Kleines Einmaleins des Fehlermachens

Momentan scheinen sich alle darüber einig zu sein, dass wir die Modalitäten des Fehlermachens und wie es danach weiter gehen kann im Bereich der Öffentlichkeit neu zu überdenken haben. Es sieht so aus, als müsste es neben dem üblichen Verfahren der Rechtsstaatlichkeit (etwas ist per Gesetz verboten oder erlaubt) noch weitere Kriterien geben, um mit menschlichen Schwächen auch im Bereich von öffentlichen Ämtern umzugehen (in privaten Beziehungen praktizieren wir das meistens sowieso schon).

Aber wie soll das gehen, das Fehlermachen öffentlicher Personen und der anschließende Umgang damit? Vorab möchte ich vor allem betonen, dass ich darin nicht eine moralische Frage sehe oder ein persönliches Vergehen einzelner Personen. Das Problem ist, dass die Strukturen unserer öffentlichen Institutionen mit ihren bürokratisierten Abläufen und ihrem formalen Gerechtigkeitsverständnis so eine Haltung gar nicht vorsehen. Dazu hat Dorothee Markert schon einmal Lesenswertes gebloggt.

Wenn man innerhalb der darin geltenden Machtlogiken bleibt, ist es deshalb vielleicht sogar kontraproduktiv, sich an meine Vorschläge zu halten. Die folgenden Punkte verstehe ich also nicht als Forderungen, sondern eher als eine Beschreibung von Notwendigkeiten, die erfüllt sein müssten, damit eine andere „Fehlerkultur“ entstehen kann.

Ich beschreibe sie hier aus der Perspektive der Person, die einen Fehler gemacht hat. Es gehört aber nicht viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, dass dazu auch eine Gegenseite gehört, die ein entsprechendes Verhalten honorieren würde, anstatt nachzutreten oder die Fehler der anderen für die eigenen instrumentellen Zwecke auszuschlachten. Also:

Erstens: Man muss den Fehler einsehen, und er muss einer Leid tun – und zwar nicht nur Leid tun in dem Sinn, dass man sich in den Arsch beißen könnte, weil man jetzt dadurch so einen Ärger am Bein hat, sondern Leid tun in dem Sinn, dass man es wirklich bereut, dass man sich in gewisser Weise für das, was man getan hat, schämt. Weil man verstanden hat, dass es falsch war. Man muss auch wissen, dass man sich nicht mehr im Bereich der Rechtsstaatlichkeit befindet (und es also in dem Zusammenhang kein Argument ist, dass man nicht gegen Gesetze verstoßen hat).

Zweitens: Man muss die Kontrolle über das weitere Verfahren aus der Hand geben. Das bedeutet: Um Entschuldigung bitten. Nicht: Sich entschuldigen. Ob eine Ent-Schuldigung stattfindet, das entscheidet nicht man selbst, sondern die anderen. Und zwar – und das ist das Schwierige – nicht nach objektiven, einklagbaren und transparenten Maßstäben wie bei einem Gerichtsverfahren, sondern, tja, mehr oder weniger unvorhersehbar. Man hat keinen Anspruch darauf, dass die eigene Bitte um Entschuldigung angenommen wird. Man kann es nur hoffen.

Drittens: Man muss natürlich auch die richtigen Leute um Entschuldigung bitten. Um es an einem derzeit viel diskutierten Beispiel zu sagen: Wenn ein Bundespräsident unliebsame Berichterstattung mittels Drohungen am Telefon unterbinden will, dann schädigt er damit nicht den betreffenden Chefredakteur, sondern die Zivilgesellschaft, in der Pressefreiheit als hohes Gut gilt. Er müsste also auch diese Zivilgesellschaft um Entschuldigung bitten, die Meinung des Chefredakteurs ist hierbei eher unerheblich.

Viertens: Man muss sich darüber im Klaren sein, dass man da nicht ungeschoren herauskommt, egal wie es ausgeht. Man wird immer der- oder diejenige mit dem damaligen Fehler sein, auch wenn er verziehen wurde. Entschuldigungen machen das Geschehene nicht rückgängig, sie ermöglichen lediglich einen neuen Anfang – nun eben auf einer neuen Grundlage. Ein Zurück auf Null gibt es im Leben nicht.

Fünftens: Wenn die anderen zu der Auffassung kommen, dass man nicht weitermachen kann, muss man das akzeptieren. Zumindest sollte man sich im Klaren darüber sein, dass dies ein möglicher Ausgang ist. Die Möglichkeit eines Rücktritts zum Beispiel gar nicht in Erwägung zu ziehen (oder das zumindest zu behaupten), ist in so einem Fall entweder ignorant oder gelogen.

Sechstens: Wenn man hingegen die Möglichkeit bekommt, trotz des begangenen Fehlers weitermachen zu können, ist Dankbarkeit angebracht. Dankbarkeit dafür, dass man eine Möglichkeit bekommen hat, die man sich nicht selbst verdient hat. (Man kann sich aber ein bisschen damit trösten, dass es den meisten anderen Leuten genauso geht.)

Ich bin Journalistin und Politologin, Jahrgang 1964, und lebe in Frankfurt am Main.

43 Gedanken zu “Kleines Einmaleins des Fehlermachens

  1. Dazu müsste die Person entsprechende Wertvorstellungen haben und sie auf sich selbst anwenden. Die innere Einstellung eines Marketingprodukts reicht nicht.

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  2. Leider hat der Bundespräsident bereits bei Punkt 1 versagt. Das Einmaleins wird deshalb aber nicht falsch – im Gegenteil! Gefällt mir gut.

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  3. Da sind Punkte drin, die mich vor ein paar Tagen auch mal wieder zu ein paar Zeilen bloggen verleitet haben.
    http://www.siggibecker.de/noj923yeah/2012/01/03/professionalitat-als-leitsymptom/
    Leider ist es doch aber so, das der charakterliche Karrierefilter Dispositionen bevorzugt, die Angst, Schuld, Scham, Reue auf niedrigstem Niveau voraussetzen. Sie schwitzen nicht, zucken nicht, die Körpersprache ist soweit runtergeregelt, das schon Gebärdenleser (->Twitter Livekommentar) aufgebracht werden um die geringsten Gesten zu entzifferen. Die ganze Symptomatik von Guttenberg, über Mehrin, jetzt Wulff ist sehr auffällig…

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  4. Finde, es fehlt der Hinweis, dass es sich bei dem Artikel nur um eine Wiederholung so ziemlich uralter Vorstellungen über Schuld, tätige Reue, Gnade und Vergebung handelt – ich bezweifele allerdings, dass diese Dinge auf einer öffentlichen Bühne für das Publikum transparent sein können.

    Anders gesagt – ob Heinrichs Gang nach Canossa echte Reue war, oder ein genialer politischer Schachzug, mit dem er den Papst zwang, ihn wieder in die Kirche aufzunehmen, wollte dieser sein Amt nicht dadurch unerträglich beschädigen, dass er Unversöhnlichkeit zeigte, wird man wohl kaum jeweils beurteilen können.

    Umgekehrt könnte man auch vermuten, dass Wulf, würde er „echte“ Reue zeigen, politisch geliefert wäre – ob er privat anders denkt, als sein machiavellistisch-pragmatisches Auftreten nahelegt, weiss man genauso wenig.

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  5. Das mit dem verboten und erlaubt warte ich noch ab. Ich denke einfach daran, wie mir als angehender Lehrerin erklärt wurde, was ich an Geschenken annehmen konnte und was nicht, etwa von Eltern, die sich bedanken wollen. Es gab da eine Geringfügigkeitsgrenze, aber die lag ziemlich niedrig – eher bei 5 Euro als bei 500 000. Selbst wenn die Eltern sich einfach nur für gute Arbeit bedanken wollen und keine ungerechtfertigten Vorteile für ihre Kinder wollen, darf nichts angenommen werden. Es darf nicht einmal ein Verdacht aufkommen, und auch keine Verpflichtung für die Zukunft. Es entsteht halt doch immer ein Gefühl der Verpflichtung.

    Ansonsten warte ich ehrlich gesagt nur noch auf Wulffs Rücktritt. Es ist ein Skandal wie jeder andere und folgt den bekannten Mustern, nur dass dieses Mal um den Bundespräsidenten geht.

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  6. PS. Es fällt mir jedenfalls schwer, Wulff in der Hauptrolle in einem Drama von Shakespeare zu imaginieren …

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  7. Mir gefällt schon der allgemeine Begriff Fehler nicht. Mit vielen Fehlern schadet man sich nur selbst. Doch selbst, wenn man nur die Fehler nimmt, durch die andere Schaden erleiden: wer definiert, dass jemand gefehlt hat, wenn nicht unser Recht? Und entscheidet darüber, wenn nicht unsere Gerichte?

    (Mir fehlt auch der Aspekt der Schwere der Schuld).

    Zu erstens: Ob jemand einen Fehler wirklich einsieht, wie soll man das von außen erkennen? Ich würde einfach nur erwarten, dass derjenige in Zukunft ähnliches unterlässt.

    Problem habe ich aber auch mit Zweitens: wer soll konkret die Entschuldigung annehmen oder nicht? Wir alle (Volksabstimmung)? Unsere Presse? Die Bild-Zeitung? Herr Diekmann persönlich? Oder vielleicht doch besser nur die, die selbst nie Fehler gemacht haben?

    Unserer Presse jedenfalls will ich weder das Recht nicht einräumen, zu definieren, was Fehler sind, ob jemand einen begangen hat und ob ihm verziehen wird. Weder ist die Presse neutral, noch objektiv, noch demokratisch kontrolliert und selten geht es ihr wirklich um die Wahrheit. Spätestens seit der unglaublich gehässigen und in jeder Hinsicht unfairen und niederträchtigen Hetzkampagne gegen Frau Ypsilanti habe ich da keinerlei Illusionen mehr.

    Und nebenbei: viele ihrer Vertreter sind selbst höchst fragwürdig, was das Begehen von „Fehlern“ angeht.

    Um ehrlich zu sein: mir graut es vor einer Welt mit einer solchen „Fehler Bekennen und um Entschuldigung bitten“-Kultur. Denn es ist eine willkürliche und daher grausame Welt. In der chinesischen Kulturrevolution wurde sie gelebt.

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  8. @Wolfgang – Ja, du hast völlig recht. In der Logik der Macht (in der du bei deiner Argumentation bleibst), funktioniert das nicht, das hatte ich ja auch geschrieben. Die Frage ist nur, ob es möglich ist, an der ein oder anderen Stelle die Logik der Macht zu durchbrechen. Notwendig scheint es mir zu sein.

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  9. Ich trau mich schon kaum, was zu sagen, weil ich Wulff nicht so toll finde und sein Verhalten zumindest kreuzdämlich und naiv, wenn nicht Reichen-hörig und luxusgierig, aber hat er sich nicht bei dem BILD-Chef entschuldigt, ein paar Tage später? Keiner war dabei, man weiß also nicht, ob das nicht eine ganz aufrichtige und ehrliche und korrekt formulierte Entschuldigung war.

    Warum alle Welt ausgerechnet der BILD glaubt und bei deren billiger Kampagne mitmacht, verstehe ich wirklich nicht. Fällt nicht auf, dass die Geschichte mit Wulffs AB-Dummheit erst lanciert wurde, als sich die Aufregung für’s erste zu legen schien?

    Wenn er bei einer reputablen Zeitung angerufen und auf den AB getobt hätte, wäre ich auch empört. Aber dass die BILD jetzt „Voll gemein, Pressefreiheit, ey!“ schreit, rührt mich gar nicht.

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  10. @Sabine – Ich finde, wenn ein hoher Politiker eine Zeitung bedroht und zu nötigen versucht, dann ist das nicht eine Sache, die nur diese Zeitung bzw. den entsprechenden Journalisten betrifft, sondern die Gesellschaft allgemein. Es reicht also auch nicht, wenn er von diesem Journalisten entschuldigt wird. Von daher geht es in der Tat nicht um die Bildzeitung allein. Um es von diesem Fall weg und etwas allgemeiner zu sagen: Das triumphierende „Ich habe mich doch entschuldigt!“ ist ein häufig vorgebrachtes Argument, das imho eine funktionierende „Fehlerkultur“ verhindert.

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  11. schönen dank für deinen gut evangelischen beitrag! ich bin – ohne deinen text gelesen zu haben – zu einem ähnlichen ergebnis für hr1 gekommen (morgen früh, ~ 7.10 h).

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  12. So richtig dein Einmaleins im privaten Bereich ist, so problematisch ist es im Politischen. Ein Politiker sollte sich Handlungsoptionen offen halten. Sich auf Gedeih und Verderb dem Spruch einer veröffentlichten Meinung und durch Fragen erstellten Meinungsbildes zu unterwerfen, ist im politischen Raum nicht angemessen.
    Wenn man einen Rücktritt für nötig hält, sollte man zurücktreten, wie es Margot Käßmann vorgeführt hat.
    Andernfalls sollte man Fehler eingestehen, erläutern, weshalb man sich entschlossen hat, nicht zurückzutreten und wie man von jetzt ab ähnliche Fehler vermeiden will.

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  13. @AntjeSchrupp:

    Ja, genau diese Übernahme von Dingen, die im privaten nur halbwegs funktionieren ( und auch da oft zum Terror führen ) ins öffentliche, gehört in meinen Augen zum Übelsten, was einem die Emanzipation der Frauen beschert hat.

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  14. Genau hier sehe ich die Schwachstelle. Ich finde nichtmal die Trennung zwischen politisch und privat schwierig, sondern die Tatsache, sich vor einer Öffentlichkeit zu entschuldigen. Ein Öffentlichkeit, die mit verschiedenen Stimmungen und Informationsständen rangeht. Um Entschuldigung kann man nur bitten, wenn der andere weiß, warum man es tut. Also informiert ist. Und genau da ist der Schwachpunkt. Vorallem auch, wenn etwas bereits so sehr in der Öffentlichkeit breit getreten wurde, dass die Mehrheit sich schon eine Meinung gebildet hat. Ob in diesem Zusammenhang das, was privat Sinn macht, auch öffentlich oder von mir aus politisch sinnvoll ist, wage ich zu bezweifeln.
    Ohne auf ein konkretes Beispiel eingehen zu wollen, Rücktritte bringen immer das Problem der Erpressbarkeit mit sich. Heißt, will ich jemanden loswerden wühle ich so lange, bis ich etwas finde, was ich so sehr aufbauschen kann, bis der Betroffene sein Gesicht verloren hat und nicht mehr in der Lage ist, sein Amt auszuführen. Eine Entschuldigung bei der Öffentlichkeit ist in der Situation vielleicht noch moralisch korrektes Handeln, verändern wird es jedoch wenig.

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  15. „Leidtun“, nicht „Leid tun“. Macht doch bitte den semantischen Irrsinn jener hirnrissigen Rechtschreibdeform nicht mit, sondern boykottiert ihn! Muß man denn bei jedem Scheiß mitmachen, sei er auch noch so idiotisch?

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  16. @Andreas – Wie man am vorliegenden Fall sieht, wird diese „Übernahme“ ja gar nicht von Feministinnen angestoßen, sondern ergibt sich aus dem Nicht-Funktionieren des bisherigen.

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  17. @AntjeSchrupp:

    Seh‘ ich nicht – ich sehe nur immer wieder, dass eine Gesellschaft, die zuviel „weiblichen“ Werten folgt, diese Trennung von Privatem und Öffentlichem nicht kann, nicht, dass sie nicht funktioniert.

    Gerade Wulff mit seiner femininen Attitüde ist dafür doch ein Paradebeispiel – Typen wie Schmidt, Schröder etc. kann ich mir einfach nicht mit solchen Schwächen vorstellen.

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  18. Du schriebst:

    „Man muss auch wissen, dass man sich nicht mehr im Bereich der Rechtsstaatlichkeit befindet (und es also in dem Zusammenhang kein Argument ist, dass man nicht gegen Gesetze verstoßen hat).“

    Diesen Satz finde ich verwirrend. Grundsatz unseres Strafrechts ist zum Glück und zu Recht „Nulla poene sine lege“ / „keine Strafe ohne Gesetz“.

    Verstößt jemand als Amtsträger gegen Gesetze, bewegt er sich mit seinem Handeln nicht mehr „im Bereich der Rechtsstaatlichkeit“. Klare Sache!

    Verstößt sein Handeln „nur“ gegen Moral bzw. „gute Sitten“, kann das durchaus zum Rücktritt Anlass geben, ist aber nicht justitiabel. Mit „Rechtsstaatlichkeit“ lässt sich das dann eben NICHT fassen.

    Insgesamt denke ich, bei Wulff fehlt es schon an der ehrlichen Einsicht in die Fehler in dem Sinn, wie Du es meinst.

    Was nicht mal ihm alleine vorzuwerfen ist, denn tatsächlich sind solche Vorteilsnahmen und Beeinflussungsversuche ja bei Politikern und Amtsträgern verschiedenster Art durchaus gang und gäbe. Auch bei Presse-Leuten, die jetzt so tun, als seien die Wulffschen Vergehen ganz außerordentlich, extrem besonders, jedenfalls total ungewöhnlich.

    Er hat offensichtlich nicht gerafft, dass er als „Ersatz-Kaiser“ nicht einfach so weiter machen kann: zumindest der BUNDESPRÄSIDENT soll über alle Zweifel erhaben sein – wenigstens einer!

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  19. @Antje Schrupp Auch im Privaten und Nicht-Politischen, ebenso wie im Beruf, geht es dabei oft um Macht. Das fängt schon damit an, wer definieren kann, was Fehler sind, wer sie begangen haben soll, wie schwer sie wiegen und wie sie sanktioniert werden sollten.
    Und selbst wenn Fehler objektiv und auch gerecht und angemessen (das ist ebenfalls eine schwierige Sache) definiert sind, braucht man immer noch den neutralen Richter.

    Jemand der schuldig ist, über den hat man Macht, denn er muss sich entschulden (Nicht zufällig werden hier im Deutschen die gleichen Wörter benutzt wie für ein Kreditverhältnis).
    Deshalb nutzt der Mächtigere seine Macht möglichst dazu, ein „Schuld“-Verhältnis zu weniger Mächtigen herzustellen. Er dehnt so seine Macht über den anderen aus. Optimal ist für den Mächtigen, wenn er selbst die Regeln aufstellt und selbst urteilt. (Die römisch-kathotlische Kirche weiß das sehr gut und nutzt das mit dem Konzept des sündig geborenen Menschen aus).
    Und daher ist jeder Mensch bestrebt, Schuld von sich zu weisen. Je weniger er selbst daran beteiligt ist, die Regeln zu festzulegen, und je weniger unabhängig das Verfahren ist und je unkalkulierbarer die Folgen, desto empfehlenswerter ist das.

    Wir sollten keine Gesellschaft anstreben, wo jemand seine Sünden bekennen oder seine sündenfreiheit beweisen muss. Schon gar keine, wo er besser voll und umfassend gestehen sollte, was im vorgeworfen wird. Wir sollten darauf bestehen, dass Schuld nachgewiesen werden muss und niemand am Nachweis seiner Schuld mitarbeiten muss.

    Ich behaupte sogar, dass eine der wichtigsten Entwicklungen der Menschheitsgeschichte darin besteht, von dieser primitiven Fehler-Kultur wegzukommen: Regeln, was verboten ist, die zudem nicht geheim sein dürfen; Berechenbarkeit durch Institutionalisierung und Festlegen der Sanktion im Voraus; gleiche Regeln für alle; Beteiligung beim Erstellen der Regeln, ihrer Anwendung und Sanktionierung; Angemessenheit und Fairness

    Die Untrennbarkeit von Fehler und Schuld ist zudem oft kontraproduktiv. Passiert etwa bei einer medizinischen Operation ein Fehler, wäre es oft viel besser, der Fehler würde schnell erkannt, um die Folgen zu minimieren. Doch durch die damit verbundene Schuld wird er stattdessen vertuscht.

    Und noch etwas zu Frau Käßmann, die auf Google+ als Vorbild erwähnt wurde: ich verstehe den Rücktritt, Frau Käßmann wusste sicher, was da auf sie von Seiten der Presse und ihrer Gegner zukommen würde und hatte keinen Bock darauf. Aber mal ehrlich: Sie ist betrunken Auto gefahren, aber es ist niemand dabei zu Schaden gekommen. Das kann doch nicht unser ernst sein, dass man dann als Ratsvorsitzende der EKD zurücktreten sollte. Hätte Sie jemanden angefahren, klar, dann wäre das etwas anderes. Hat sie aber nicht.

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  20. Habe hier noch mal die Kommentare durchgelesen und kann jetzt, glaube ich, noch mehr sagen.

    Ein Problem sind, glaube ich, die „erzwungenen“ Entschuldigungen, also die Entschuldigungen, die jemand von sich glaubt, weil er glaubt, es tun zu müssen, vielleicht auch, weil er glaubt, dass es mit persönlichen Nachteilen verbunden ist, wenn er sich nicht entschuldigt.

    Wulff hat ja auch die Möglichkeit sich nicht zu entschuldigen, wenn er der Meinung ist, keinen Fehler begangen zu haben. Er könnte wahrscheinlich nicht einmal als Bundespräsident abgewählt werden – nur im Falle eines vom Bundesverfassungsgesetz festgestellten Gesetzesverstoßes kann er sein Amt verlieren. (Ich habe nachgeschlagen: GG 61.) Er könnte sich also in Schloss Bellevue verschanzen, niemand würde ihn mehr ernstnehmen, er dürfte keine Reden mehr halten sondern nur noch Gesetze unterschreiben.

    Wenn ihm das nicht behagt (was zu hoffen ist) kann er auch zurücktreten. (Ehrlich gesagt warte ich darauf. Meist ist ein Politiker fällig, wenn die Unterstützung der eigenen Leute schwindet.)

    Die „erzwungenen“ Entschuldigungen „jetzt entschuldigst du dich und dann spielt ihr wieder miteinander“, die sich in manchen Bereichen ausgebreitet hat. Sie nimmt weder Täter noch Opfer ernst. Ich denke, in manchen Situationen muss akzeptiert werden, dass die Beziehung zerstört ist.

    Die Fortsetzung dieser erzwungenen Entschuldigung ist dann „aber ich habe mch doch entschuldigt – jetzt musst du mir aber auch verzeihen“. Aber meistens weiß das Opfer, dass die Entschuldigung nicht ernst gemeint war.

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  21. @Susanne: Falls er nicht gegen Gesetze verstoßen hat: ja, genau das sollte er machen: sich in Bellevue einigeln und aussitzen. Die Chancen stehen sogar gut, dass die Medien irgendwann aufgeben und die nächste Sau durchs Dorf jagen. Ja, wahrscheinlich schleimen sie ihn in einem Jahr dann wieder an (er hat sich gegen sie gehalten, das nötigt ihnen dann Respekt ab).

    Er würde uns allen einen Gefallen tun. Nämlich beweißen, dass ein Bundespräsidenten nicht von Bild gestürzt werden können, solange sie keine Gesetze verletzen. Und falls Ihn niemand mehr ernst nimmt, das halten wir als Gesellschaft gut aus. Der Bundespräsident ist ja nicht so wichtig und viel entscheiden tut er auch nicht. Wir hatten schon peinlichere. Wir können sogar hoffen, dass er sich mit dummen Ratschlägen, Ruckreden, Schnallt-euren-Gürtel-enger-Reden etc. zurückhalten wird :-). Er wird ein ganz lieber und fleißiger Präsident.

    Den Medien geht es nicht um die Würde des Amtes oder um Anstand. Da gibts andere Leute, die sie mal angehen könnten.

    Medien sind selbst Partei in dem Spiel. Ole von Beust durfte mit der Schill-Partei koalieren, Ypsilanti dagegen gefährdet den Bestand unserer Demokratie, wenn sie sich von der Linken dulden lässt? Wer hat entschieden, dass das eine ein geniale Taktik und das andere reine Machtgier und Wahlbetrug sei? Und wer hat dann entschieden, dass man Ypsilanti nach belieben mit Dreck bewerfen darf? Die Frau wurde als machtgeil, dumm und Witzfigur hingestellt. Warum hat wohl Hannelore Kraft so lange in NRW gezögert.

    Natürlich ist Ypsilanti auch durch ihre innerparteilichen Gegner gefallen. Aber ohne die Hetzkampagne der Medien hätten die es vielleicht gar nicht gewagt.

    Um Wulff konkret wär’s nicht Schade. Aber es geht auch ums Prinzip.

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  22. Nur nochmal zur Klarstellung: Mir ging es bei meinem Post nicht speziell um die Causa Wulff, das war für mich nur der Anlass, mal über Fehler und den Umgang damit nachzudenken. Eine Freundin postete grade drüben bei Facebook, dass es bei Wulff selber gar nicht um Fehler ging, sondern um einen unreflektierten Umgang mit Privilegien, und damit hat sie recht. Von daher kann man über das Fehlermachen aus diesem Fall vermutlich tatsächlich nur wenig lernen.

    Wobei ich deine Analyse, @Wolfgang, ansonsten sehr zutreffend finde. Außerdem stelle ich mir die ganze Zeit vor, wie Angela Merkel sich ins Fäustchen lacht, weil schon seit Wochen niemand mehr über Eurokrise und dergleichen lamentiert 🙂

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  23. @AntjeSchrupp:

    „Ja, und Berlusconi und Putin können das noch besser!“ – musste zwar lachen, finde es aber trotzdem einen schlechten Vergleich für Deine Zwecke. Gerade in Italien und Russland, würde ich sagen, funktioniert die demokratische Zivilgesellschaft nicht mehr.

    Das einzige, was Dein „Vergeben und Vergessen“ da bringen würde, ist einfach das, was hier schon ein wenig passiert, dass die „Mächtigen“ nämlich anfangen würden, Schmierenkomödien zu spielen, statt offen zynisch zu sein – und Wulff spielt ja so eine Komödie schon teilweise.

    Jemand, der in meinen Augen z.B. wirklich mustergültig das Private vom Politischen getrennt hat, war Clinton während der Lewinsky-„Affäre“.

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  24. PS. Allerdings ist Wulff so ein Verhalten wie Clinton nicht möglich – Vorteilsannahme im Amt ist nun mal nichts Privates.

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  25. Übrigens, für alle, die meinen, dass das Urteil „Vorteilsannahme“ unbegründet ist: Es reicht nach unseren Gesetzen der Anschein!

    Bloßer Anschein der Vorteilsannahme rechtfertigt Versetzung eines Beamten in niedrigeres Amt

    „Die selbstlose, uneigennützige, auf keinen persönlichen Vorteil bedachte Führung der Dienstgeschäfte ist eine der wesentlichen Grundlagen des Berufsbeamtentums“. So begründete das Oberverwaltungsgericht Koblenz ein Urteil gegen einen Beamten, der wegen des bloßen Anscheins der Vorteilsnahme in ein erheblich niedrigeres Amt versetzt wurde.Der Beamte, der in leitender Stellung mit der Vergabe und Beschaffung von Aufträgen zu tun hatte, geriet in Verdacht, weil er von Firmen Arbeiten an seinem Privathaus hatte ausführen lassen, die in über eineinhalb Jahren nicht in Rechnung gestellt wurden.OVG Koblenz; Handelsblatt vom 29.09.1997

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  26. Ich bin auch noch skeptisch, was den tatsächlichen Verstoß gegen Gesetze anbelangt. Ich warte da erst noch ab, was die Leute sagen, die sich auskennen.

    Und jetzt wollte ich eigentlich schreiben, dass jeder für sich selbst urteilen muss… Das gilt natürlich nur, soweit keine Gesetze verletzt werden (wobei wir wieder bei der Diskussion über den Rechtsstaat sind.) Also, wenn Wulffs Verhalten unterhalb der Schwelle dessen liegt, was vom Gesetz sanktioniert wird, dann muss er selbst entscheiden, ob er sein eigenes Verhalten so peinlich findet, dass es besser ist zurückzutreten, und andere Menschen mit mehr oder weniger Möglichkeiten, ihre Meinung kundzutun, können ebenfalls ihre eigene Meinung bilden, und natürlich können wir auch alle unsere Meinung darüber haben, ob die Gesetze zu streng oder zu lasch sind.

    Ich würde die Schuld nicht den Medien zuschreiben. Menschen machen sich ihre eigenen Gedanken, und zwar alle Menschen. Und die Medien schreiben oft, was sie denken, dass die Leute es hören wollen.

    Standhaftigkeit gegenüber Medien und der öffentlichen Meinung ist nur in Extremfällen eine Tugend, nämlich dann, wenn diese böse geworden sind wie zur Zeit des Nationalsozialismus. Dann ist unbedingtes Festhalten an den eigenen Überzeugungen eine Tugend. Unter normalen Umständen ist es besser, wenn man die Überzeugungen anderer Menschen zur Kenntnis nimmt und über sie nachdenkt und eventuell seine eigene Meinung ändert. Kohls Festhalten an seinem „Ehrenwort“ gegenüber den Spendern ist für mich nur Halsstarrigkeit und mangelnde Einsichtsfähigkeit, kein unbeirrbares Festhalten an eigenen Grundsätzen. Aber ich denke mal, dass jeder und jede das Festhalten an Grundsätzen, die sie selbst akzeptiert, für tugendhaft hält, während das Festhalten an Grundsätzen, die man nicht teilt, als Halsstarrigkeit ausgelegt wird.

    Ja, also, Kohls Verhalten war halsstarrig und ein Zeichen dafür, dass er wesentliche Grundsätze der Demokratie und des Rechts nicht verstanden hat. Und bei Wulff denke ich ebenfalls, dass er ein paar Dinge einfach nicht verstanden hat.

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  27. „Also, wenn Wulffs Verhalten unterhalb der Schwelle dessen liegt, was vom Gesetz sanktioniert wird, dann muss er selbst entscheiden …“

    Das sehe ich nun nicht – Wulffs Verhalten liegt unterhalb der Schwelle, die gesetzlich sanktioniert wird, das ist gar keine Frage ( auch bei dem zitierten Beamten beim Oberlandesgericht Koblenz ist ja nicht der Staatsanwalt tätig geworden ).

    Der Punkt ist einfach nur, dass bestimmtes Verhalten den Dienstherrn berechtigt, das Vertrauen zu entziehen, womit der Betreffende nicht mehr für das Amt in Frage kommt. Das ist etwas anderes als eine Bestrafung.

    Und ich persönlich kann Wulff nun keineswegs mehr vertrauen, dass er sein Amt „selbstlos, uneigennützig, auf keinen persönlichen Vorteil bedacht“ führt.
    Weswegen ich als ein Mitglied seines Souveräns den Mann degradieren würde – de facto sollte, da wir eine repräsentative Demokratie haben, der Bundestag den Mann inoffiziell zum Rücktritt auffordern, finde ich.

    Und sowas ähnliches wird vielleicht auch noch passieren – im Falle Guttenberg hat die Zivilgesellschaft ja auch funktioniert.

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  28. Ich habe nicht unbedingt Sympathien für Wulf, ich bezeichne ihn auch nicht als meinen Präsidenten, weil ich ihn nicht wählen konnte.

    Aber wenn jemand von der Bild mit Dreck beschmissen wird, dann muss eigentlich jeder hinter der Person stehen. Eine Hetzkampagne sondersgleichen.

    Als ob es der Bild um Wahrheit oder Aufklärung geht *lach*.

    Wäre ja das erste Mal.

    Hier steckt viel mehr dahinter. Wulf wollte Deutschland nicht bedingungslos an die EU verscherbeln, so sieht es doch aus.

    Schlimm das die Medien in der Lage sind einen Bundespräsidenten zu erpressen.

    Wer regiert dieses Land eigentlich? Politiker oder die Bild-Zeitung.

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  29. @ Wolfgang

    Ich sehe das teilweise so wie Sie, Aber:

    Der Bundespräsident hat vielleicht nicht viel zu sagen, aber er unterzeichnet nunmal die Gesetze bevor sie in Kraft treten.

    Er hat nicht viel, aber das Entscheidente zu sagen.

    Er wurde ja von der Bundeskanzlerin als Abnicker eingesetzt, aber so ganz wollter er dann noch nicht. Anscheinend.

    Im Übrigen haben alle Politiker mehr oder weniger Dreck am Stecken. Das ist ein Muss um überhaupt auf solche einflusreichen Sessel zu kommen.

    Nur wer erpressbar ist, ist steuerbar.

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  30. Bitte nicht weiter allgemeine Kommentare zu Wulff schreiben, sondern zu meinem Blogpost, der ja nur Anlassmäßig was mit Wulff zu tun hat, danke!

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  31. Habe noch einmal den eigentlichen Blogpost gelesen und denke jetzt, dass Punkte zwei bis sechs direkt aus Punkt eins folgen. Jemand, der wirklich bereut, was er getan hat, und einsieht, wie er damit anderen geschadet hat, wird diesen anderen jetzt erst einmal die Kontrolle über die Situation geben – oder, besser gesagt, er wird diesen anderen die Entscheidung darüber überlassen, ob die Beziehung fortgesetzt wird oder nicht, zumal wenn er keine schwerwiegenden materiellen Folgen zu befürchten hat.

    Es fehlt übrigens noch ein siebter Punkt auf der Liste: jemand, der einen Fehler bereut, wird sich bemühen, ihn in Zukunft zu vermeiden. Dies ist bei Wulff anscheinend nicht der Fall (Salamitaktik).

    @Andreas: Es ist möglich, Wulff zum Rücktritt aufzufordern – ob er dieser Aufforderung nachkommt oder ob er lieber ein Präsident ist, den niemand mehr ernst nimmt, entscheidet er selbst.

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  32. Sorry.

    Ist es denn überhaupt für einen Politiker oder eine Person die in der Öffentlichkeit steht möglich, öffentlich Fehler einzugestehen ohne das es als Zeichen von Schwäche gewertet wird?

    Politik ist ja schließlich ein Haifischbecken. Und nicht nur da.

    Bis jetzt haben solche Leute ja nur Fehler eingestanden, die sowieso schon öffentlich waren und gar keine andere Möglichkeit blieb.

    Aber es muss auch thematisiert werden, dass ein Normalbürger im Falle Helmuts Kohls z.B. in Beugehaft genommen werden würde.

    So reicht ein Ehrenwort. Dieses mit zweierlei Maß messen schadet mehr als alles Andere.

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  33. Mir gefällt am Punkt zwei der Gedanke, dass es notwendig ist, die Kontrolle über den weiteren Verlauf aus der Hand zu geben, indem man um Entschuldigung bittet. Das heißt aber auch, es bei sich ankommen zu lassen, wenn die anderen einen trotz des Fehlers gern weiter in einem Amt haben wollen. Ich denke, das war Käßmann nicht möglich. Also vielleicht fehlende Demut an einer anderen Stelle?

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