Garbo statt Klum. Ein paar Gedanken zur Mittelmäßigkeit.

garbo

Ich denke weiter über Körpernormen nach. Nach wie vor glaube ich, dass sich heute im Vergleich zu vor dreißig Jahren (als ich 18 war) etwas wichtiges verändert hat, dass der Unterschied aber nicht darin liegt, dass Frauen sich zu dick fühlen – das taten sie damals wie heute – sondern darin, dass das Thema Körper und Aussehen heute einen anderen Stellenwert und eine andere gesellschaftliche Bedeutung hat. Aber welche?

Schon in der Kommentardiskussion zu meinem ersten Blogpost entstand bei mir die Vermutung, dass die Unzufriedenheit mit dem Körper heute möglicherweise oft nicht nur das ist, was es besagt – Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper eben – sondern dass das Körperthema ein Kulminationspunkt ist für Unzufriedenheiten aller Art mit sich selbst.

Selbstzweifel, ein gewisses Sich ungenügend Fühlen, gehört unweigerlich zum Leben dazu. Nobody is perfect. Heute aber herrscht, anders als früher, ein enormer Druck bei der Lebensplanung: unsichere Jobsituation, unsichere familiäre Rollenmodelle, ungewisse Zukunft – all das ist ein guter Nährboden dafür, sich ungenügend und überfordert zu fühlen.

Aber ich höre selten Menschen darüber sprechen, dass sie sich bei der Arbeit ungenügend fühlen, dass sie Angst haben, die Prüfung nicht zu schaffen oder keinen Job zu finden, oder dass sie generell an ihren Plänen für das weitere Leben zweifeln. Vielleicht spricht man über so etwas mit guten Freund_innen, aber es ist kein Thema bei Smalltalk, von ständigen Bemerkungen nebenbei.

Hingegen zu sagen, dass eins sich dick fühlt, dass dieses Stück Kuchen jetzt eigentlich zu viel ist, dass man eigentlich fünf Kilo abnehmen müsste, das passiert häufig. Ich höre es von Kolleginnen beim Mittagessen, neulich sogar von einer Wildfremden an der Käsetheke. Zu sagen: „Ich bin zu dick“ ist viel einfacher, als über andere Dinge zu sprechen, bei denen eins sich ungenügend gefühlt. Es wird schneller verstanden, ist sozial akzeptiert und nicht weiter erklärungsbedürftig. Aber es erfüllt eben dennoch den Zweck: das chronische Gefühl des Nicht-Genügens einfach mal rauszulassen, mit anderen zu teilen.

Zumal heutzutage Mittelmäßigkeit ja nicht mehr erlaubt ist. Das zeigt sich zum Beispiel in einem veränderten Verhältnis der „normalen Leute“ zu den „Stars“. Früher waren Stars etwas zum Anhimmeln, zum „Vergöttern“ (die Garbo), aber nichts, was eins ernsthaft auf sich selbst bezog. Die Garbo war die Garbo, und meine Mutter eine ganz normale Hausfrau. Heute hingegen sind Stars „Benchmarks“ für alle.

Das ist der eigentliche Grund dafür, warum Formate wie Germanys Next Topmodel so problematisch sind. Sie sagen uns nicht mehr: „Schau mal, wie außergewöhnlich schön diese Schauspielerin ist“, sondern: „Du kannst auch ein Topmodel sein, Du musst dich nur halt ein bisschen anstrengen.“

Hier schlägt letztlich eine pervertierte Variante der demokratischen Parole von der „Gleichheit aller Menschen“ durch, kombiniert mit einer Elitenideologie, in der Mittelmäßigkeit keinen Platz mehr hat. Und vielleicht ist das das eigentliche Problem: dass uns die Option auf Mittelmäßigkeit als normale und akzeptierte Daseinsform verloren gegangen ist, während es doch gleichzeitig in der Natur der Sache liegt, dass die Mehrzahl der Menschen eben mittelmäßig sind, in so ziemlich allen Bereichen des Lebens.

Früher war es eben ganz normal, mittelmäßig zu sein und ein durchschnittliches Leben zu führen. Natürlich ging das zuweilen auch mit einer ekligen Spießbürgerlichkeit einher. Man war stolz, nicht ins soziale Abseits „abzurutschen“ (und schaute verächtlich auf jene hinab, die sich dort befanden), hatte aber keinerlei Ambitionen, in die Glitzerwelt der Schönen und Reichen aufzusteigen. Das war ein gemütliches Leben, sozusagen.

Das Negative daran war diese „Schuster bleib bei deinen Leisten“-Ideologie, die zu Recht vom demokratischen Gleichheitsgedanken kritisiert worden ist. Weil sie verhinderte, dass Menschen überhaupt Ambitionen des Aufstiegs entwickelten. Aber der Kampf dafür, dass einzelne, die das wollen, die Möglichkeit zum Aufstieg bekommen, ist längst schon umgeschlagen in den Zwang zum Aufstieg. Wenn die das kann, warum du nicht auch?

Ein Freund erzählte mir von einem Managementprinzip in einem großen US-amerikanischen Konzern, das so funktioniert: Jedes Jahr werden die Top-Performer, die leistungsmäßig obersten 10 Prozent, belohnt, und die untersten 20 Prozent entlassen. Die Mittelmäßigen werden noch ein weiteres Jahr geduldet. Das System zeigt: Nur die Topleute sind wichtig, die Schlechten werden rausgeschmissen, und die Mittelmäßigen können nicht mittelmäßig bleiben, denn wenn sie sich nicht anstrengen und besser werden, sondern einfach nur so bleiben, wie sie sind, werden sie unweigerlich irgendwann aussortiert (das ist nur eine Frage der Zeit, weil ja der Abstand nach „unten“ immer kleiner wird).

Diese Ideologie, wonach es nicht mehr genügt, mittelmäßig zu sein, sondern man zum Überleben Top sein muss, führt paradoxerweise gleichzeitig zu einer gesellschaftlichen Uniformierung. Denn nicht mehr die Einzigartigkeit zählt (die lässt sich nämlich nicht benchmarken), sondern die Vergleichbarkeit. Die Qualität einer Person oder einer Arbeitsleistung wird nicht mehr in absoluten Werten gemessen (ist sie gut oder schlecht), sondern in relativen (ist sie besser oder schlechter als…).

Wirkliches Expertinnentum funktioniert nicht über Konkurrenz. Ich bin zum Beispiel „Germanys Topmodel“ in Bezug auf Wissen über Frauen in der Ersten Internationale. Aber da ich so ungefähr die einzige bin, die sich mit diesem Thema überhaupt auskennt, lässt sich dazu kein Ranking aufstellen. Ich bin die Beste von einer Gruppe, die aus einer Person besteht, haha. Ranglisten und Topmodels lassen sich nur bestimmen, wenn man Menschen vergleichbar macht. Mit Spezialthemen funktioniert das nicht. Man braucht also Themengebiete, wo es überhaupt möglich ist, miteinander konkurrieren.

Und das einzige, was wir tatsächlich alle gemeinsam haben, wo wir allesamt miteinander verglichen werden können, ist ein Körper. Wir alle sehen irgendwie aus. Das Aussehen ist schlicht und einfach das simpelste und vielleicht sogar einzige Thema, bei dem sich eine ganze Gesellschaft miteinander in einen Wettbewerb begeben kann.

Ich glaube, dass das der Grund dafür ist, warum unsere Gesellschaft eine solche Obsession in Bezug auf das Aussehen entwickelt hat. Der Kern dieses ganzen Schlamassels ist in Wahrheit gar nicht der Körper und seine Normierungen, sondern die Verkorkstheit unserer gegenwärtigen Kultur, die ständig alles mit allem vergleichbar machen will, weil sie keine wirklichen Qualitätskriterien mehr kennt.

Vielleicht könnte das sogar ein Grund sein für das große (und für mich immer so unverständliche) Bedürfnis nach „Genderisierung“ von Kindern, nach klaren Grenzen zwischen Jungen und Mädchen in blau und rosa: Die Geschlechterdifferenz zu zementieren, wenn auch auf alberne Art und Weise, könnte vielleicht ein letzter verzweifelter Versuch sein, wenigstens einen einzigen Bereich der Vergleichbarkeit zu entziehen. Wenn Frauen so sind und Männer so, dann spielen sie in verschiedenen Contests und brauchen nicht gegeneinander anzutreten.

Eine Gesellschaft, in der „Top-Sein“ nicht mehr an den eigenen, jeweils individuellen Begehren und Interessen orientiert ist, sondern daran, auch von der Allgemeinheit, von Hinz und Kunz sozusagen, als „Top“ anerkannt zu werden, ist dysfunktional. Sie behindert Individualität und Originalität, weil nur zählt, was vergleichbar ist. Und damit wird dann über die Hintertür die Mittelmäßigkeit wieder einführt, weil am Ende alle gleich und „normschön“ sind und grottensterbenslangweilig.

Das Gegenbild, das ich dazu im Kopf habe, sind die nächtelangen Gespräche, die ich als Doktorandin mit einer Freundin führte. Sie war ebenfalls Wissenschaftlerin und Expertin für eine ganz bestimmte Sorte antiker Romane. Die Welt um uns herum interessierte sich weder für ihr Forschungsthema noch für das meine, aber wir hatten tolle Gespräche. Wir kamen nie in Versuchung, miteinander zu konkurrieren, das wäre vollkommen absurd gewesen. Ich habe keine Ahnung von antiker Romanliteratur, und sie hatte keine Ahnung von Frauen in der Ersten Internationale. Und genau deshalb waren unsere Gespräche so interessant – wir hatten einander viel zu erzählen.

Die Sache ist also nicht aussichtlos, denn wir haben immer die Wahl: Sehen wir in anderen Menschen lauter herummäkelnde Heidi Klums, die uns antreiben, genauso „gut“ (schlank/normschön/sexy) zu werden wie sie selbst es (angeblich) sind?

Oder erkennen wir in ihnen die Garbo, sehen wir sie also wirklich als Andere, lassen uns von ihnen faszinieren, gerade weil wir nicht mit ihnen vergleichbar sind? Bewundern und respektieren wir sie, weil sie etwas können auf einem Feld, in dem wir selbst total mittelmäßig sind? Dann könnte unsere Begegnung wirklich interessant werden.

Ich bin Journalistin und Politologin, Jahrgang 1964, und lebe in Frankfurt am Main.

47 Gedanken zu “Garbo statt Klum. Ein paar Gedanken zur Mittelmäßigkeit.

  1. Weg von den ewigen Vergleichen, dem „du musst nur noch ABC, dann bist du endlich ein Star / überhaupt mal wer“ und der ewigen Konkurrenz (worum eigentlich?). Gute Idee. Danke für den Text.

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  2. Das mit den gegenderten Kindern, kann ich nicht nachvollziehen. Was gibt es mir als Erwachsene denn, wenn ich meinen Sohn nur Blau anziehe für gefühlte Vorteile? Ich frage mich jedenfalls auch schon seit mindesten 5 Jahren, was andere Eltern daran hindert, z.B. Rosa bei einem Jungen mal unkommentiert zu lassen… Geschweige denn, dass sie ihren Kindern die Freiheit lassen, das anzuziehen, was ihnen (den Kindern) gefällt. Ansonsten, gehe ich voll mit, 80% reicht und damit fahre ich gut. Perfektionismus ist ja auch echt anstrengend und das leben zu kurz dafür.

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  3. Wer das Durchschnittliche auszurotten versucht, gefährdet den Bestand unserer Welt, denn: „Das Durchschnittliche gibt der Welt ihren Bestand, das Außergewöhnliche ihren Wert.“ [Oscar Wilde – keine Frau, aber doch an Männern interessiert. 😉 ]

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  4. Ich kann euch empfehlen den Fernseher weg zu schmeissen, denn er ist meiner Meinung nach das schlimmste Medium in dem absurde Rollenbilder „vorgelebt“/gefordert werden. Die wenigen guten Sendungen kann man auch via Onlinestream schauen.

    Ich habe auch den Eindruck das in den letzten Jahren das Selbstbewusstsein von Personen und die Eigenverantwortung wieder zugenommen hat. Mit Freude kann ich sagen das in meinem Erfahrungsbereich in den letzten Jahren einige Dominante aber eigentlich Schwache Führungspersonen dekonstruiert wurden und wieder mehr Kooperation stattfindet wo jeder das einbringt was er kann und nicht mehr nur pures Konkurrenz- und Leistungsdenken die Menschen prägt.

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  5. Ist die Ursache nicht doch eine wesentlich einfachere? Früher brauchten die Menschen Geld für Miete, Essen, Strom. Später für den Urlaub und dann hat der Kapitalismus die Freizeit und den Körper entdeckt. Die Marktstrategie ist gut aufgegangen, alle neu eingeführten Hygiene- und Schönheitsstandards jubeln den Konsum an. Zur Seife, Wasser, Zahnbürste und Zahncreme ist ein ganzes Drogerieregal an Pflegestoffen hinzugekommen, die wir benutzen sollen. Die Schönheitschirugie boomt, die TV machen die passenden Sendungen dazu. Klappt doch alles ganz gut in diesem Kapitalismus. Außerdem sind die Menschen mit diesen Fragen tatsächlich jeden Tag beschäftigt. Manche sogar jede Minute.
    Nimmt eins noch den penetranten Gesundsheitsmarkt dazu, der mir fast noch suspekter ist, als das Schönheitsgedöns, dann sind die Menschen erst so richtig gefangen in ihrem Käfig, was sie tun dürfen und sollen. Ein Ausbruch daraus ist schon fast eine individuelle Revolte.

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  6. Ich lese gerade im Tageespiegel – „Wo Models Größe 42 tragen – Berlins erste Messe für Dicke“. Dick – mit Größe 42. Please, damit fängt es doch schon an. Ich bin 175 und wiege 67 kg, oft trage ich 42 weil es mir passt und bequem ist. Aber bin ich deshalb dick ? Früher hat man zu mir gesagt, bist du aber dünn. Als teenie konnte ich es nicht mehr hören und nun das ? Leider scheine manchen Medien nicht zu begreifen was man mit solchen Nachlässigkeiten anrichtet.

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  7. Ich mag den Artikel, danke. Aber ich komme nicht umhin zu fragen: What about teh men?

    Die beschriebenen Umstände wirken gleichermaßen auf Männer ein und bewirken dort aber nicht ein derartiges „Körperwahrnehmungsunwohlsein“. Reagieren Männer anders darauf? Gibt es eine männertypische und eine frauentypische Art und Weise auf beschriebene Umstände zu reagieren? Wirken die Umstände vielleicht eher verstärkend auf Klischeemerkmale? Dann wäre das womöglich auch ein Ansatz für eine Erklärung des gefühlt zunehmenden Konservatismus und des gefühlten feministischen Backlashs. Das befolgte Frauenbild ist aber keines, was von der Eltern- oder Großelterngeneration vermittelt wurde, sondern eines, was von den Medien (Werbung, GNTM, Showbusiness) aufgebaut und ausgeschlachtet wurde. Es ist arg simplifiziert und überspitzt, da medial nur Vereinfachung wirken. Subtile Alltäglichkeiten verpuffen.

    Ich bin mir nicht sicher, ob die Verdrängung des Mittelmaßes damit ursächlich verknüpft ist. Auch wenn ich ähnliche Beobachtungen gemacht habe. Ich sehe es am Beispiel des Einzelhandels, wo die mMn gesunde Durchmischung verschiedener Qualitätsklassen immer mehr ersetzt wird durch einerseits billige (unter menschenunwürdigen Umständen hergestellte) Ware und andererseits Top-Marken-Ware (die teilweise unter den gleichen Bedingungen hergestellt wird, obwohl die Gewinnmargen besseres hergäben).

    Natürlich hat das medial vermittelte Gesellschaftsbild auch seinen Anteil daran, dass Eigentum als persönliches Glück, Selbstdarstellung als individuelles Ziel vermittelt wird. Die notwendigen Mittel dazu gibt es dann eben spottbillig beim 1-Euro-Discounter (oder bei Kik oder Kaufland).

    Die Gedanken sind unvollständig, weil ich keine Kausalkette herzustellen vermag. Vielleicht braucht man das auch nicht, vielleicht reicht es, wenn man zumindest erstmal zeitliche Korrelation sehen kann.

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  8. Antje! Das ist wieder so klug! Danke!
    Muß an Stephane Hessel denken: „Empört euch gegen die maßlose Konkurrenz aller gegen alle.“
    Jetzt habe ich eine Spur, wie das gehen kann. bzw. meine Spur ist mir klarer.

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  9. Ich habe bei solchen Texten ja irgendwie immer dass Gefühl, ich gucke darauf von außen, aus einer anderen Welt. Ich kann das alles nicht nachvollziehen, nicht nur dass ich mich als dicke Person irgendwie wesentlich wohler fühle als als dünne Person, auch habe ich nie ein Interesse daran gehabt ein Star zu sein. Ich sehe mit solch einer „Position“ als Star viel mehr Negatives als Positives verbunden. Ich weiß: Ich möchte bitte niemals ein bekannter Star sein! Vielleicht strebe ich auch deshalb nicht danach, so zu sein wie irgendwelche Menschen, die ich im Tv sehe. Aber auch in meinem Umfeld kenne ich nur eine Person, die übertrieben auf ihr Äußeres achtet und solche Bemerkungen macht wie du sie erwähnst. Befürchtungen bezüglich eines Arbeitsplatzes sind um einiges häufiger zu hören, ich dachte erst ich hätte mich verlesen im Text, dass man das nicht so häufig hört.
    Was das Thema mit der Mittelmäßigkeit angeht, glaube ich, dass niemand nur und in allem mittelmäßig sein will oder ist, so hart dich jeder etwas, was er gut kann und einen Bereich, in dem er eben nicht nur mittelmäßig ist. Mich wundert es, dass das hier auf das Äußere beschränkt zu sein scheint. Viele sind vielleicht gut in einer Sportart, einen anderen Hobby, Tanzen oder beruflich…

    Liebe Grüße von einer echt erstaunten Miria

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  10. Antje, ich denke auch manchmal über Körpernormen im Verhältnis zu meinem Körper nach. MIt 1,76m und 80kg bin ich Mittelmaß – und ich fühle mich gut dabei! Der Körper ist halt das sichtbarste, das ich mit mir trage, von daher auch am ehesten vergleichbar. Als ich vor 10 Jahren an mir hinabgesehen habe, war diese kleine Wölbung unter der Brust noch nicht da…und? Shit happens, wobei der „Shit“ bei mir doch scheinbar daher rührt, dass ich dadurch…und das ist Kopfkino…scheinbar weniger attraktiv für diejenigen bin, an denen ich ein (eher thoroetisches) sexuelles Interesse habe. Da ich nun aber doch schon auf die 55 zusteuere, wird mir meine gadachte körperliche Attraktivität doch von Jahr zu Jahr weniger wichtig.
    Du schreibst „Früher war es eben ganz normal, mittelmäßig zu sein und ein durchschnittliches Leben zu führen.“ Das, so ist meine Erfahrung, ist auch heute noch ganz normal. Inzwischen wird nur das Thema – vor allem durch die vielen medialen Inszenierungen von Körpermodellen – öffentlicher wahrgenommen. Und, um ehrlich zu sein…Garbo war auch nur so eine mediale Inszenierung, die eben Kopfkino abspulen ließ…und lässt.

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  11. @MasinAD – Die Männer können sich bei meinen Texten immer mitgemeint fühlen 🙂 _ Aber im Ernst: Ob das, was ich, eine Frau, schreibe und beobachte, auch auf Männer zutrifft, kann ich allerdings nicht unbedingt wissen, denn ich bin ja kein Mann… Es interessiert mich aber, in den Kommentaren darüber zu lesen, ob es von Männern ähnlich oder anders gesehen wird.

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  12. Liebe Antje,
    Du berichtest einmal wieder über eine brisante Thematik.
    Als 69-jährige bin ich immer wieder auf das Neue überrascht, dass unser Geschlecht, bzw. auch das andere – vor allem die Jüngeren – NICHT dazu lernt.
    Erlebte dies schon in meiner Internatszeit, ab 1956.
    Ist die Manipulation so groß? Wo beginnt diese? In der FAMILIE/KIKA/SCHULE/MEDIEN/u.s.w.?
    Ist das enorme Konkurrenzdenken schon in unseren Genen verankert?
    Ich, als Individuum bin nur in der „dazu gehörenden“ Gruppe berechtigt gut zu leben! Was ist gut?
    Ohne materiellen Sorgen oder einfach – zufrieden?
    Oder ist es doch nur das „Glück“, bewusste „Rettende Zeugen“ zu haben, wie es Alice Miller immer anführt, die einem, ein „über den Tellerrand hinaus“ Lebensbild/-perspektive vermittlen können?
    Dieser Gruppenzwang ist und war mir immer ein Kreuel und er führt letzten Endes, immer wieder zu einer Form des Sich Verkaufens. Bemerkt dies niemand? Eine Frau Klum verkauft sich ja heute noch hervorragend.
    Nochmals ein großes Danke für Deinen BLOG mit den lebensnahen Themen.

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  13. Doch, kann hinkommen. Die überall geforderte Vergleichbarkeit führt übrigens auch zu einem Dauerwettbewerb, und das jetzt nicht im Sinne der Marktwirtschaft, sondern ganz wörtlich: ich kann mich nicht mehr einfach so um einen Job oder Auftrag bewerben, den ich dann kriege oder nicht. Nein, ich werde genötigt, mich albernen Spielchen zu unterwerfen, „der Gewinner bekommt dann von uns Nachricht“, „der Hauptpreis besteht in einer Option auf eine bezahlte Produktion“, und wer das zweifelhafte Glück hat, einen solchen „Kreativwettbewerb“ zu gewinnen, merkt möglicherweise gar nicht, zu welch unterirdischen Konditionen er dann arbeiten „darf“.
    Es braucht eine Menge Kraft, sich dieser Zumutung zu entziehen und konsequent darauf hinzuweisen, daß man für diesen Job sehr gut geeignet sei, auch wenn man nicht das Regal voller alberner Trophäen hat. Was man allerdings niemals tun darf: dem Auftraggeber flüstern, daß er gar nicht so erstklassig ist, wie seine Anforderungen an andere suggerieren.

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  14. Ich sage (wiederhole!) als Mann: Die Entwertung des Durchschnittlichen, Normalen und Einfachen trifft uns genau so schlimm. Auch wenn uns der Bauch meistens Wurscht ist – aber normale Leistungen und Fähigkeiten sind einfach nicht mehr „in“. Nur der Extremwert ist „gut genug“. Allerdings nur in den banalsten „Künsten“. Im Kirschkern-Weit-Spucken kann sich jeder um den Weltmeistertitel bewerben. Aber die weniger verbreiteten (und weniger leicht nachahmbaren) Fähigkeiten fallen durch den Rost – mangels quantitativer Vergleichbarkeit. Sieger wird man nicht mit dem Klügsten sondern mit den meisten Dummen. (Empfehle dazu Esther Vilar: „Der betörende Glanz der Dummheit“).
    Die gegenwärtige Welt ist auf Spitzen-Quantitäten eingestellt – und auf Qualitäten fast gar nicht. Soviel als Mann.
    Und Dankeschön für den anregenden Text!

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  15. @Antje: Es war letztlich ja nur ein rhetorischer Kniff, nach den Männern zu fragen, um halt das Gesamtbild mal anzuschauen. Als Mann kann ich nur widersprüchliche Entwicklungen erkennen, was aber auch sicher der Rollenneufindung nach dem feministischen Tsunami der letzten Jahrzehnte geschuldet ist.

    Einerseits gibt es den medialen Versuch, den muskulösen und durchtrainierten Mann zu propagieren, andererseits sehe ich nicht, dass das irgendwie auf fruchtbaren Boden fällt. Eher als mediale Beeinflussung scheint mir das soziale Umfeld zu wirken, und ich befinde mich in einem, wo dieser übersportliche Typus nicht wirklich angesagt ist. Ich hätte wiederum überhaupt nichts dagegen, wenn es mal eine GNTM-Staffel gäbe, wo es um männliche Models geht (solange sie nicht als Witzfiguren präsentiert werden). Für Frauen und Mädchen wäre das entlastend, dass nicht immer nur sie sich solchen Anforderungen ausgesetzt sehen müssen, für Männer und Jungen wäre das befreiend, weil sie dadurch auch mal danach streben könnten, schön und begehrenswert zu sein – bislang wird Mann dafür eher gesellschaftlich geächtet.

    Dann wiederum gibt es die neuen, langsam aufkommenden Freiheiten, dass man als Mann auch Familie können kann. Wobei ich erst gestern von einem vielleicht 12jährigen Mädchen komisch angeschaut wurde (‚doof angeglotzt‘ wollte ich erst schreiben), als ich mit meinen Zwillingen im Kinderwagen unterwegs war. Sie hat mir sogar noch hinterhergeschaut, als wir aneinander vorbei waren. Vielleicht sind diese Freiheiten also eher gefühlt denn etabliert. Dann würde mich auch mein Gefühl trügen, dass Männer eben nicht mehr zwangsläufig beruflich erfolgreich sein müssen. Durch mein Familienleben ist da eh eine Verschiebung der Perspektive eingetreten. Davor hatte ich das Gefühl, dass der Druck auf Männer, sich männlich-erfolgreich zu erweisen, größer geworden ist. Vielleicht werden Kinder heute eher als früher als Erklärung akzeptiert, dass Väter nicht immer auf den Sieg hinarbeiten. Wie immer jedoch: Der Kontext entscheidet, in dem Fall also das Umfeld des Mannes.

    Wenn ich aber eine implizierte gesellschaftliche Anforderung an den Mann ableiten wollte, dann wäre das Folgende: „Männer haben zu funktionieren. Männer haben keine Schwäche zu zeigen. Männer haben Ergebnisse zu liefern.“ Alles schön und gut, die Probleme fangen da an, wo Mann diese Anforderungen nicht erfüllen kann. Das wird dann kompensiert durch Aggression, durch Schuldzuweisungen und Abstreiten von Verantwortung und durch ständiges Sich-Beweisen-Müssen. Die Konsequenzen daraus überlasse ich der Phantasie der Mitleser.

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  16. Hinzu kommt, dass die Dominanz individualisierungstheoretischer Denkmuster suggeriert, dass es ein_e jede_r schaffen könne, das böse Mittelmaß zu verlassen, dabei ist soziale Mobilität kaum möglich und ganz bestimmt nicht auf Grundlage von „Fleiß“ oder „Biss“. Ganz schön perfide.
    Vielen Dank für diese Gedanken!

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  17. Ein sehr interessanter Artikel, danke dafür. Warum die Figur so wichtig (geworden) ist, ist vielleicht auch dass in vielen anderen Lebensbereichen keine ganz klare Hierarchie herrscht, da es immer etwas zu kritisieren gibt. Karriere, Kinder, Beziehung… es ist nicht mehr so eindeutig dass frau als Lebensziel heiraten und gelungene Kinder heranziehen muss, es werden x Lebensentwürfe gegeneinander abgewägt.
    Beim Gewicht ist es eine relativ einfache Sache: plump gesagt, je weniger desto besser. Schlank ist gut, ende der Geschichte. Zudem ist es natürlich das einfachste um sich zu vergleichen, da Körper als erstes gesehen und bewertet werden (können).

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  18. Vielen Dank für diesen schönen, nachdenkenswerten Artikel!
    Ich finde mich da schon wieder – mit einem Kind im Abi-Alter, da fühle ich selbst, wie ich unter Strom sehe, vor lauter gefühlter Konkurrenz, die gar nicht mich betrifft, sondern mein Kind. Ich nehme mir da aus dem Artikel mit, darauf zu achten, diesen Druck, der in der Luft liegt, nicht einfach nur auf- und weiterzugeben, sondern genau hinzuschauen.

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  19. Ich kann deinem Artikel insofern zustimmen, als ich glaube, dass in Zeiten der Unsicherheit allgemein, Übergang zum Berufsleben, z.B., das körperliche Selbstbewusstsein besonders bei Frauen, ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen wird. In meinen Zwanzigern, als ich noch studierte, war das jedenfalls so. Ich nahm die Pille und 5 Kilo zu. das störte mein Selbstbild erheblich, also machte ich Diäten. Außerdem war diese Zeit sowieso anfällig für Schwankungen bei mir. Als ich berufstätig war und dabei Krisen hatte, nahm ich auch wieder zu und fand mich insgesamt total doof und unattraktiv. Erst als ich im Beruf gesettled war und auch zufrieden,, sagte ich mir: Schluss mit den Diäten, vergiss es einfach, und von stundan hatte ich immer die gleiche Figur, einigermaßen schlank. Es war kein Thema mehr.
    Möglicherweise sollten wir uns mehr um Zufriedenheit mit der Lebenssituation kümmern, Beruf, Beziehungen, leidenschaftliche Freizeitbeschäftigungen etc, dann ergibt sich der Rest.
    Und übrigens, wer sagt uns denn, dass diese „schönen Menschen“ glücklich sind. Das ist keine Garantie, nicht mal eine Bedingung, sag ich mal. Dafür gibt es massenhaft Beispiele.
    viele Grüße
    Anna

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  20. Ein interessanter Artikel. Was mir immer wieder auffällt, sind die Widersprüche, die sich seit der sexuellen Revolution (so denn sie wirklich eine war) in Bezug auf Männer- und Frauenbilder in der Gesellschaft aufgetan haben. Als Beispiel nehme ich mal ein Kleidungsstück, den Mini-Rock. Als er aufkam, gab es großes Geschrei in einer bislang arg konservativen Gesellschaft. Wir Männer hatten anscheinend in den 60ern große Probleme damit, dass Frauen selbst bestimmen konnten, was sie anziehen und so selbst bestimmen konnten, ob sie sexy sein wollten, wann es ihnen gefiel (von Chefs, die Frauen feuerten wegen des Mini-Rocks hin über zu halbstarken Idioten in den Innenstädten, die Frauen als laufende Fleisch-Schau mehr oder minder laut durch-kommentierten). Und zur gleichen Zeit veränderte sich auch das Ideal der Frauenkörper. Die eher dicken Frauen fühlten sich zu dick für diese Kleidung, lange, schlanke und junge Frauen trugen den Mini-Rock, und die Wirtschaft vermarktet seitdem diesen Körper. Mit allen bekannten Folgen. Die Bewertung des Körpers seitens der Männer (und Frauen) an Frauen begann – meines Erachtens – mit der Befreiung und Selbstbestimmung der Frau mit der Kombination einer sich heftig entwickelten Marketing- und Werbewelt eher zuzunehmen…obwohl gerade das doch aufhören sollte. Nun frage ich Sie als Expertin, gibt es hier einen – wenn auch widersprüchlichen – Zusammenhang oder sind das einfach nur Phänomene, die zeitgleich abliefen und laufen?

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  21. @T.Gizbili – Ich glaube, das hängt damit zusammen, dass immer sehr viel darüber gesprochen wird, was Frauen (nicht) tun sollen, und weniger darüber, was weibliche Freiheit bedeutet. Also die Frage ist nicht: Trägt eine Frau kurze oder lange Röcke, sondern: Trägt sie den Rock, den sie trägt (oder das Kopftuch oder die Stöckelschuhe…), weil sie ihn tragen will, oder weil sie sich dabei Konventionen anpasst? Viele meinen, man könne an dem, was eine Frau tut, ablesen, ob sie eine freie Frau ist oder nicht. Das stimmt aber nicht.

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  22. Dem stimme ich zu. Freiheit kann alle Formen annehmen, sonst wäre es keine Freiheit. Aber mir ging es eher um gesellschaftliche Entwicklungen, nicht um individuelle Entscheidungen. Auch wenn beide sich gegenseitig bedingen, gibt es Differenzen. Eine Frau kann sich frei entscheiden, z.B. ein Kopftuch zu tragen, das wird sie nicht davor schützen, als vermeintlich unterdrückte Kopftuch-Ayse abgestempelt zu werden. Auch von vermeintlich seriösen Medien. So ähnlich sehe ich das mit weiblichen Körpern und Schönheitsidealen. Die freie Frau wird ebenso vermarktet wie die unfreie Frau, es ist nicht wichtig, warum sie so aussieht, sondern dass sie so aussieht. Zumindest medial.

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  23. Pingback: Anonymous
  24. Schöner Artikel, nachdenkenswert.

    Wenn man es weiterdenkt, bezieht sich das ja auf noch viel mehr. Ich bin Architektin, mir fallen die unglaublich hässlichen Vororte immer auf, die sind hässlich, weil jeder unbedingt etwas Besonderes haben will: alpenländische Schnitzerei neben Postmoderne, neben toskanischer Farbenorgie neben Bauhaus. Lieber sind mir da die ganz banalen Siedlungen der 50er und der 60er. Die sind aber eben auch Mittelmaß. Keiner will MIttelmaß sein, in keinem Bereich.

    Allerdings, bei den Models, da ärgert es mich auch noch anders: Ich will die gar nicht als Besonders ansehen, vor allem nicht, wenn es um Mode geht, die mir verkauft werden soll. Das fand ich schon immer unmöglich: Ich bin klein und kompakt, mir steht schon aus Prinzip diese Mode nicht, die an langen dünnen Frauen gezeigt wird. Das ist nicht meine Welt. Wenn die Modezeitschrift mir die MOde verkaufen will, soll sie gefälligst die Mode auch an normalen Frauen präsentieren.

    Für alles andere ist es ein guter Ansatz, zu sagen: Seh die Garbo in anderen.
    Tine

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  25. frkirsche: Hinzu kommt, dass die Dominanz individualisierungstheoretischer Denkmuster suggeriert, dass es ein_e jede_r schaffen könne, das böse Mittelmaß zu verlassen, dabei ist soziale Mobilität kaum möglich und ganz bestimmt nicht auf Grundlage von “Fleiß” oder “Biss”.

    Wenn der Tellerwäscher nicht Millionär werden kann, ist dann soziale Mobilität kaum möglich? Klingt das nicht auch ein bisschen nach Heidi Klum? Was war und ist soziale Mobilität?

    Beim sozialen Aufstieg, der vor einigen Jahrzehnten noch leichter war als heute, ging es eher nicht darum, vom Tellerwäscher zum Millionär zu werden oder von der Verkäuferin zum Top Model. Sondern die Sache war erfolgreich, weil der Arbeitersohn eine Facharbeiterlehre machte und vielleicht noch eine Technikerprüfung, und die Tochter der Krankenschwester ihr Abi machte und dann im öffentlichen Dienst weniger Plackerei hatte als die Mutter. Man könnte auch sagen, es war ein Aufstieg innerhalb des Mittelmaßes, und das war damals noch was.

    http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/menschen-wirtschaft/chancengerechtigkeit-die-neue-klassengesellschaft-12204524.html

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  26. „Beim sozialen Aufstieg, der vor einigen Jahrzehnten noch leichter war als heute,…“

    Vor einigen Jahrzehnten gab es aber auch immer noch sehr viele erwachsene, bildungsorientierte Menschen, die ganz andere Laufbahnen hätten einschlagen können, hätte nicht der zweite Weltkrieg ihre Jugend beeinträchtigt. Man hat Leute im Kohlebau gefunden, die Mathematikbücher studierten, Friseure, die Experten für Ethnologie waren, Lagerarbeiter, die sich mit Opern auskannten usw. usf.

    Und wir Kinder dieser Leute haben nichts weiter als ein großes Du-darfst-und-umso-besser gehört, wenn wir Aspirationen entwickelten.

    Heute ist das nicht mehr so – und Kinder finden vor allem im Elternhaus auch nicht mehr den nötigen Rückhalt, um über Bildung diese Art Aufstieg schaffen zu können, so wie ich das bei vielen mitbekomme.

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  27. @Irene und Andreas: Wenn Menschen mit einem akademischen Abschluss über Aufstieg durch Bildung diskutieren, sehen sie als Gradmesser nur die Hochschulabschlüsse. Das ist aber zu kurz geblickt.

    Tatsächlich gibt es mehr Wege des Aufstiegs durch Bildung. Dazu gehören die Aufstiegsfortbildungen in der Industrie und im Handwerk, aber auch die Techniker-Fortbildungen. Diese Bildungswege gehen jährlich zehntausende Menschen in Deutschland. Sie sind nachher zwar nicht Bachelor, Master oder Diplomingenieur. Sie werden auch nie eine Doktorarbeit schreiben. Aber sie erschließen sich den wirtschaftlichen Aufstieg durch Bildung und Bildungsabschlüsse.

    Die tatsächliche Nachfrage nach solchen Mitarbeitern ist auf vielen Gebieten höher als die Nachfrage nach Mitarbeitern mit einem akademischen Abschluss. Die Handwerksmeister, Industriemeister, Betriebswirtinnen oder Bilanzbuchhalterinnen verdienen mehr Geld als eine Reihe von Akademikerinnen und Akademikern, deren Abschluss nicht nachgefragt wird. Das gilt übrigens auch für die Facharbeiter bei BMW, Audi, Daimler und VW.

    Deshalb widerspreche ich Irene: In der Industrie ohne akademischen Abschluss gut zu verdienen ist kein »Aufstieg im Rahmen des Mittelmaßes«. Es bedeutet: Da hat jemand das beste aus seinen Möglichkeiten gemacht.

    Die Politik führt ihre Statistiken nach dem althergebrachten Maßstab der Akademiker: Wer einen Hochschulabschluss besitzt, der hat den Aufstieg geschafft. Das greift aber zu kurz und es stimmt so pauschal schon lange nicht mehr. Es gab vor einigen Jahren in der ZEIT ein Dossier über einen Mitarbeiter des Arbeitsamts, der ausschließlich für Menschen mit akademischen Berufen zuständig war. Es ist aus vielen Perspektiven lesenswert – nicht nur, um die eigene Meinung bestätigen zu lassen. Es heißt: »Der gute Müller« von Stefan Willeke.

    @Antje Schrupp: Greta Garbo musste sich zu ihrer Zeit gegen harte Konkurrenz durchsetzen – nur hat diese Konkurrenzkämpfe in der Öffentlichkeit kaum jemand wahrgenommen. Es entspricht der Logik in der Filmindustrie, dass viele sehr schöne und begabte Schauspielerinnen um ganz wenige Spitzenrollen konkurrieren. An der Spitze ist die Luft immer sehr dünn.

    Das Format der Sendung von Heidi Klum kenne ich in erster Linie aus Artikeln im Feuilleton. Ich habe aber ganz am Anfang auch mal einen Teil einer Sendung gesehen. Es war schon nach kurzer Zeit erkennbar, dass es sich um eine inszenierte Pseudo-Konkurrenz handelt, die einzig den Interessen des Senders und des Werbe-Umfelds dient. »Germany’s Next Topmodel« sagt mehr über das Privatfernsehen und sein Publikum aus, als über den Wettbewerb in unserer Gesellschaft. Frau Klum ist eine begabte »Polarisatorin« und Selbstdarstellerin – übrigens auch ohne akademischen Abschluss 😉

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  28. Auch die Frauenpolitikerinnen der Grünen sind im Heidi-Klum-Modus und vernachlässigen das Mittelmaß: Es geht nur noch um die Quote für Frauen an der Spitze.

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  29. Die tatsächliche Nachfrage nach solchen Mitarbeitern ist auf vielen Gebieten höher als die Nachfrage nach Mitarbeitern mit einem akademischen Abschluss. Die Handwerksmeister, Industriemeister, Betriebswirtinnen oder Bilanzbuchhalterinnen verdienen mehr Geld als eine Reihe von Akademikerinnen und Akademikern, deren Abschluss nicht nachgefragt wird. Das gilt übrigens auch für die Facharbeiter bei BMW, Audi, Daimler und VW.

    Die Langfassung davon steht hier – Lesetipp:
    http://www.zeit.de/2010/21/Realschule-oder-Gymnasium

    Deshalb widerspreche ich Irene: In der Industrie ohne akademischen Abschluss gut zu verdienen ist kein »Aufstieg im Rahmen des Mittelmaßes«. Es bedeutet: Da hat jemand das beste aus seinen Möglichkeiten gemacht.

    Stefanolix, das ist für mich gar kein Widerspruch! Den Ausdruck „Mittelmaß“ habe ich ja im Bezug auf Antjes Beitrag verwendet. Mein Punkt ist, dass vieles, was nicht absolute Spitze ist, unterschätzt wird.

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  30. Vielen Dank für diese guten Gedanken! Ganz ohne Vergleich zu anderen, einfach nur gut! 🙂
    Das Mittelmaß, der Durchschnitt – warum muss das immer negativ sein?
    Durchschnitt kann auch gut/schön/erstrebenswert sein. Ein Beispiel gefällig? Bitteschön: http://wp.me/p3usyN-2U

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  31. Mir fallen dazu mehrere Dinge ein.

    Erstens gibt es immer einen Trend und einen Gegentrend. Je mehr die breite Masse sich uniformiert, desto mehr Einzelne suchen und finden ihren individuellen Weg, der in der entgegen gesetzten Richtung liegt. Leider formt sich da auch wieder recht schnell eine einheitliche Masse, wenn z.B. viele Frauen nach demselben Schnittmuster aus den gleichen Stoffen Kleidung nähen und dann doch wieder einheitlich rumlaufen, besonders beliebt bei Sew Alongs nach einem vorgegebenen Schnittmuster oder Knit Alongs nach einen bestimmten Strickmuster. Wo ist das noch kreativ?

    Zweitens ist das schlanke Schönheitsideal die Basis für eine gewaltige Industrie. Fitnessstudios, Aerobicvideoproduzenten, Light-Produkte-Hersteller, Cellulite- und Straffungscreme-Marken, Weight Watchers, Frauenzeitschriften usw. verdienen viel Geld damit, dass wir uns zu dick fühlen. Und durch den Stress, den das verursacht, weil wir ja neben dem Abnehmen noch Beruf, Haushalt und Kinder wuppen müssen, werden wir eher dicker bzw. halten trotz Diät und Sport gerade so unser Gewicht. Prima für die o.g. Industrie. Deshalb wird sich das Schönheitsideal auch nicht wieder in Richtung dick ändern, denn das wäre ja viel zu einfach zu erreichen. Und ist ein Ziel, das leicht zu erreichen ist, überhaupt erstrebenswert? Dafür wird doch niemand bewundert. Wenn dick gleich schön ist und alle dick sind, wären doch nicht alle glücklich. Wir wollen ja immer etwas besser sein als die Nachbarin, Kollegin oder Freundin. Aber warum eigentlich?

    Ich versuche schon seit einiger Zeit, mich nicht mehr mit anderen zu vergleichen, neidisch zu sein und zu lästern, weil das nur mein Leben vergiftet. Statt dessen schaue ich auf die Dinge, die mir an anderen Menschen gefallen, egal ob beim Aussehen oder am Charakter. Manchmal überlege ich, ob ich die eine oder andere Sache nachmachen möchte. Mir selbst geht es damit deutlich besser. Letztendlich ist doch auch hier jeder seines Glückes Schmied. Wir müssen uns nicht vergleichen und unglücklich machen. Wir dürfen einfach glücklich sein.

    Liebe Grüße,
    Henriette

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  32. @Henriette

    Bei einem Schönheitsideal nur industrielle Interessen im Hintergrund zu vermuten, greift zu kurz.
    Exklusiv ist immer, was nicht jeder haben kann, sondern einer kleinen Minderheit vorbehalten ist. Die Tupperware-Salatschüssel ist im Vergleich zur Rolex kein Statussymbol, da billig und der Masse zugänglich. Bei Schönheitsidealen ist es ähnlich – in Gesellschaften mit einem Kalorienmangel ist es schick, fülliger zu sein, denn dünn ist die Norm. Mehr zu essen können sich nur die Reichen leisten. In einer Gesellschaft mit Kalorienüberangebot ist es schwieriger, dünn zu bleiben, ergo dünn = schön. Die Industrie fördert das natürlich auch, aber „rar = exklusiv = doll“, das steckt schon in uns drin.

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  33. „ … das chronische Gefühl des Nicht-Genügens einfach mal rauszulassen, mit anderen zu teilen.“ Ich vermute, dass es da noch andere Aspekte gibt, die Menschen veranlassen, anderen gegenüber ihr vermeintliches Übergewicht, oder Unsportlichkeit, ungesunde Ernährung, das Bier zu viel. usw. zu kommentieren. Zum einen kann es heißen: ich bin mir bewusst darüber, dass ich ungenügend bin , also immerhin weiß ich es, auch wenn ich jetzt trotzdem weiter esse, sitze, trinke. Dahinter steckt vielleicht der Gedanke, dass man es mit dieser ‚Erkenntnis‘ zumindest halbwegs zurück in den Kreis schafft.
    Es könnte aber auch eine Form der behauptetetn Selbstermächtigung sein: „Ich kenne die Normen, aber sie sind mir egal.“ Was vermutlich so ganz nicht stimmt, also das mit dem egal, denn sonst wäre es wahrscheinlich nicht nötig, es zu auszusprechen. Aber wer weiss es, wie es im Einzelfall so bestellt ist?

    Im umgekehrten Fall Aussehen ist ja auch eine unkomplizierte Möglichkeit sich aufzuwerten.
    Und es ist doch meist auch der Leistungsgedanke mit an Bord; im positiven „Ich tu ja auch was dafür“, wie im negativen „Das krieg ich (auch) nicht auf die Reihe.“

    Warum weniger berufliche Ängste, oder persönlliche Glaubensätze diesbezüglich, mitgeteilt werden, ist eine große Runde nachdenken wert; denn als Thema ist es ja mehr als präsent.

    Was deine These zum „gemütlichen Leben“ von früher angeht möchte ich anzweifeln, dass das damals so empfunden wurde. Aus heutiger Sicht mag das eine schlüssige Einschätzung sein, aber eben nur weil der Vergleich zu früher möglich ist. Früher gab es ja auch schon ein Früher zum vergleichen, und meist geht doch die rede, dass „Früher alles besser war“.

    Danke jedenfalls für all diese gedanklichen Anregungen, dein Text läuft bei mir im Hinterkopf dauernd mit, seit ich ihn gelesen habe.

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  34. Ich vermute, dass es da noch andere Aspekte gibt, die Menschen veranlassen, anderen gegenüber ihr vermeintliches Übergewicht, oder Unsportlichkeit, ungesunde Ernährung, das Bier zu viel. usw. zu kommentieren.

    Ein bisschen Lamentieren ist oft ein Versuch, Gemeinsamkeit herzustellen, manche Leute sagen dann ja tatsächlich „ach ja, kenn ich“.

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  35. Haben deinen Beitrag gelesen und muss auch einfach mal Danke sagen. Du sprichst so viel an, was ich auch empfinde und worüber ich nachdenke.

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  36. Woher kommt denn nur immer diese Auffassung, Männer würden sich keine Gedanken um ihr Aussehen machen? Ich leide z.B. durchaus unter einigen Unzulänglichkeiten und dem zunehmenden Gewicht. Letzteres hat ja auch durchaus gesundheitliche Auswirkungen.

    Mir erscheint die Vorstellung, Schönheitsideale seien nur ein Produkt der Medien auch extrem naiv. Heisst das als dickbäuchiger, runzeliger 50-jähriger kann ich mir dann noch grosse Chancen bei knackigen 20-jährigen Feministinnen ausrechnen, weil diese völlig befreit von Schönheitsidealen sind, und natürlich auch Diskriminierung aufgrund des Alters ablehnen? So recht kann ich da noch nicht dran glauben (wenn die jungen Frauen nicht gerade einen Vaterkomplex ausleben wollen).

    Das ganze Getue um Models scheint mir allerdings noch eine andere Dimension haben. Für Männer sind Models eigentlich nicht wirklich attraktiv, abgesehen vom sozialen Status entsprechen sie ja nicht wirklich dem was Männer durchschnittlich anzieht. Die Model-Sache scheint vor allem Frauen untereinander zu betreffen – die meisten Models machen doch auch hauptsächlich Fotos für Frauenmagazine oder Kataloge die hauptsächlichg von Frauen konsumiert werden. Also denke ich hier geht es eher um Konkurrenz von Frauen untereinander.

    Die ganzen „Werde Superstar“-Sendungen sind natürlich sowieso abzulehnen, wobei ich persönlich finde wer sowas anschaut ist auch selber Schuld. Also würde ich sowas auch nicht verbieten. Anzuprangern ist vielleicht das unsere Gesellschaft auch sonst zu sehr das Jury-Prinzip propagiert, angefangen mit der Schule – es geht nur noch darum vor einer Jury zu bestehen, nicht wirklich etwas grundlegendes zu leisten.

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