Offene Orte, an denen alles gesagt werden kann, gibt es nicht

© silvae - Fotolia.com
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Was ich am Bloggen und den daraus entstehenden Diskussionen so besonders liebe ist, dass das mein Denken in Trab hält. Die Kommentardebatte über meinen vorvorgestrigen Post über Facebook und Zensur zum Beispiel hat seither in meinem Kopf gegärt. Und hat sich dabei verbunden mit einigen anderen Diskursen in der letzten Zeit, die sich ebenfalls um das Thema „Das wird man doch wohl noch sagen dürfen !!!!!“ drehten – die Debatten um rassistische Wörter in Kinderbüchern, um sexistische Bemerkungen gegenüber Frauen, um sarrazineske Gesellschaftsanalysen. Da hat sich ja so einiges angesammelt in der letzten Zeit, was man jetzt plötzlich angeblich nicht mehr sagen kann.

Aber halt! Natürlich darf man das alles sagen, man darf das N-Wort weiterhin sagen, sogar auf die Titelseiten großer Zeitungen schreiben, man darf  frauenverachtende Witze machen, sogar zur besten Sendezeit im Fernsehen, man darf über bestimmte Menschengruppen lästern und herziehen, zumindest in der eigenen Stammkneipe.

Das, was sich aber in der Tat verändert hat, ist, dass man das jetzt nicht mehr überall sagen kann. Zum Beispiel in diesem Blog nicht, weil da wird es weggelöscht. An anderen Orten kann man es sagen, zum Beispiel auf Twitter, aber man muss mit Konsequenzen rechnen – man kriegt Kritik, wird geblockt, muss damit rechnen, dass andere eine_n dann nicht mehr leiden können und das am Ende auch noch weitererzählen.

Diese Erfahrung, dass man nicht alles, was man meint, überall und konsequenzenfrei sagen kann, scheint manche zu überraschen. So sehr, dass sie dann „Zensur“ rufen. Aber ich sag euch was: Das ist ganz normal. Es gibt nämlich keine offenen Räume, in denen alle alles sagen können. Nie und nirgendwo gibt es die. Die Idee der absoluten Meinungsfreiheit ist eine Illusion, vergleichbar mit der Idee, es gäbe autonome Menschen.

In der wirklichen Welt existieren solche offenen Räume nicht, sondern jeder beliebige Ort, an dem ich mich aufhalte, jeder Blog, jede Plattform, jede Party, jeder Klassenraum, jedes Parlament und jeder Küchentisch ist ein geschlossener Raum mit mehr oder weniger eng gezogenen Grenzen. Ein Raum, in dem man bestimmte Dinge sagen kann – und andere nicht.

Je besser man im Mainstream des jeweiligen Raumes mitschwimmt, desto weniger bemerkt man das natürlich. Denn die eigenen Erfahrungen sind ja in der Regel so ähnlich wie die der meisten anderen auch, sie gelten als normal, sodass das meiste, was man meint, zum Spektrum dessen gehört, was in dem jeweiligen Raum gesagt werden darf. Je weniger man hingegen der jeweiligen Norm entspricht, desto häufiger erlebt man, dass die eigenen Erfahrungen und Perspektiven jetzt und hier nicht gesagt werden können.

Das hat in den seltensten Fällen etwas mit expliziten Verboten zu tun. Es hat noch nicht einmal etwas damit zu tun, dass man unangenehme Konsequenzen befürchten muss, auch wenn das schon öfter vorkommt. Noch viel häufiger ist es aber, dass das, was man gerne sagen würde, schlichtweg unvermittelbar ist, weil die anderen es nicht verstehen würden. Oder damit, dass es unhöflich wäre. Oder dass es die Beziehungen belasten würde, weil in dem Moment, wo ich etwas sage, was sich vollkommen außerhalb dessen bewegt, was hier und jetzt „sagbar“ ist, eine Differenz manifest wird, die vielleicht nicht mehr zurückgenommen werden kann (nicht nur von den anderen, sondern auch von mir nicht). Dass ich also meine Zugehörigkeit aufs Spiel setze.

Der Rahmen, der festlegt, was jeweils an einem Ort sagbar ist und was jeweils unsagbar ist, ist ein wesentlicher Aspekt der „symbolische Ordnung“. Ohne einen solchen Orientierungsrahmen wären menschliche Gemeinschaften nicht denkbar, denn man müsste ständig über alles verhandeln. Eine wesentliche Praxis des Feminismus ist daher die „Arbeit an der symbolischen Ordnung“, denn Dinge können nur verändert werden, wenn sie vorher überhaupt erst einmal denkbar und sagbar geworden sind.

Indem die Frauenbewegung den Separatismus als politische Praxis erfunden hat – also Orte schuf, zu denen keine Männer zugelassen waren – hat sie die herrschende symbolische Ordnung herausgefordert. Aber immerhin hat sie das transparent und offen gemacht: Es war klar, weshalb, und warum. Viel üblicher ist es, dass die Grenzen dessen, was jeweils erlaubt ist und was nicht, wer zugelassen ist und wer nicht sind, intransparent sind, dass sich diejenigen, die diese Räume definieren und dominieren, einbilden (und behaupten), diese Orte wären offen für alle. Das sind sie nicht, denn solche für alle offenen Orte gibt es nicht, es kann sie nicht geben.

Allerdings sind die Grenzen der jeweiligen Orte nicht in Stein gemeißelt, und symbolische Ordnungen sind veränderbar. Wie das geht, habe ich mal in einem anderen Blogpost aufgeschrieben. Worum es dabei geht ist die mühsame Arbeit der Vermittlung.

Worum es mir jetzt hier geht ist der Hinweis auf das, was sich gerade verändert, sowohl durch das Internet als auch durch einen wieder selbstbewusster werdenden Feminismus. Darin zeigt sich nämlich das Ende der alten patriarchalen symbolischen Ordnung. Und zwar nicht nur insofern der Inhalt dieser Ordnung (Männer sind mehr wert als Frauen) in Frage gestellt wird – also die Gleichstellung der Frauen eingefordert. Sondern es wird sichtbar, dass es nicht die eine symbolische Ordnung gibt, sondern dass viele nebeneinander bestehen. Und dass die eine auch nie wieder zurückkehren wird, sondern dass jetzt nicht nur diejenigen mit der Minderheitsmeinung, sondern auch diejenigen mit der Mehrheitsmeinung mit dieser Realität zurechtkommen müssen: dass sie eben nicht alles überall sagen können.

Wer in der Frauenbewegung aktiv ist, weiß das schon immer und kennt dieses Gefühl, etwa von einem feministischen Wochenende wieder zurück nach Hause zu kommen, den Fernseher einzuschalten, und dann erstmal den Schock überwinden zu müssen, was für ein unsägliches (haha) Zeug dort geredet wird. Vermutlich kennen auch andere Angehörige marginalisierter Gruppen dieses leichte Schwindelgefühl, das entsteht, wenn man sich in verschiedenen symbolischen Ordnungen bewegt, wenn sie zwischen „ihren Räumen“ und den „normalen Räumen“ hin- und herwechseln.

Das Internet gibt dem Ganzen aber noch einmal eine neue Dynamik, weil hier diese unterschiedlichen Räume mit ihren unterschiedlichen symbolischen Ordnungen zumindest teilweise der gesamten Öffentlichkeit zugänglich sind. Mit einem Klick ist man plötzlich auf einmal wo, wo die eigene Perspektive oder die eigene Erfahrung als total falsch und komplett gaga gilt. Auf diese Weise sind nun auch alle mit dieser schockierenden Tatsache konfrontiert, dass anderswo eben ganz andere Regeln gelten und ganz andere Dinge und Perspektiven für normal gehalten werden als die eigene. Und auch die „Normalen“ können ihre Meinung nun nicht mehr einfach behaupten, sondern müssen sich der mühsamen Anstrengung unterziehen, sie anderen zu vermitteln.

Tja, so ist das Leben, besser ihr gewöhnt euch dran.

Ich bin Journalistin und Politologin, Jahrgang 1964, und lebe in Frankfurt am Main.

14 Gedanken zu “Offene Orte, an denen alles gesagt werden kann, gibt es nicht

  1. In Bezug auf die Überschrift: Schonmal auf einem Bilderbrett gewesen? Da gibt es nämlich lustige Kadsenbilder, Leichenfotos, Politik, queere Pornos, rassistische Comics, Programmiersprachenstreits, leicht bekleidete Teenager und „Frage einen SPD-Ortsvorstand alles“ direkt nebeneinander.

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  2. Ja und nein. Ich stimme Ihnen zu, aber mir ist in der Konseqenz gerade nicht wohl. Twitters ziemlich einzigartige Kommunikationsstuktur basiert mehr auf Zuhören und Echo per Retweet als auf dem Dialog. Twitter ist (eigentlich) kein Chat. Respekt und Höflichkeit gegenüber denen, mit denen man spricht, sind Grundbedingungen eines Dialoges, nicht aber des Gezwitschers, das mit Anspielungen, Zitaten und Bekenntnissen aus allen Ecken arbeitet und sich an niemand konkreten wendet. Für mich ist das monologisches Gesamtkunstwerk. Wer sich gemeint und düpiert fühlt, darf den Entfolgen-Button drücken. Macht aber selten jemand, weil es derzeit mehr Befriedigung bringt, per Mention über die Grenze zu gehen und andere zu maßregeln. Da sind Grade in paar Kinder im Spiel, die gern auf zierlichen Sandburgen herumtrampeln, weil es ihnen wichtig ist, Aufmerksamkeit zu bekommen und Recht zu haben.
    Im Moment geht viel von dieser von mir sehr geschätzten Kommunikationsstruktur kaputt. Das finde ich schade.

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  3. Was ich spannend an den Diskussionen im Netz finde ist die Gelegenheit in kürzester Zeit mich in unterschiedlichen Räumen bewegen zu können. Als Gemeindepfarrer habe ich zwar sehr oht auch die Gelegenheit die verschiedensten Menungen, Ansichten und Erfahrungen erzählt zu bekommen, aber die virtuellen Möglichkeiten toppen das noch einmal. Besonders interessant finde ich dabei dann immer wieder, dass die Online-Kontakte immer wieder auch mal zu realen Begegnungen führen wollen und dann auch führen. Heute hab ich in einem Blog die These gelesen, auch der regelmäßige Twitter-Kontakt könne untereinander zu Heimatgefühlen führen. Ja.

    Im Bick auf den Satz „Das wird man ja mal sagen dürfen!“ bin ich etwas zurückhaltender. Abfällige, persönlichkeitsverletzende Äußerungen darf man nicht sagen. Gut, es geschieht jeden Tag immer wieder, aber es ist nicht in Ordnung, simpel gesagt: „Es gehört sich nicht!“. Da beschleicht mich manchmal das Gefühl, dass die relative leicht anonym mögliche Diskussion im Netz dazu geführt hat, dass Menschen sich auch face-to-face heute mehr Sachen um die Ohren hauen als früher. Ich glaube auch eher, dass hinter so einem Satz wie „Das wird man ja mal sagen dürfen!“ eher ein tiefes Minderwertigkeitsgefühl, ein Ncht-gesehen-werden steckt und weniger der Wunsch auf „freie Meinungsäußerung“.

    Dennoch: Ich habe ich auch schon in der „realen“ Welt Menschen das Wort in Veranstaltungen entzogen, wenn sie sich im Ton gegen andere (z.B. gegenüber muslimischen Mitbürger/innen) vergriffen haben. „Diktator“ oder Gutsherr“ schallte es dann zurück. Tja. „Offene Orte, an denen alles gesagt werden kann, gibt es nicht.“

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  4. Es gibt Grenzen im Leben. Für mich gibt es erst mal keinen Unterschied zwischen realem und virtuellem „Leben“. Weil ich wenn ich hier Depp schreibe ich der gleiche gleiche Mensch bin der in Life auch Depp sagt. 2 Beine, Arme, Bauch, 63, Brillenträger . . . .

    Und wie im realen wirklichen Leben schaue ich schon wen ich mir einlade, wo ich hingehe. Mein Blog ist ein offenes Haus das JedeR betreten. Erst mal. Im realen Leben kann – schon aus räumlichen Gründen – nicht JedeR mich besuchen. Diejenigen die zu mir kommen sind idr Freunde – Menschen die ich mag und vice versa oder zwangsbedingt wie der Pflegedienst z.b. Und auch die sind mittlerweile zu Menschen geworden die ich mag, mit denen mich weitaus mehr verbindet als nur die Sache. Aber auch zu Hause wenn da eineR blöd kommt, darf er/sie gehen. Alles schon da gewesen. Life happens

    Um auf meinen Blog und auf Grenzen zurückzukommen. Menschenverachtendes wird gelöscht. Was Beleidigungen betrifft, da habe ich ein dickes Fell. Manchmal lösche ich es, manchmal lasse ich es auch stehen weil es für sich selbst spricht, den Menschen spricht.

    Das berühmte im Sarrazinschen Sinne gerne und immer öfters verwendete „Das wird man ja mal sagen dürfen“, klar darf man das. Für mich verbirgt sich oft eine Haltung dahinter wo ich sagen muß: Mögen solche Menschen niemals an die Macht kommen. Die Haltung die sich sehr oft dahinter verbirgt, da wird mir schon flau im Magen wenn ich nur daran denke. Hier stimme ich nicht mit Matthias Jung und Antja Schupp überein. Solche Orte gibt es leider zu Viele, werden immer mehr. Mir sind Menschen mit offenem Visier, Menschen die „Das wird man doch mal sagen dürfen“ lieber als schweigende Menschen die sich ihren Teil denken, die sich wegdrehen. Da kann man agieren, weiß man wie und vor allen Dingen in welche Richtung der Hase läuft. Diejenigen jedoch die schweigen, machen mir mehr Angst da die Gefahr besteht das sie zu schweigenden Mehrheiten werden. Der berühmte Funke reicht dann aus das aus schweigenden Menschen – Mehrheiten eine lautstarke Masse wird. Und nicht jede sich lautstark artikulierende Masse beabsichtigt – führt „Gutes“ im Schilde.

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  5. es gibt ja mehrere möglichkeit etwas zu sagen oder nicht zu sagen, mit welcher absicht sage ich etwas? interessiert mich das rechthaben wollen, oder sich einfühlen wollen, interessiert mich das von etwas mitteilen wollen, oder das zuhören wollen, und was dann passiert, brauche ich mehr anerkennung oder weniger, habe ich humor und kann über meine fehlwahrnehmungen lachen und die mitteilen. kann ich es aushalten, wenn mich einer als „Diktator“ oder „Gutsherr“ beschimpft, wenn ich mich für Menschen einsetze, die verachtet werden, und wie tue ich das? Es gibt Räume, wo ich mehr und wo ich weniger sagen kann. So halte ich mich in Räumen mehr auf, wo ich ungezwungener reden kann, wo ich nicht zuhause bin, kann ich immer noch auf andere art etwas sagen, singen, und tanzen und lächeln ist manchmal eine bessere art verstanden zu werden. denn sprache muss nicht verbinden, es ist leichter mit mitgefühl, wenn ich die urteile der anderen bei mir findet, wenn ich die selbstgespräche wahrnehme, die sich daraus ergeben.
    und so sind für mich räume wichtig, dass ich das tue, und es beschäftigt mich, wenn es mich berührt, ja was mich be GEIST ert, denn das ist für mich mehr als GE(H)DANKEN es ist ständiges DANKEN.

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  6. „Diese Erfahrung, dass man nicht alles, was man meint, überall und konsequenzenfrei sagen kann, scheint manche zu überraschen.“

    Für Menschen, die in der DDR aufgewachsen sind, dürfte das nichts Neues sein.

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  7. Ich glaube, du hast Recht, aber ich finde diese Tatsache im Gegensatz zu dir sehr traurig. Ich würde es besser finden, wenn jeder überall seine Meinung sagen kann ohne starke Konsequenzen (wie beispielsweise körperliche Gewalt o.ä.) befürchten zu müssen. Wobei ich mit Meinung bewusst Beleidigungen und Bedrohungen ausschließen würde.

    @Antje: Was mich auch interessieren würde ist, wieso du eine Unterscheidung zwischen irgendwelchen Räumen und dem Staat machst. Konsequent weitergedacht würde deine Argumentation auf den Staat bezogen ja eigentlich auch nur bedeuten, wer ein Problem damit hat, bestimmte Meinungen nicht sagen zu können, kann ja in andere Räume, in dem Fall andere Länder gehen.

    Übrigens ist auch bei uns im Staat die Meinung nicht völlig frei, es gibt Verbote bestimmter Meinungen im Zusammenhang mit dem NS-Regime. Es geht eindeutig darum, eine bestimmte Meinung als die Richtige vorzuschreiben. Warum nur hier bei diesem Thema akzeptabel und bei anderen nicht?

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  8. @Miria – Ich stehe als Anarchistin dem Staat nicht besonders positiv gegenüber, aber so wie er als Idee gemeint ist, soll er weltanschaulich neutral sein, d.h. eben gerade nicht ein_e Akteur_in wie alle anderen (Einzelpersonen oder Gruppen), sondern das Dach, das den allgemeinen Raum „Öffentlichkeit“ sicherstellt. Daher das staatliche Gewaltmonopol, wonach jede nicht staatlich legitimierte Gewalt verboten ist. Das ist aber – wie das Beispiel NS-Ideologie zeigt – auch nur in der Theorie so. Allerdings könnte man sagen, dass „von Staats wegen“ nur solche Meinungen „gelöscht“ werden dürfen, wo eine große Mehrheit der Ansicht ist, dass die gelöscht gehören. Wie gesagt, das ist die Theorie, ich meine, dass sie auch in Bezug auf den Staat nicht funktioniert, aber das wäre ein anderes Thema.

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