Souveränin sein: Hildegard von Bingen

Übermorgen, am 7. Oktober, wird Hildegard von Bingen vom Papst offiziell zur Kirchenlehrerin ernannt. Kein Grund, ein großes Bohei zu machen, denn in Wirklichkeit war sie natürlich schon immer eine Kirchenlehrerin, schön, dass der Papst das jetzt auch merkt. Aber ich nehme es mal als Anlass, um einen Abschnitt aus dem Artikel „Souveräninnen“ von Annarosa Buttarelli hier in den Blog zu stellen, in dem sie sich mit dem Konzept der Souveränität bei Hildegard von Bingen beschäftigt. Sozusagen, um ein bisschen Inhalt zu dem Bohei dazu zu tun 🙂 

Hildegard von Bingen empfängt eine göttliche Inspiration und gibt sie an ihren Schreiber weiter. Miniatur aus dem Rupertsberger Codex des Liber Scivias. Quelle: Wikipedia.

„Souveränin zu sein bedeutet, die Verantwortung der eigenen Position zu akzeptieren, denken und handeln zu können, indem man über dem historischen Gesetz der Männer und seiner Konstruktionen steht.

Hildegard von Bingen praktizierte diese Verantwortung als Überlegenheit der kosmologischen Weisheit.

Hildegard von Bingen (1098-1179) hatte politische Beziehungen zu Fürsten, die sie beriet und denen sie nicht selten Anweisungen gab.

Es wäre nutzbringend, die politische Geschichte der großen Äbtissin vom Standpunkt des Buches Frei zu existieren. Weibliche Konstruktion von Zivilisation im europäischen Mittelalter erneut zu lesen, ein wertvoller Band, den die Historikerinnengruppe des Mailänder Frauenbuchladens verfasst hat.

Darin findet sich eine sehr bedeutsame Episode über die Konzeption der Souveränität bei Hildegard von Bingen.

Hildegard widersetzt sich dem Befehl eines Bischofs, den Körper eines jungen Edelmannes, der im Konvent der Äbtissin begraben liegt, zu exhumieren, damit man ihn post-mortem bestrafen kann.

Es kommt nicht darauf an, die ganze Geschichte zu kennen, wichtig ist, zu wissen, dass Widerspruch gegen den Willen der Bischöfe zur damaligen Zeit etwas sehr Schwerwiegendes war. Ihren Widerspruch gegen den Befehl begründete die Äbtissin nicht mit dem banalen Appell an das Recht zur Jurisdiktion in ihrem eigenen Konvent und auch nicht mit einem Appell an die Schicklichkeit oder an den allgemeinen Respekt gegenüber Orten des Kultes.

Hildegard ruft vielmehr »die höhere kosmologische Weisheit« an, wonach es schwere Unordnung im Kosmos verursachen würde, wenn dieser Edelmann exhumiert, ausgesetzt, sein Körper geschändet wird. In einem Kosmos, dessen wachsame Hüterin sie sich nennt.

Sicher haben wir einigen Grund, hier eine Analogie zu Antigone zu sehen, die nach dem Text des Sophokles wegen ihres souveränen und hoheitlichen Gestus im Bezug auf den unbegrabenen Leichnam ihres Bruders bestraft wird.

Ein anderer Aspekt, den wir aus dem Beispiel der Geschichte von Hildegard ziehen können, ist, dass die aus weiblicher Wurzel stammende Souveränität keine Hierarchien braucht, um ausgeübt zu werden. Das ist der Kern dessen, worum es bei der Abneigung gegenüber der Entscheidung, wenn sie als Teil einer Befehlskette verstanden wird, geht.

Der unerlässliche Dreh- und Angelpunkt für die weibliche sexuelle Differenz ist, dass sie nicht der Hierarchie bedarf, um etwas zu tun, während es für denjenigen, der Befehle liebt, notwendig ist, zu demonstrieren, dass das Entscheiden sein Vorrecht ist. Er braucht die hierarchische Kette, über die er die Entscheidung weiter reichen kann, bis sie die Ebene der Ausführung erreicht.

Befehlen, Entscheiden erfordert diese Form der Beziehung, es sieht vor, dass Beziehungen sich so organisieren, dass man sich zur Verfügung stellt, um Befehle entgegen zu nehmen, bis zu dem Punkt, wo der Befehl ausgeführt wird. Wenn das Entscheiden als Anzeichen von Befehlsgewalt verstanden wird, braucht es Ausführende, die der Fähigkeit zum Entscheiden beraubt sind.

Ganz anders das semantische Gebiet, das ich rund um den Gestus des Herrschens angeordnet habe (Gebieterin, Hausherrin, königliche Position, ich weise auf das Königtum spiritueller Natur hin), immer vorausgesetzt, dass es in der historischen weiblichen Erfahrung verwurzelt ist.

Tatsächlich erfordert das Herrschen eine große Genauigkeit, aber vor allem verlangt es prophetische Fähigkeiten, die Fähigkeit, jene Teile der Realität zu lesen, die wir vor Augen haben, und die andere nicht sehen, es erfordert kosmologische Weisheit, das Bewusstsein von einer gerechten Ordnung der Verhältnisse, an der man teilhat oder eben nicht.

Das Bewusstsein von einer gerechten Ordnung der Verhältnisse zu haben bedeutet, sich in ihren Dienst zu stellen, in gewissem Sinne fähig zu sein, Autorität dort anzuerkennen, wo sie sich zeigt, und, wenn sie sich zeigt, die Existenz und die Kreativität eines Kosmos mit der nötigen Kompetenz zu behüten.“

Auszug aus: Annarosa Buttarelli: Souveräninnen. In: Diotima: Macht und Politik sind nicht dasselbe, Sulzbach 2012.

Ich bin Journalistin und Politologin, Jahrgang 1964, und lebe in Frankfurt am Main.

20 Gedanken zu “Souveränin sein: Hildegard von Bingen

  1. Ob die wohl wirklich geglaubt haben, dass es den Edelmann irgendwie noch juckt, wenn man seinen Leichnahm ausgräbt und „bestraft“?

    War das tatsächlich so?

    Sorry, das ist nicht zum Thema, aber es beeindruckt mich gerade mal wieder sehr, wie bescheuert Menschen/Machthaber sein können!

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  2. @claudia – ich glaube, die dachten ebenso „kosmologisch“ wie Hildegard, und es ging ihnen nicht um individuelle Bestrafung. Vermutlich können wir uns von heute aus gar nicht in diese mittelalterliche Weltsicht reindenken.

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  3. Die o.g. Beiträge machen deutlich, dass es Hildegard wohl nicht allein um kosmologische Zusammenhänge ging sondern (siehe o.g Beitrag – Teil 3):
    „Es ging auch um die Frage der geistlichen Macht. Wer sich in einem Klosterbezirk bestatten ließ, vertraute damit seine Seele der Fürbitte des Konvents an, und er hatte dafür, mit Geld und Immobilienbesitz bezahlt. Nicht zuletzt durch solche Vermächtnisse war Hildegards Kloster reich geworden. Sie hatte in diesem Fall einen Ruf zu verlieren, wenn es ihr nicht gelang, die ihr anvertrauten Toten zu schützen.“

    Jedenfalls genial, wie Hildegard v. Bingen „kraft der visionären und prophetischen Gabe und Rede“ sich und ihren Mitfrauen ein frei(eres), selbstbestimmteres Leben erkämpfte, indem sie die Kleriker, kirchl. Würdenträger und sonstige Patriarchen mit einer übergeordneten (kosmologischen, göttlichen) konfrontierte und “austrickste (!)”.
    Erinnert an das Bibelzitat: “Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen”.

    Da sich die Welt aber seit dem Mittelalter weitergedreht und für viele Menschen dieses Gehorsamsgebot gegenüber einem, wie auch immer gedachten, Gott keine Gültigkeit mehr hat, stellt sich die Frage, welcher visionären und prophetischen Gaben und Reden bedürfen wir heute, damit Mensch aus seiner, auch selbstverschuldeten, Unmündigkeit herausfindet?

    @Antje , mir kommt dabei “ Die Freiheit der Frauen und das gute Leben aller” in den Sinn, worüber Du und andere ja immer wieder schreiben und sprechen. Sehe darin auch so etwas wie visionäres, prophetisches Reden, welches sich u.a. in der Idee und dem Engagement für ein Grundeinkommen für alle konkretisiert.

    Zum “…semantische Gebiet das ich rund um den Gestus des Herrschens angeordnet habe (Gebieterin, Hausherrin, königliche Position, ich weise auf das Königtum spiritueller Natur hin), immer vorausgesetzt, dass es in der historischen weiblichen Erfahrung verwurzelt ist.”. Wieso braucht es da noch des irreführenden Wortbegriffs „Herrschen“?

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  4. @Ute – „Wieso braucht es da noch des irreführenden Wortbegriffs “Herrschen”?“ Das war eigentlich ein Problem bei der Übersetzung, das italienische Wort an dieser Stelle ist „regere“, also das Verb zu „regina“, Königin. Wenn man es vom Sinn her übersetzen wollte, würde es „königinieren“ (als Tätigkeit) sein. Aber das Wort gibt es im Deutschen leider nicht. „Regieren“ wäre die wörtliche Übertragung, aber die klingt zu sehr an die Institution „Regierung“ an (und das italienische Wort dafür wäre auch „governare“), und da bleibt leider nur „herrschen“, jedenfalls ist mir nichts besseres eingefallen. Gemeint ist eben dieses: „Die Verantwortung für eine Situation übernehmen und souverän darin handeln, ohne sich überkommenen „Das ist eben so“-Gesetzen unterzuordnen.“ Du hast ganz recht, das Wort „herrschen“ ist eigentlich nicht gut dafür, aber das sind eben so die Grenzen von Übersetzungen.

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  5. Antje – „königinieren“ als Tätigkeit im Sinne von „Die Verantwortung für eine Situation übernehmen und souverän darin handeln, ohne sich überkommenen “Das ist eben so”-Gesetzen unterzuordnen.” gefällt mir.
    Dafür wird der Papst nicht im Sinn haben, wenn er Hildegard v. Bingen
    den Status einer Kirchenlehrerin verleiht. 😀

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  6. Leider kommt mir das ziemlich geschönt vor. Ich bin weder Experte für feministische Geschichtsschreibung noch für Hildegard von Bingen, mir stellen sich aber folgende Fragen:

    Sie beruft sich auf die überlegene, höhere Weisheit. Keine Hierarchie?

    Sie stammte aus dem Adel, und war als Mitglied (in einer Leitungsfunktion) der Kirche Teil des herrschenden Systems, dass sich mWn vor allem an die Aristokratie wandte; kein Herrschen (oder regieren) über andere?

    Verstehe ich nicht so richtig. 😉

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  7. @Reineke – Ja, sich auf eine höhere Weisheit zu berufen, macht doch frei von „irdischen“ Hierarchien (Hierarchien bestehen zwischen höhergestellten und niedrigergestellten Menschen, nicht zwischen Mensch und Kosmos). Und: Auch wenn wir die irdischen Hierarchien nicht als Maßstab akzeptieren, stehen wir natürlich irgendwie da drin. Es ist nicht möglich, sich aus der Welt gänzlich auszuklinken, es sei denn, man würde Einsiedlerin, dann vielleicht. Aber dass man zwangsläufig auch selbst Macht hat (kein Mensch hat keine) bedeutet ja nicht, dass man sich auch der Logik der Macht entsprechend verhalten muss. Das ist jedenfalls die Grundthese aus diesem Diotima-Buch. Und entspricht auch meiner eigenen Erfahrung.

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  8. @Reinecke – kann deinen Einwand gut nachvollziehen. Im Fall der Hildegard v. Bingen finde ich es jedoch immer noch sehr klug, wie sie ihr gelungen ist mit der Berufung auf ‚höhere Weisheit‘ ihrem eigenen Begehren nach Freiheit und dem ihrer Mitschwestern Raum zu verschaffen. Ihre Form von Widerstand ist es, die mich fragen läßt, was wir heute davon noch lernen könnten?

    Zu recht kann aber auch kritisch auf Menschen und Gruppierungen verwiesen werden, die sich zur Durchsetzung ihrer Interessen (mit Gewalt und auf ‚Kosten anderer Menschen‘) auf höhere Weisheit, sprich göttliches Gebot berufen.
    Stichwort: Religiöse FundamentalistInnen oder gottgleich gestylte Führer.

    @Antje – wie könnte hier die ‚Gabe der Unterscheidung‘ aussehen, um Machtmißbrauch zu entlarven?

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  9. @Ute – Ich unterscheide es so: Mich auf eine „höhere Weisheit“ zu berufen, ist kein Argument im Diskurs mit anderen. Also ich kann nicht sagen: Ich halte mich hier an die Gesetze nicht, weil mich treibt eine höhere Weisheit an. Das ist sozusagen nur meine „innere“ Motivation, die Machthaber interessiert das normalerweise herzlich wenig. Das heißt: Ich muss die Verantwortung und die Konsequenzen meines Handelns tragen. Diskreditiert sind Fundamentalisten ja auch schon dadurch, dass ihre Führer zwar für sich selbst göttliche Inspiration beanspruchen, von den anderen (in der Hierarchie niedriger gestellten) Leuten aber verlangen, dass sie sich gerade nicht unmittelbar an „der höheren Weisheit“ orientieren sollen, sondern an ihnen, den (menschlichen, also irdischen) Führern. Ich finde, diese Unterscheidung ist eigentlich ganz leicht zu treffen.

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  10. @Antje – ja, verstehe ich gut, was du sagst. D.h. aber auch, dass Menschen tagtäglich und immer mehr interessiert sind zu lernen sich des eigenen Verstandes zu bedienen bzw. an der eigenen Einsichts- und Urteilsfähigkeit ‚arbeiten‘.
    Das braucht Zeit und Muße, und aus diesem Grunde plädiere ich ja auch für eine leistungsunabhängige und repressionsfreie Grundsicherung.:-D

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  11. Mir beginnt der Gedanke zu gefallen, Hildegard v. Bingens kosmische Weisheit zur Vision der bedingungslosen Grundeinkommens zu befragen!
    Diese dürfte sich vermutlich mit der Kritik am zerstörerischen Kapitalismus verbünden.;-)

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  12. @Ute: Ach, wenn doch alles Zerstörerische so kreativ und wohlfahrts- und freiheitsstiftend wäre wie der so gern gescholtene Kapitalismus 🙂

    @Antje: Gibt es eigentlich Untersuchungen über Wechselwirkungen zwischen der Transformation von Gesellschaftsformen und effektiver, nachhaltiger Gleichberechtigung von Mann und Frau? (Der Einschub „nachhaltig“ ist dem Umstand geschuldet, dass ich zwar formale Gleichberechtigung im real existierenden Sozialismus erleben durfte, diese aber keine sonderlich überzeugenden Effekte gezeitigt hat.)

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  13. @Reineke:

    „Sie beruft sich auf die überlegene, höhere Weisheit. Keine Hierarchie?“

    Der heutige Papst kann sie unter anderem deswegen so leicht zu Kirchenlehrerin ernennen, weil ihre überlegene, höhere Weisheit tatsächlich in allen wichtigen Fragen mit den damaligen Lehren des Papsttums komplett konform ging.

    Insofern muss man das wohl als eine Art glücklicher gegenseitiger Befruchtung ansehen – das Papsttum kann kaum visionär sein, und ohne Papsttum hätte Hildegard von Bingen keine Autorität gehabt.

    Solche „Zufälle“, dass das Visionäre gleichzeitig das machtpolitisch wünschenswerte war, haben sich zu damaliger Zeit ziemlich häufig ereignet – den damaligen Menschen galt die weltliche Ordnung halt immer noch als Abbild der göttlichen.

    Leute, die das Pech hatten, nicht konforme Visionen zu haben, hatten natürlich erheblich mehr Probleme, als nun gerade eine adlige Leiterin eines reichen Klosters, deren Familie erheblichen politischen Einfluss hatte.

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  14. @Andreas – welche „konformen Visionen“ meinst du?
    Die Beiträge, die ich im dlf-Radio hören konnte, sprechen da eher eine andere Sprache.

    Papst Ratzinger und Ratgeber dürften Hildegard v. Bingen sicherlich nicht wegen ihrer Eigenwilligkeit und Widerständigkeit in den Stand der ‚Kirchenlehrerin‘ erhoben
    haben. Vermutlich vollzieht der ‚römische Männerladen‘ nun das, was viele Unternehmen ja bereits für sich erkannt haben: Einhegung und Verwertung der ‚Humanresource Frau‘. 😉

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  15. @Marcus – Ich weiß nicht, ob es die gibt, ich kenne momentan keine. Ich würde mal denken, dass es schon einen Zusammenhang gibt, aber nicht so direkt. Man müsste sehr genau überlegen, welche Parameter man da anlegen will.

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  16. Der Beitrag von Andrea Günter zeigt, wie bedeutungsvoll und aktuell Hildegard v. Bingen für Frauen (und Männer) noch ist, da sie uns vor Augen hält, wie not-wendig es ist Träume und Visionen zu haben.

    Ich vermute, die Augen geöffnet haben Hildegard v. Bingen sicherlich auch die entsetzliche körperliche Zurichtung ihrer Lehrerin und Erzieherin Jutta v. Sponheim. (erinnert mich an die Selbstverletzungen von Mädchen und Frauen heute). Darüber dürfte ihr ‚ein Licht aufgegangen‘ sein, und so ’sehend geworden‘ begann sie wohl gegen fremdbestimmtes und eingesperrtes Leben aufzubegehren.
    Dass sie sich den vorherrschenden Verhältnissen und Obrigkeiten als Unwissende und Ungebildete darbot (was ja nicht stimmte), scheint mir eine kluge Taktik und auch List gewesen zu sein, um dadurch ihrer visionären Schau
    mehr Autorität und Glaubwürdigkeit zu verleihen. Bei dem Gedanken muss ich doch sehr schmunzeln, weil ich nicht davon ausgehe, dass der römische Klerus sie dafür in den Stand einer Kirchenlehrerin gehoben hat. 😀

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