„Elitär motivierte Menschenfeindlichkeit“

Gute Argumente und Anregungen zur unsäglichen „Integrationsdebatte“, die mit den Polemiken von Thilo Sarrazin einen traurigen Höhepunkt erlebt hat, bietet dieses Buch. Dass Konflikte und soziale Spannungen, die neuerdings gerne unter dem Label „Kultur“ oder „Religion“ geführt werden, in Wirklichkeit von sozialem Ausschluss, von ungerechten Teilhabechancen und der Schere zwischen Arm und Reich her kommen, ist zwar nicht neu. Trotzdem gibt es nochmal neue Denkanstöße.

Zum Beispiel, dass es manchmal wirklich Kleinigkeiten sind, die schon einen falschen Dreh reinbringen. Wie bei jener Grundschullehrerin, die Herkunftsdifferenzen im Unterricht thematisieren möchte und ihre Schülerinnen und Schüler also auffordert, am nächsten Tag ein „in ihren Herkunftsländern typisches Frühstück“ mitzubringen. Das ist zwar gut gemeint, transportiert aber genau wieder jene falsche „Kulturalisierung“ von Differenzen, die die Wurzel des Übels darstellt: Die Kinder werden nicht in ihrer Individualität gesehen, sondern zu Repräsentantinnen und Repräsentanten einer Kultur gemacht. Wer sagt denn, dass in allen Familien, die irgendwann mal aus der Türkei eingewandert sind, „typisch Türkisch“ gegessen wird? Frühstücken denn etwa alle deutschen Familien dasselbe? Besser wäre es, zu fragen: „Was esst Ihr normalerweise zuhause zum Frühstück? Bringt das morgen mal mit.“ Auf diese Weise würden Unterschiede sichtbar und thematisiert, ohne gleich wieder Klischees zu produzieren.

Das Buch berichtet auch über aufschlussreiche Studien zum Thema. Wie ein Experiment, bei dem Teilnehmer_innen gebeten wurden, die ethnische Herkunft von Gesichtern zu bestimmen:  Personen in Anzug und Krawatte wurden dabei tendenziell „weißer“ eingeordnet, als Personen mit der Kleidung von Pförtnern oder Hausangestellten – obwohl es dieselben Gesichter waren. In anderen Studien wurden Kinder und Jugendliche über ihre Visionen und Zukunftspläne befragt: Mussten sie zunächst ihre Herkunft oder Hautfarbe nennen, zeigen sich deutlich größere soziale Unterschiede in ihren Wünschen, als wenn man sie vor der Befragung nicht daran erinnerte.

Aufgeräumt wird auch mit der Idee, dass Rassismus und vor allem Anti-Islamismus Phänomene seien, die besonders häufig in Unterschichts-Milieus anzutreffen seien – das Gegenteil ist der Fall. Es sind vor allem die Eliten, die selbst ernannten „Leistungsträger“, unter denen rassistische und islamophobe Einstellungen in den vergangenen Jahren zugenommen haben. Die Formulierung der „elitär motivierten Menschenfeindlichkeit“ trifft das Phänomen sehr gut.

Die Analysen werden ergänzt durch Reportagen an Orten, wo „Integrationskonflikte“ virulent sind, zum Beispiel in Berlin-Neukölln. Die Zusammenstellung wirkt manchmal ein bisschen willkürlich, manche Schilderung zieht sich auch in die Länge. Vielleicht wurde das Buch eher schnell zusammengestellt, damit die Aktualität des Themas nicht verloren geht. Obwohl das ja – leider – ohnehin nicht zu vermuten gewesen wäre.

Eva Maria Bachinger, Martin Schenk: Die Integrationslüge. Antworten in einer hysterisch geführten Auseinandersetzung. Deuticke, 207 Seiten, 2012, 17,90 Euro.

Ich bin Journalistin und Politologin, Jahrgang 1964, und lebe in Frankfurt am Main.

19 Gedanken zu “„Elitär motivierte Menschenfeindlichkeit“

  1. Ich werde nach dem Buch Ausschau halten.

    Wer sagt denn, dass in allen Familien, die irgendwann mal aus der Türkei eingewandert sind, „typisch Türkisch“ gegessen wird?

    Manchmal wird auch kurdisch geredet…

    Von der Studie mit den Gesichtern, die unterschiedlich einsortiert werden, habe ich auch gehört, und davon, wie die eigene Einschätzung in der augenblicklichen Situation – etwa dadurch, dass man gerade daran erinnert wurde, dass man zu einer bestimmten Gruppe gehört – bestimmt, wie man sich selbst einschätzt. (In Auszügen aus dem neuen Buch von Cornelia Fine, von dem du bestimmt auch gehört hast.) 00

    Die Grundschullehrerin, die die Kinder bittet, landestypisches Frühstück mitzubringen – gut gemeint, und am Ende wird statt Kultur Klischees vermittelt. Ich frage mich, ob die Grundschullehrerinnen da das in die Tat umsetzen, was sie unreflektiert aus ihrer eigenen Sozialisation mitbringen, oder ob sie solche Aktionen an der Uni lernen.

    „Elitär orientierte Leistungsträger“: ich denke immer mehr, dass es vor allem solche Menschen sind, die Angst um ihre Position haben, die wissen, dass es mit ihrer Leistung nicht viel zu tun haben. Menschen, die wissen, dass sie oder ihre Kinder in eine Situation hineingeboren wurden, wo sie genügend Bildung aufschnappen, um locker eine Gymnasialempfehlung zu bekommen, vielleicht einfach nur, weil sie den richtigen „Habitus“ haben – die aber dann doch merken, dass Fleiß und Intelligenz nicht ausreichen.

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  2. „Die Kinder werden nicht in ihrer Individualität gesehen, sondern zu Repräsentantinnen und Repräsentanten einer Kultur gemacht.“

    Ja, was wahrgenommene Unterschiede verstärkt statt sie zu lockern. 😦

    Vielleicht ließen sich ja Betrachtungsweisen aus deinem letzten Beitrag zur Geschlechterdifferenz übertragen? So ungefähr „Niemand kann sich seinem kulturellen Hintergrund entziehen, aber es kann keine klaren und engen Schubladen geben. Die intrakulturelle Differenz muss vor der interkulturellen wahrgenommen werden“?

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  3. Die Diskussion ist viel zu oberflächlich, durch Prof. Dr. Hans Peter Dürr der mit 800 Studenten aus verschiedensten Ländern gesprochen hat, ist mir bewusst geworden, es geht um die Geschichten, die wir uns erzählen, Geschichten aus unseren eigenen Erfahrungen. Was in vielen Büchern passiert ist nur die Beurteilung, doch nicht die Erfahrung mit Menschen. Wenn eine Lehrerin so regiert, dass sie wissen möchte, was die Menschen frühstücken, so kann man daraus keine gültige Analyse erbringen, wie sie mit den Menschen umgeht, welche Erfahrungen sie mit Menschen aus anderen Kulturkreisen gemacht hat, und ob sie gemeinsame Schlüssel gefunden hat. Diskussionen, die meinen die wüssten das, dienen sowieso nur zur Polarisierung, wie eben Sarrazin auch. Wer mit Menschen aus anderen Kulturkreisen um geht, der weiß das einfach, und versucht, den anderen in seiner Eigenart zu verstehen. Doch wir sind häufig „Kümmerer“ und verkümmern dabei, ohne uns z.B. Gedanken zu machen, dass 25.000 Japaner in Dusseldorf ohne Integration sehr gut mit sich zu Rande kommen.
    Die Integration bisher hat bei uns bewirkt, das viele Türken z.B. halb Deutsch gelernt haben, um dann ihren Kindern zuhause dieses Kauderwelsch zu vermitteln, und diese Kinder keine Chance haben zweisprachig sauber aufzuwachsen. Integration heißt erst einmal ich akzeptiere das wie der andere lebt, um dann auf Augenhöhe ins Gespräch zu kommen. Doch davon sind viele noch weit entfernt, weil da Neid und Konkurrenz herrscht, weil Türken z.B. in Deutschland besser informiert sind als Deutsche, weil sie untereinander solidarischer sind, bei Hochzeiten, zu denen ich eingeladen wurde, waren manchmal 1200 Gäste anwesend, die sich z.g.T. persönlich kennen, oder und miteinander verwandt sind.

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  4. ein „in ihren Herkunftsländern typisches Frühstück“ mitzubringen. Das ist zwar gut gemeint, transportiert aber genau wieder jene falsche „Kulturalisierung“ von Differenzen, die die Wurzel des Übels darstellt: Die Kinder werden nicht in ihrer Individualität gesehen, sondern zu Repräsentantinnen und Repräsentanten einer Kultur gemacht.

    was genau ist den „eine kultur“? es ist ein ansammlung von mehrheitlichem, typischem – es sind klischees. für bayern sind weißwürste typisch und kultur, und trotzdem weiß jeder, dass nicht jeder bayer weißwürste isst und man keine weißwürste essen muss, um bayer zu sein.

    wenn man eine kultur betrachten will, geht es nicht um individuen. und diese betrachtung muss erlaubt sein. ohne sie ist eine bezugnahme auf individualtät gar nicht möglich.

    Wer sagt denn, dass in allen Familien, die irgendwann mal aus der Türkei eingewandert sind, „typisch Türkisch“ gegessen wird?

    niemand sagt das. deine frage ist ein strohmann.

    Besser wäre es, zu fragen: „Was esst Ihr normalerweise zuhause zum Frühstück?“

    das ist doch völlig uninteressant, weil man alles mögliche essen kann. niemand gewinnt eine erkenntnis über türkische, deutsche oder italienische esskultur, wenn man bei der betrachtung eines individdums feststellt, dass es etwas ganz untypisches frühstückt.

    Auf diese Weise würden Unterschiede sichtbar und thematisiert, ohne gleich wieder Klischees zu produzieren.

    wenn es da unterschiede gibt, dann werden sie zum einem großen teil kulturell und nicht individuell bedingt sein. die annahme, man könne diese unterschiede nun bei einem „nur“ familientypischen frühstück losgelöst von landesüblichen gebräuchen betrachten, ist doch naiv. wenn ein türkisches kind nutellabrötchen isst, ist das auch kultur und klischee.

    klischees gibt es, sie sind nicht grundsätzlich schädlich. das sollte man kindern vermitteln. dann stellen sie vielleicht später nicht solche fragen wie oben.

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  5. @Host_Sabine: „und trotzdem weiß jeder, dass nicht jeder bayer weißwürste isst und man keine weißwürste essen muss, um bayer zu sein.“

    Wenn das wirklich jedem immer bewusst und in Fleisch und Blut übergegangen wäre, dann gäbe es keinerlei Grund für derartige Forschung und Diskussionen. Das hätten ich wohl gerne. :-/

    „was genau ist den “eine kultur”? es ist ein ansammlung von mehrheitlichem, typischem – es sind klischees“ // „niemand gewinnt eine erkenntnis über türkische, deutsche oder italienische esskultur, wenn man bei der betrachtung eines individdums feststellt, dass es etwas ganz untypisches frühstückt.“

    Was, wenn die Statistik sagt, dass das Klischee in der Wirklichkeit absolut untypisch ist? Das macht für mich die Gefährlichkeit eines Klischees aus – es erhebt nach deiner Lesart den Anspruch, höchstwahrscheinlich auf das Individuum zuzutreffen. Aber beispielsweise sind nur ca. 10% aller Iren rothaarig, auch wenn sie dem Klischee nach grundsätzlich so dargestellt werden.

    Und woher soll eine türkische Familie auch wissen, was in der Türkei mehrheitlich gegessen wird? Ich weiß auch nicht, was in Deutschland mehrheitlich gefrühstückt wird oder was kulturhistorisch ein verbreitetes deutsches (bayrisches? pommersches? sächsisches? hessisches?) Frühstück sein soll. Da *kann* eine einzelne Familie nun mal nur auf sich selbst gucken.

    Genau das macht mir das Suchen nach interkulturellen Differenzen in *allen* Bereichen eben so grundsätzlich suspekt. Wenn man Unterschiede nicht gerade absichtlich übersieht, machen sie sich von selbst bemerkbar. Aber man muss sie nicht noch herbeireden und grundsätzlich Unterschiede annehmen, wo keine wesentlichen sind.

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  6. Okay, ich kann jetzt noch grundsätzlicher hinschauen als am Morgen. Was hinter der Grundschullehrerin mit dem interkulturellen Frühstück steckt, ist doch die Meinung, dass sich alle Menschen schön in Kulturen einteilen lassen, dass diese Kulturen eindeutig sind und es keine Mischungen und Abweichungen innerhalb der Kultur gibt, und auch keine Veränderungen im Laufe der Zeit und kein gegenseitiges Lernen – all das, was Kultur im positiven Sinn ausmacht. Was die Lehrerin im Beispiel versucht, ist, den Kindern diese abgegrenzten Traditionen beizubringen, und damit dann auch gleich die als selbstverständlich vorausgesetzte Position, die dazugehört: Dass jeder Mensch zu genau einer solchen Tradition gehört.

    Das ist eine sehr alte Position – im Prinzip die Position der Völkischen im neuen Gewand. Dadurch, dass sie jetzt mit Neugier auf und Respekt vor anderen Kulturen verbunden wird, scheint sie annehmbar zu werden, aber sie ist es trotzdem nicht, weil diese Einteilung nicht passt.

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  7. Wenn das wirklich jedem immer bewusst und in Fleisch und Blut übergegangen wäre, dann gäbe es keinerlei Grund für derartige Forschung und Diskussionen.

    wenn es dahingehende forschung gibt, dann können wir uns ja einfach die ergebnisse anschauen und feststellen, wer tatsächlich glaubt, dass klischees auf alle zutreffen.

    Was, wenn die Statistik sagt, dass das Klischee in der Wirklichkeit absolut untypisch ist?

    dann zitier diese statistik.

    Das macht für mich die Gefährlichkeit eines Klischees aus – es erhebt nach deiner Lesart den Anspruch, höchstwahrscheinlich auf das Individuum zuzutreffen.

    diesen anspruch erhebt nicht „das klischee“, sondern nur die, die nicht in der lage sind, klischees als das zu sehen, was sie sind, und diejenigen, die das anderen unterstellen.
    im übrigen habe ich ganz deutlich ausgeführt, dass ich in keinster weise der ansicht bin, klischees würden auf „das individuum“ zutreffen, du erinnerst an die weißwurst? das kannst du bitte noch mal oben nachlesen. falls du dann immer noch der ansicht bist, meine lesart würde dies implizieren, dann erkläre ich es gern noch mal ausführlicher.

    Aber beispielsweise sind nur ca. 10% aller Iren rothaarig, auch wenn sie dem Klischee nach grundsätzlich so dargestellt werden.

    gutes beispiel, vielen dank. so funktioniert das nämlich: eine behauptung, was angeblich „getan wird“ steht ohne jeden beweis im raum und dient als beleg für die eigenen vermutungen über die welt. und genau das – der glaube, etwas wäre genauso, wie du das z.b. hier behauptest – ist ein klischee. hier das klischee, wie iren „dargestellt werden“. das nennt sich strohmann.

    Und woher soll eine türkische Familie auch wissen, was in der Türkei mehrheitlich gegessen wird?

    tja, woher wohl??? das ist ja eine kaum zu erlangende information, wenn man bedenkt, dass frühstück schärfster geheimhaltung unterliegt. niemand redet drüber, alle frühstücken völlig inkognito, nicht mal unter familienmitgliedern, freunden, verwandten, mitschülern, in restaurants, im lebensmittelhandel oder in kulturellen überlieferungen ist jemals von frühstück in der türkei die rede gewesen. schlimme sache.

    Ich weiß auch nicht, was in Deutschland mehrheitlich gefrühstückt wird

    ahja, und weil du das nun nicht weißt, kann es niemand wissen? interessant. dann wird der nächste satz auch in deiner welt logisch:

    Da *kann* eine einzelne Familie nun mal nur auf sich selbst gucken.

    Ich weiß auch nicht, was in Deutschland mehrheitlich gefrühstückt wird

    du hast also noch nie darüber kommuniziert, was andere leute so essen, was es beim bäcker gibt und wann das verzehrt wird, was es restaurants zum frühstück gibt, was deine freunde essen, deine kollegen, deine bekannten, du kennst keine speisekarten in frühstückslokalen, keine frühstücksprodukte, weißt nicht, was man zu anderen mahzeiten isst. es würde dich nicht überraschen, zum frühstück eingeladen zu werden und eine schöne kartoffelsuppe mit würstchen angeboten zu bekommen und dazu ein bier.

    dann lies doch das hier mal:
    http://www.amazon.de/Die-besten-Ideen-Fr%C3%BChst%C3%BCck-Brunch/dp/3809426784/ref=sr_1_5?ie=UTF8&qid=1334439526&sr=8-5

    jetzt wirst du mir sicher erläutern, dass manche individuen zum frühstück grillen, mittags gar nichts essen und abends kaffee & kuchen. klar, das gibts. und was genau besagt das? setzt es die tatsache außer kraft, dass es in deutschland und in anderen ländern traditionen und esskulturen gibt, bestimmte lebensmittel und speisen zu bestimmten tagszeiten und in bestimmter form einzunehmen?

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  8. Der Punkt ist doch, dass eine statistische Aussage (Die Deutschen frühstücken im Durchschnitt das und das) absolut nichts darüber aussage, was eine bestimmte Deutsche frühstückt. Und das ist es, was die Lehrerin aus dem Beispiel verwechselt hat.

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  9. du interpretierst es als verwechslung.
    vielleicht wollte sie gar nicht thematisieren, was bestimmte personen frühstücken, sondern was durchschnittlich in anderen ländern gefrühstückt wird, ob das die einzelen tun, oder ob sie etwas anderes essen. denn wenn das traditionelle frühstück nicht bekannt ist, kann man auch keinen bezug dazu herstellen, dass einzelne etwas anderes frühstücken und warum. wenn nur betrachtet wird, was einzelne frühstücken, ist die information nicht in relationen zu setzen, unerheblich und beliebig.

    nehmen wir an, ich fahre nach italien in den urlaub. dann interessiert es mich nicht, was jemand beliebiges frühstückt, denn das kann alles mögliche, beliebige sein. ich möchte wissen, was in italien üblicherweise gefrühstückt wird. und da ich weiß, dass nicht jeder diese italienische frühstück zu sich nimmt, ist es auch nicht besonders interessant, was jemand bestimmtes in italien isst. das hat keinen informationswert. ich kann von einem einzelnen esser nicht auf italienisches essen schließen und von italienischem essen nicht auf jeden einzelnen italiener.

    spätestens sein popper sollte das bekannt sein. man kommt aber auch leicht selbst drauf.

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  10. @host_sabine:

    Erst mal: Nix Strohmann, ich beziehe mich da ganz auf dich, aber korrigier mich bitte, wenn ich da falsch liege. Nochmaliges Zitat:

    „niemand gewinnt eine erkenntnis über türkische, deutsche oder italienische esskultur, wenn man bei der betrachtung eines individdums feststellt, dass es etwas ganz untypisches frühstückt.“

    Meinem Eindruck nach setzt du hier doch sehr deutlich die Existenz des typischen, d.h. mehrheitlichen Verhaltens als legitime Grundlage für ein Klischee voraus – und beschreibst das individuelle Verhalten dann als untypisch. Und damit etwas als untypisch gelten kann, muss ja wohl eine gewisse Erwartungshaltung vorliegen, oder?
    (Nebenbei ist das für mich ein Zirkelschluss: Weil jemand durch sein Verhalten der Typisierung nicht dienlich ist, verhält er sich untypisch?)

    Inwieweit hilft mir ein komplettes Buch mit verschiedenen Gerichten oder die verschiedenen Erfahrungen aus meinem persönlichen Umfeld dabei, *das* typische Gericht zu finden? Das ist doch eher ein Argument für meine Sicht, dass eine klischeegerechte Reduktion nicht möglich ist. Denn ja, natürlich kann ich Leute fragen, was sie frühstücken, und mich darüber austauschen, Speisekarten lesen und vieles mehr. Aber erstens höre, lese und sehe ich dabei so viel unterschiedliches (herzhaft? süß? Brötchen? Vollkornschnitte? Müsli? Cornflakes? Ei? Rührei? Kaffee? Tee? Saft?), dass ich einfach nicht von *einer* typischen Mahlzeit sprechen kann, und selbst wenn es ständig wiederkehrende Elemente gäbe, wäre es nur meine ganz persönliche Statistik, und als solche vielleicht nicht unbedingt aussagekräftig für die gesamte Kulturnation, der ich angeblich angehöre.

    Und was das Klischee der rothaarigen Iren angeht: Such z.B. mal auf Google mit „irish hair“ nach Bildern und schau dir die ersten paar Treffer an. Ich gebe aber gern sofort zu, dass auch das keine brauchbare Statistik darüber ist, wie viele Leute *ernsthaft* annehmen, dass die irische Haarfarbe mehrheitlich rot ist – da würde sich vielleicht tatsächlich mal ’ne Umfrage lohnen. 🙂

    Noch interessanter als Umfragen sind aber Experimente, wie ich finde. Und die von Antje aus dem Buch erwähnten (z.B. wie ‚weiß‘ jemand wirkt in Abhängigkeit der Kleidung) sprechen für mich eine deutliche Sprache. Und wie ich bereits sagte: Alles hängt davon ab, wie sehr einem das Wissen über die mangelnde Reichweite von Klischees in Fleisch und Blut übergegangen ist. Es geht doch gar nicht so sehr um reflektierte Meinungen – wenn ich jemanden deutlich frage, was er bei Verstand über den Wahrheitsgehalt eines Klischees denkt, erhalte ich wahrscheinlich weniger beunruhigende Ergebnisse als wenn jemand OHNE eben genau nachzudenken Leute einsortiert – bzw. aussortiert.
    Klischees wirken eben gerade dann, wenn sie nicht bewusst als solche wahrgenommen werden. Ich stimme dir dahingehend völlig zu, dass Kindern frühzeitig der Umgang mit Klischees im Sinne ungeprüfter Aussagen beigebracht werden sollte. Nur: Haben derartige Klischees denn auch irgendeinen Nutzen, außer eben als Mittel zur Übung des kritischen Wahrnehmen der eigenen Wahrnehmungen? Als ernsthaftes Mittel oder gar als Ziel der Analyse von kulturellen Differenzen (wie bei einem ersten Kommentar beschrieben) scheinen sie mir jedenfalls nicht geeignet.

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  11. @Host_Sabine Wenn sie das hätte thematisieren wollen, dann wäre es aber eine falsche Methode gewesen, die Kinder damit zu beauftragen, das zu referieren. Weil die einzelnen Kinder eben NICHT ihre Kultur repräsentieren unbedingt. Man hätte dazu vielleicht Küchenchefs aus Hotels aus den verschiedenen Ländern einholen können usw. Oder man hätte Referate verteilen können, keine Ahnung. Die Verwechslung ist also schon seitens der Grundschullehrerin passiert, und das ist der Kritikpunkt des Buches: Es spricht nichts dagegen, sich über andere Kulturen zu informieren, wenn man darüber was wissen will. Es ist aber falsch, von allen, die zu dieser Kultur gehören, zu verlangen, dass sie einem das jetzt bitte mal erklären sollen. So nach dem Motto: Du bist doch Muslimin, wieso trinkst du Bier?

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  12. Ich kann Herrn Tigges nur zustimmen. Im Prinzip geht es ja nur um unsere eigenen Erfahrungen und die Geschichten, die wir darüber – teilweise nicht einmal wahrheitsgetreu – erzählen.

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  13. Selten stimme ich mit den hiesigen Beiträge überein, aber Ausnahmen bestätigen die Regel. Das Frühstücksbeispiel finde ich klasse und das Buch werde ich mir kaufen. Ich bin dankbar für jeden sinnvollen Beitrag zu dieser Thematik, zu sehr hat der Sarrazinwahnsinn um sich gegriffen, zu sehr hat er sich in den Köpfen festgesetzt. Viele Grüße, Cali

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  14. @alexander erben:

    „Aber erstens höre, lese und sehe ich dabei so viel unterschiedliches (herzhaft? süß? Brötchen? Vollkornschnitte? Müsli? Cornflakes? Ei? Rührei? Kaffee? Tee? Saft?“

    Dir könnte schon mal helfen, dass hier keine Erbsensuppe, Vla, Rootbier und Muscheln oder Steaks auftauchen.

    Es gibt sehr wohl „typisches“ Frühstück hier – und es gibt keinen Grund, nicht darüber zu reden, auch wenn *Du* tatsächlich Steckrübeneintopf oder Churros mit Schokolade (wohl kaum typisch spanisch, oder?) zum Frühstück isst – eben *un*typischerweise.

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  15. @Alexander Erben

    Meinem Eindruck nach setzt du hier doch sehr deutlich die Existenz des typischen, d.h. mehrheitlichen Verhaltens als legitime Grundlage für ein Klischee voraus – und beschreibst das individuelle Verhalten dann als untypisch.

    ich setze mehrheitliches verhalten voraus. aber nicht als grundlage für klischees. das mehrheitliche verhalten ist noch kein klischee, sonst wäre bereits das tragen von fußbekleidung in mitteleuropäischen breiten ein solches. dazu kannst du dich gern mal über die definition von klischee kundig machen:

    http://de.wikipedia.org/wiki/Klischee

    Weil jemand durch sein Verhalten der Typisierung nicht dienlich ist, verhält er sich untypisch?

    bei der kultur oder esskultur eines landes geht es gar nicht um typisierungen. das habe ich ausführlich erklärt. es geht also nicht darum festzustellen, alle italiner essen pizza und wer pizza isst, muss italiener sein. verstehst du? oder soll ich ausführlicher werden?

    Inwieweit hilft mir ein komplettes Buch mit verschiedenen Gerichten oder die verschiedenen Erfahrungen aus meinem persönlichen Umfeld dabei, *das* typische Gericht zu finden? Das ist doch eher ein Argument für meine Sicht, dass eine klischeegerechte Reduktion nicht möglich ist.

    es hilft dir zu begreifen, dass es mehr als EIN typisches gericht gibt, sondern einen ganzen kanon an typischen gerichten. das nennt man kategorie. in kategorien werden entitäten anhand bestimmter gemeinsamkeiten zusammengefasst.
    http://de.wikipedia.org/wiki/Kategorie:Fr%C3%BChst%C3%BCck

    @Antje Schrupp

    Es ist aber falsch, von allen, die zu dieser Kultur gehören, zu verlangen, dass sie einem das jetzt bitte mal erklären sollen.

    was genau ist daran falsch? wenn ich z.b. als berliner in bayern zum berliner pfannkuchen gefragt werde, halte ich das für durchaus legitim und würde nie drauf kommen, meine gesprächspartner an einen berliner bäcker zu verweisen.

    oder muss ich, wenn ich etwas über den islam erfahren will, einen islamwissenschaftler aufsuchen? darf ich keinen griechen zur schuldenkrise befragen oder zu griechischem essen? keinen amerkaner über baseball? warum darf ich dann das türkische kind über „sein“ frühstück befragen? laufe ich doch gefahr, dass es sich um typisches frühstück handelt und dann wäre es tabu. ich muss mich also immer an einen möglichst ausgewiesenen experten wenden, weil der einzelne nicht in der lage ist, über die kultur seines landes / herkunftslandes auskunft zu geben, sondern nur über sein ganz individuelles befinden? dann darf ich auch nicht über deutschland und deutsches frühstück reden, sondern ausschließlich über mein frühstück? etwas absurd, oder?

    So nach dem Motto: Du bist doch Muslimin, wieso trinkst du Bier?

    du merkst aber schon, das du schon wieder individuelle gewohnheiten mit den traditionen eines landes verwechselst? erst sollen die kinder nicht über die (frühstücks)kultur befragt werden, sondern über ihr individuelles frühstück und nun darf man auch nicht mehr nach individuellem verhalten fragen? ich glaube, du solltest nochmal auf den punkt bringen, was du eigentlich kritisierst.

    ganz nebenbei halte ich auch fragen nach persönlichem verhalten für legitim. ich DARF z.b. einen erklärten vegetarier fragen, warum er fleisch isst, so es denn tut, oder eine muslima, warum sie kopftuch trägt oder nicht.

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  16. @host_sabine: Ich glaube, mir war und ist durchaus bewusst, was ein Klischee ist, vielen Dank. 🙂 Nur wieso sagtest du dann aber selbst zunächst:
    „was genau ist den “eine kultur”? es ist ein ansammlung von mehrheitlichem, typischem – es sind klischees.“ Oder war das mit der „einen Kultur“ in Anführungszeichen ironisch gemeint? Sorry, auf schriftlichem Wege habe ich oft Schwierigkeiten, das zu lesen. 🙂 Jedenfalls: Wenn du einen grundlegenden Zusammenhang zwischen tatsächlich mehrheitlichem Sachverhalt und der Bildung eines Klischees absolut nicht als zwingend ansiehst, teile ich diese Meinung natürlich.

    Und ja, wenn ich einen möglichst fundierten Überblick vom Islam erhalten möchte, halte ich mich an Forschungsergebnisse aus der Islamwissenschaft. Wenn ich die Sichtweise eines einzelnen zum Islam wissen möchte – dann frage ich den persönlich. Diese beiden Ebenen zu vermischen halte ich für problematisch, aber:
    Natürlich sehe ich ein, dass es wiederum völliger Quatsch wäre, es komplett zu trennen und niemanden nach seinen Eindrücken zu fragen, nur weil es nicht wissenschaftlichen Kriterien genügt, da stimme ich dir völlig zu. Aber dann sollte eben immer bewusst bleiben, dass der Gehalt dieser Eindrücke nun mal ein rein subjektiver ist. Und dass eine Vervielfältigung subjektiver Eindrücke durch Hörensagen / Essays / Facebookposts und andere Befindlichkeitsäußerungen ohne jeden Beleg zur Bildung und Verbreitung von Vorurteilen (oder Klischees) führen kann, die Teil der Wahrnehmung werden und zu Problemen führen wie im Buch beschrieben (um immer mal wieder zu Antjes Ausgangsthema zurückzukommen).

    Vielleicht können wir uns ja drauf einigen, dass die Lehrerin am besten hätte sagen können: „Bring uns doch mal etwas mit, was *aus eurer Sicht* ein typisches Frühstück in eurem Herkunftsland ist?“ 🙂

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  17. Aber dann sollte eben immer bewusst bleiben, dass der Gehalt dieser Eindrücke nun mal ein rein subjektiver ist.

    genau das habe ich auch gesagt:
    „wenn nur betrachtet wird, was einzelne frühstücken, ist die information nicht in relationen zu setzen, unerheblich und beliebig.“

    scheint so, dass wir uns doch relativ einig sind.

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  18. Ich würde in der Angelegenheit der vieldiskutierten Grundschullehrerin gern einen anderen Aspekt ansprechen. Ich halte die Bitte an die Kinder, landestypische Nahrungsmittel mitzubringen, nicht für falsch und ich würde es gern mit einer Analogie begründen:

    Wenn sich in einer Großstadt fünf benachbarte Gemeinden zu einem ökumenischen Gottesdienst zusammenfinden, sind sie sich ihrer Gemeinsamkeiten und ihrer Unterschiede bewusst. Jede Gemeinde wird meist darum gebeten, ein typisches Lied, ein Gebet, eine Fürbitte (oder etwas anderes) beizusteuern.

    Die Teilnehmenden identifizieren sich in den seltensten Fällen zu 100% mit der reinen Lehre ihrer jeweiligen Kirche, oft gibt es ja gar keine strengen Lehrmeinungen mehr. Trotzdem treten sie in dem ökumenischen Gottesdienst als Repräsentanten ihrer Gemeinden auf.

    In einem ökumenischen Gottesdienst wird niemand »vorgeführt« und die einladende Gemeinde hegt auch keine elitäre Gedanken. Es geht einmal im Jahr um die Pflege des Gedankens der Ökumene (ich muss es in diesem Kreis wohl nicht erklären).

    Genauso sehe ich das auch bei einem interkulturellen Frühstück: Wir haben die Gemeinsamkeit, dass wir alle Menschen sind. Wir haben unterschiedliche kulturelle und nationale Prägungen. Niemand ist besser als der andere. Jeder hat einen Aspekt des Menschseins beizusteuern.

    Ich bekomme die Überschrift dieses Artikels (elitär motivierte Menschenfeindlichkeit) einfach nicht in einen Zusammenhang mit dem gemeinsamen Essen und Trinken einer Grundschulklasse, sofern es nach fairen Regeln abläuft. Elitär motivierte Menschenfeindlichkeit läge für mich vor, wenn die Grundschullehrerin kein anderes Essen neben dem deutschen gelten ließe und das Essen aus anderen Kulturkreisen herabwürdigte.

    Ich bin gegen elitär motivierte Menschenfeindlichkeit. Ich gebe gerade deshalb zu bedenken, dass schon viel gewonnen wäre, wenn alle Lehrer in allen Schulen mit der Einstellung der oben beschriebenen Grundschullehrerin arbeiten würden. Wenn sie diesen Artikel lesen könnte, wäre sie vielleicht völlig vor den Kopf gestoßen. Ich könnte das verstehen …

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