Für Fortgeschrittene: Gutes Leben im hohen Alter

Fotografiert beim Kirchentag.
Fotografiert beim Kirchentag.

Der demografische Wandel ist ja eines meiner Spezialthemen, weshalb ich gestern beim Kirchentag die Gelegenheit wahrnahm, Ursula Lehr zu hören, frühere Frauen- und Gesundheitsministerin, und eine der führenden Alternswissenschaftlerinnen Deutschlands.

Man achte dabei auf das kleine „n“ – es geht ihr nicht um die Wissenschaft vom Alter, also um die Untersuchung eines bestimmten Lebensabschnitts (der irgendwann später mal auf uns zukommt und vorerst nur andere betrifft) sondern um das Altern, also um jenen Prozess, den wir im Moment unserer Geburt begonnen haben und erst im Moment unseres Todes beenden.

Bei diesem Vortrag ging es um die Frage, wie dieser Prozess im hohen Alter abläuft, also wenn man über achtzig oder über neunzig ist, und worauf es dabei ankommt, um gutes Leben zu haben. Erstmal bestand der aus vielen Zahlen, ich hoffe, ich habe alles richtig mitgeschrieben, denn Ursula Lehr hat uns in ziemlichem Tempo durch die Folien gejagt…

Also: Die Lebenserwartung steigt weiter an (pro Jahr um drei Monate, in den vergangenen 130 Jahren hat sie sich in Deutschland glatt verdoppelt), und was dabei zunimmt, ist der Anteil der gesunden Jahre. Sozialwissenschaftlich heißt das „Komprimierung der Morbidität“, also banal: Ganz am Ende ihres Lebens sind viele Menschen sehr krank, aber meistens quetscht sich das auf die letzten zwei Jahre zusammen, egal ob diese letzten zwei Jahre im Alter von achtzig, neunzig oder über hundert stattfinden. Aber natürlich leben manche auch mit Krankheiten eine lange Zeit, und im Idealfall „kommen alle Krankheiten, wenn wir bereits tot sind“. Aber durchschnittlich verlängert sich durch die Lebenserwartung nicht die „schlimme Phase“ kurz vorm Sterben, sondern die noch „gute Phase“ davor.

Die Zahl der Hochaltrigen steigt dabei rapide. Zurzeit leben mindestens 12655 über Hundertjährige in Deutschland – so viele beziehen aus dieser Altersgruppe jedenfalls Rente. Im Jahr 2050 leben (wenn die Entwicklung so weiter läuft wie bisher) 2 Millionen über 90-Jährige in Deutschland, und zwar bei einer Gesamtbevölkerung von dann nur noch 70 Millionen. Nicht selten leben heute schon drei Generationen von Rentner_innen in einer Familie: Lehr erzählte, dass sie kürzlich beim Geburtstag einer 102-Jährigen war, mit deren 80 Jahre altem Sohn und ihrer der 58 Jahre alten Enkelin.

Ein Vorurteil ist die Verknüpfung von Hochaltrigkeit und Pflegebedürftigkeit: Erstens gibt es auch junge Menschen, die pflegebedürftig sind, und zweitens sind es die allermeisten Hochbetagten nicht: Von den 80-85-Jährigen sind 81 Prozent zu einer eigenständigen Lebensführung in der Lage, von den 85-90-Jährigen kommen 65 Prozent allein zurecht, und bei den über 90-Jährigen sind es immerhin noch 41 Prozent. Wobei in dieser Altersgruppe ein Drittel dement ist, was noch mal gesondert betrachtet gehört.

Das Zahlenverhältnis zwischen Hochaltrigen und Jüngeren ändert sich rapide, allerdings hat es das auch schon in der Vergangenheit: Kamen 1890 auf eine 75-Jährige oder Ältere noch 79 Jüngere, so waren das bereits 1950 nur noch 35, 2010 waren es noch 10, und 2050 werden es noch 4 sein. In anderen Worten: Ein Fünftel der Bevölkerung ist dann 75 und älter.

Ansteigen wird damit auch die Zahl der Einpersonenhaushalte, wobei das Alleinleben im Alter (derzeit) vor allem Frauensache ist: Unter den 75-Jährigen und älteren lebt einer von vier Männern, aber zwei von drei Frauen allein.

Ein wichtiger Punkt ist natürlich Gesundheit, die muss, wie Lehr sagt, „erkämpft werden“. Das bedeutet, sich gezielt um die Bereiche zu kümmern, die noch gesund sind, auch zum Beispiel im Pflegeheim (und nicht nur die zu „behandeln“, die krank sind“). Prävention, Sozialkontakte, körperliche Aktivität, gesunde Ernährung sind hier die Stichpunkte. Mich erinnerte das an Ina Praetorius Rede von den „Gesundheiten“ im Plural. Bisher definieren wir Gesundheit im Singular, während es viele Krankheiten gibt. Es gibt aber auch viele Gesundheiten, und die brauchen ebenso Aufmerksamkeit.

Laut Lehr gibt es eine Wechselwirkung zwischen körperlichem Wohlbefinden und Aktivität: Also nicht nur dass wer gesund ist, auch weiter aktiv sein kann, sondern das Aktivsein bewirkt oft auch bessere Gesundheit. Dabei sei es wichtig, dreierlei zu tun: Etwas für sich selbst, etwas für andere (also für konkrete andere Menschen) und etwas für die Gesellschaft (ich würde es „Politik“ nennen“). Klar ist: Alle Menschen brauchen eine Aufgabe im Leben, wer nichts zu tun hat, was ihr oder ihm sinnvoll erscheint, gibt sich auf, und für hochaltrige Menschen ist das besonders fatal.

Memo für uns Jüngeren: Auf keinen Fall den alten Menschen Aufgaben abnehmen, die sie selbst erledigen können. Das ist ein feiner Grat, der da kunstfertig zu erkunden ist – hochaltrige Menschen (bzw. alle bedürftigen Menschen letztlich, also alle Menschen, aber bei den Hochaltrigen fällt es ins Auge) brauchen die Sicherheit, dass ihre Bedürfnisse verlässlich und in guter Qualität versorgt werden, gleichzeitig ist es wichtig, dass sie selbst die Verantwortung für ihr Leben behalten und alles das selbst tun, was sie tun können (und eben noch Sachen für andere tun und sich politisch engagieren). (PS: Dieser Absatz war jetzt von mir und nicht von Lehr)

Konkret fordert Lehr, dass alle Altersgrenzen nach oben zu hinterfragen sind. Hochaltrige Menschen seien untereinander so unterschiedlich wie keine andere Altersgruppe, deshalb sei es unsinnig, Beschränkungen anhand des kalendarischen Alters zu machen (wie ab 80 keine Kredite mehr, ab 90 keine künstlichen Hüftgelenke etc.)

Ein anderer Vorschlag: Wir haben unsere Gesellschaft bisher sehr um die jüngeren „Lebensphasen“ organisiert, feiern Geburten, Erwachsenwerden, Volljährigkeit, Schulabschluss, Hochzeit, Geburten von Kindern. Das alles betrifft das erste Lebensdrittel. Das einzige, was in den weiteren zwei Dritteln noch gefeiert wird, ist Rente und Tod. Alles zwischen 60 und 100 gilt als „Alter“, das ist angesichts der heutigen Lebensverläufe viel zu grob.

Die negativen Begleitumstände des hohen Alters können natürlich nicht weggeleugnet werden: Viele Freund_innen sterben, die Umwelt begegnet einer mit Skepsis, Krankheiten kommen. Umso wichtiger sei es, „an die Zukunft zu denken“.

Ein Tipp von Lehr ist, sich nicht mental auf das zu konzentrieren, was nicht mehr geht, sondern die „Kunst zum Auskosten der noch gegebenen Möglichkeiten“ zu pflegen. Auch neue Erfahrungen sollte man anstreben, wobei die aber nur was nützen, wenn sie nicht einfach nur additiv angefügt werden (Nach dem Motto: Ich muss noch mal nach China), sondern wenn sie in den bisherigen Lebensverlauf integriert werden.

Soweit meine Notitzen.

Ich bin Journalistin und Politologin, Jahrgang 1964, und lebe in Frankfurt am Main.

15 Gedanken zu “Für Fortgeschrittene: Gutes Leben im hohen Alter

  1. „Laut Lehr … sei es wichtig, dreierlei zu tun: Etwas für sich selbst, etwas für andere (also für konkrete andere Menschen) und etwas für die Gesellschaft (ich würde es „Politik“ nennen“).“ – also das sind ja keine neuen Gedanken … schwierig wird es mit der Umsetzung!

    .Ich sehe das – oft voller Wut – bei meiner geistig fitten, körperlich bröckeligen 93.jährigen Mutter: Wie kommen alte Menschen zu den Vorträgen + Aktivitäten, die sie interessieren und zu Freunden, um sie zu besuchen? (und keine Tochter haben wie mich, und ich hab später keine Tochter!)

    Wer – nein, nicht kauft ein – das kann sie noch – aber bringt die Sachen hoch?
    Es gibt kein einfaches Hilfsmitteln wie einen einfach handhabbaren Flaschenzug, mit dem sie selbst den Korb nach oben schaffen kann.

    Wann kommt ein Gesetz, das Vermieter verpflichtet, einen Platz für Rollstuhl + Rollator + Emobil anzubieten, für jeden Im Haus, ebenso wie für Autos + Kinderwagen? Das Rampen gebaut werden müssen + einfache Zugänge?

    Außer ihrem Rollator hat sie ein Emobil – aber kommt nicht überall hin ,weil Stolpersteine … und schon gar nicht in den Bus, weil die Rampe zu hoch… ,

    Die ganze Umwelt wird von fitten Männern gestaltet, und alle Anders-Behinderten – junge + alt – werden zwangsweise auf ihre Zimmer reduziert. Das hat den Vorteil: Da sieht man sie nicht. Inklusion ist ein hübsches Wort…

    Ein gutes Leben im Alter? Dafür muss die ganze Gesellschaft umdenken und unsere Steuergelder müssen so eingesetzt werden, dass Teilhabe möglich ist.

    ABER: bitte kein MUSS! Wer sich nicht um andere kümmern will, darf endlich auch seine Ruhe haben. Das gilt auch für die Forderung „sich politisch engagieren“.

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  2. Nachtrag:
    „Auch neue Erfahrungen sollte man anstreben, wobei die aber nur was nützen, wenn sie nicht einfach nur additiv angefügt werden (Nach dem Motto: Ich muss noch mal nach China), sondern wenn sie in den bisherigen Lebensverlauf integriert werden.“
    Wem soll da was + wozu nützen? Ist additiv schlecht? Wer gibt da schon wieder Regeln vor, welche neuen Erfahrungen zu mir passen? ? Gibt es eine Kommission, die bestimmt: das nützt nicht – also darfst Du nicht nach China? Das ist nur additiv, weil Du schon in Japan warst? Aber aus Deinem bisherigen Lebenslauf ist ersichtlich, dass Du immer schon gerne gemalt hast – also integrier mal die Toskana? Diese Regelungswut kommt mir suspekt vor.

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  3. @Dame Meier – wie kommst du drauf, dass irgendjemand das regeln will? Die Leute können ja machen, was sie wollen, die Beobachtung ist nur, dass rein additives Sammeln von Erfahrungen in der Regel keine Zufriedenheit bringt.

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  4. @Fidi – ich glaube, die meint sowas wir Realismus im Bezug auf das, was kommen könnte in Verbindung mit entsprechendem Handeln. Aber auch sowas wie nicht nur der Vergangenheit nachtrauern, sondern die vorhandene Lebenszeit gestalten.

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  5. Alter, insbesonders Hochaltrigkeit, ist mir hier (und auch anderswo) viel zu positiv und oberflächlich betrachtet, also einseitig, betrachtet. Es ist überhaupt kein Problem, sein Leben auch im Alter zu leben, so lange man das eben noch kann. Totgeschwiegen werden nach wie vor die bitteren Zeiten der Krankheit, der Vereinsamung, der seelischen und körperlichen Verelendung – sei es nun in der Obhut sich „opfernder“ Angehöriger, oder in den, letztlich, bewohnerfeindichen Lebenssettings eines Pflegeheims (da die Strukturen dort eben nicht bewohnerorientiert sind, sondern dein Dienstplan für Pflegende leitend ist). Hier Hinzuschauen, jenseits irgendwelcher beschönigenden Hochglanzattitüden, wäre lohnenswert, um einen realistischen Blick auf das zu bekommen, was kollektiv und individuell getan werden muß, um solche, zwar bekannten, bislang jedoch akzeptierten, Verhältnisse zu beenden.

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  6. Hallo Antje, du hast die silbernen, goldenen, diamantenen, eisernen… Hochzeiten vergessen. Und natürlich die Geburtstage. All das wird (auch) im Alter gefeiert. Wobei du natürlich trotzdem Recht hast: Man könnte noch viel mehr feiern: den Tag, an dem ich (Ur- (Ur-) Grossmutter werde (geworden bin), den 100.000sten Tweet, den Umzug in die kleinere Wohnung, die goldene Konfirmation (sowas gibt’s), den Einzug in die WG…

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  7. Das ist ja alles sehr bedenkenswert und die Ideen sind gut – aber bei meinen Großmüttern habe ich gesehen, wie sehr die Lebensqualität im hohen Alter DOCH sinkt – auch bei halbwegs guter Gesundheit. Die Damen – die eine immer ein sehr aktiver, wißbegieriger Mensch, die andere nicht – ließen uns immer wieder wissen, dass sie das Leben doch sehr satt hätten.
    Es ist also zu hinterfragen, wie sehr es das Ziel sein kann, die Lebenserwartung immer weiter nach oben zu schrauben – ich habe nicht den Eindruck, dass sich die jungen, hochmotivierten Wissenschaftler von der Schule der „Ewigen Jugend“ darüber sonderlich viele Gedanken machen.

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  8. Danke für den interessanten Artikel! Welche konkreten Vorschläge kann ich in die Arbeit eines Beirates zur Demografie eines Landkreises mitnehmen?

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