Problem, das das Mutterdasein bedeutet.

    Natürlich sagt mir auch Punkt 7 (existieren keine sexistischen, stereotypen Frauenbilder, die Frauen unter Druck setzen.) nicht zu. Der früher von Arbeiterbewegten angebetete Kalle meinte dazu: „Das Sein bestimmt das Bewußtsein“

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  13. @georgi – Sorry, aber das ist Quatsch. Wenn man Rassismus analysiert bedeutet das ja auch nicht, dass jede weiße Person persönlich für die Unterdrückung schuldig erklärt wird (Eine Verantwortung für das eigene Handeln in diesem System hat sie natürlich schon). Ich hätte von dir schon ein bisschen mehr erwartet, als dass du hier das alte Klischee von den Männerhasserinnen wieder auftischst. Und was den alten Karl betrifft: Der hatte halt auch nicht mit allem recht.

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  14. Wenn man Rassismus für das Werk von Rassisten hält, dann hätte ich auch damit ein Problem, eben wegen Karls Ausspruch „Das Sein bestimme das Bewußtsein“, an dem, wie ich finde, was dran ist.

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  15. „Nicht das Bewußtsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewußtsein.“ Marx

    Klar kann ich die Sozialisation, die Enkulturation, die Erziehung nicht einfach umgehen oder so, ich werde vermutlich einen alten griechischen Theoretiker niemals vollkommen verstehen, oder eine mittelalterliche Bäuerin, oder einen Stammeskrieger einer segmentären Kultur.

    D.h. eine bestimmte Gesellschaft hat, nach Marx, eine bestimmte Denkweise – wer seinen Alltag in Clans verbringt, denkt anders, wie jemand der seinen Alltag in einer Fabrik verbringt.

    Desweiteren kann ich, nach Marx, nicht durch idealistisches Umdenken mein Leben, meine Verhältnisse ändern, aber mein verändertes Leben, meine neugeordneten Verhältnisse verändert eben auch mein Bewusstsein.

    Deine Marx-Interpretation läuft sehr auf Mileudeterminismus oder Vulgärmarxismus raus. Da könnten wir dann aber auch nicht unsere Geschichte bewusst selbst machen (, sondern machen sie eben nicht bewusst, wie Marx es formuliert), unsere Verhältnisse, unser Sein, unser Leben ja auch nie ändern.

    Marx wollte m.E. den sozialethischen, humanistischen, christlichen und idealistischen Weltverbesserern zeigen, dass nur die wirkliche Veränderung der konkreten Verhältnisse (d.h. Beziehungen) zum Besseren auch Verbesserungen produzieren kann.

    Was nützt es wenn der Priester Nächstenliebe predigt und ihm alle zustimmen, wenn die feudalen Strukturen aber immer wieder neue Armut und neues Leid produzieren.Was nützt es wenn formal das Patriarchat aufgelöst wurde und Männer und Frauen gleichberechtigt und frei sind, wenn sie es de facto -in der gelebten sozialen Realität- nicht sind.

    Das Sein bestimmt das Bewusstsein bestimmt das Sein bestimmt das Bewusstsein bestimmt das Sein bestimmt das Bewusstsein bestimmt das Sein bestimmt das Bewusstsein bestimmt das Sein.

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