„Kämpfen ohne zu hassen, Auflösen ohne zu zerstören“

Ohnmachts-Erfahrungen gibt es im Bereich des Politischen viele. Oft scheint es, als müssten wir uns damit abfinden, dass es Kriege gibt, dass die Umwelt zerstört wird, die Armen immer ärmer und die Reichen immer reicher werden, die Geheimdienste uns alle ausspähen und so weiter.

Diese Diagnose, dass Politik zunehmend ohnmächtig erscheint, war bereits Ausgangspunkt für das Buch „Macht und Politik sind nicht dasselbe“, in dem die Autorinnen ausloten, wie eine Politik, die nicht auf instrumentelle Macht setzt, vielleicht aus dieser Ohnmacht herauskommen könnte. Eine von ihnen, Luisa Muraro, wendet sich nun in einem kleinen Büchlein einem weiteren Aspekt zu, und zwar der Frage nach der Gewalt. Angelika Dickmann und Gisela Jürgens haben es unter dem Titel „Stärke und Gewalt“ ins Deutsche übersetzt.

buecher92Den Kerngedanken von „Dio è violent“ (wie der Originaltitel lautet) hat Dorothee Markert in ihrer Rezension so zusammengefasst: „Wenn wir von vornherein und grundsätzlich die Möglichkeit ausschließen, bei unserem Handeln auch einmal die Grenze zur Gewalt zu überschreiten, dann nehmen wir uns selbst Stärke, verzichten auf die volle Kraft, die wir eigentlich zur Verfügung hätten.“ Ich empfehle euch, ihren Artikel ganz zu lesen!

Die Gewaltfrage ist ja für sozialrevolutionäre Bewegungen nichts Neues, aber normalerweise geht es vor allem um Aspekte der Moralität („Darf man Gewalt anwenden oder nicht?“) oder der Effektivität („Nützt Gewalt der guten Sache oder ist sie kontraproduktiv?“).

Muraro hingegen interessiert die Frage der inneren Haltung im Zusammenhang mit der politischen Erzählung des „Gesellschaftsvertrags“, der die Grundlage westlicher Demokratien und Staatsverständnisse ausmacht. Dieser Erzählung zufolge haben die Einzelnen auf ihr Recht der Gewaltanwendung verzichtet und das Gewaltmonopol dem Staat übertragen, weil sie vernünftigerweise eingesehen haben, dass das Leben für alle unterm Strich dann besser ist.

Muraro vertritt nun die Ansicht, dass dieser Gesellschaftsvertrag aufgekündigt wurde, dass diese Erzählung tot ist, dass dieses Prinzip nicht mehr funktioniert, und dass das formale Weiterbestehen dieser Übereinkunft inzwischen mehr Schaden anrichtet als positiv auf das Zusammenleben der Menschen einzuwirken. Und dass es deshalb notwendig ist, die Gewaltfrage wieder auf den Tisch zu bringen. Denn für einen ganz normalen Menschen stelle sich die Situation derzeit so dar:

„Dies ist die wahre Substanz des stillschweigenden und alltäglichen Gesellschaftsvertrags: sich mit den Nächsten zu vertragen, die Gesetze zu berücksichtigen und denen zu vertrauen, die öffentlich Verantwortung übernommen haben. Um im Gegenzug persönliche Würde im Kontext eines vernünftigen und friedlichen sozialen Lebens zuerkannt zu bekommen. Das geht so lange, bis  diese Person erfährt, dass in ihrem Auftrag Flugzeuge losgeschickt werden, die Bomben auf Häuser von ahnungslosen und unschuldigen Menschen werfen, Soldaten Gefangene quälen, Wissenschaftler immer mörderischere Apparate entwickeln, üppige Geschäfte gemacht werden mit dem Verkauf von ausgeklügelten Waffen an Länder, die nicht einmal genug Schulen und Krankenhäuser haben. Als ob das normal oder unausweichlich sei. Der Mensch, von dem ich spreche, kann an diesem Punkt protestieren, schweigen, erkranken. Er kann aber auch etwas anderes machen, das ich als Alternative vorschlage: Er kann seinen stillschweigenden Konsens mit der Ordnung, die das Zusammenleben reguliert, aufkündigen. Und sich in einem inneren Akt, der praktische Konsequenzen haben wird, sagen: Ich mache nicht mehr mit. Ich vertraue den Gesetzen und offiziellen Instanzen nicht mehr, ich hole mir die gesamte Verfügbarkeit über mich und meine Stärke zurück, ich selbst muss sie verwalten, egal wie groß oder klein sie ist, und ich gebe mir die Erlaubnis, sie zu gebrauchen.“ (25f).

Es waren vor allem zwei Ereignisse, die Muraro anregten, über das Thema nachzudenken: Die brutale Polizeigewalt gegen linke Aktivistinnen und Aktivisten beim G-8-Gipfel in Genua im Juni 2001 und die Anschläge in den USA am 11. September desselben Jahres und die darauf folgenden Anti-Terror-Maßnahmen, die – nicht nur in Guantanamo – sämtliche rechtsstaatlichen und völkerrechtlichen Prinzipien, die sich aus dem Gesellschaftsvertrags-Modell ergeben, untergruben. Heute könnte man sicherlich noch die NSA- und Überwachungs-Skandale nennen.

Wie können wir politisch handeln, wenn wir erkennen müssen, dass der Gesellschaftsvertrag, auf den sich moderne Demokratien stützen, nicht mehr gilt? Das ist für Muraro keine pessimistische Frage, denn sie zeigt, dass dieser Gesellschaftsvertrag ohnehin nie real war, sondern immer nur eine Erzählung der Moderne. Speziell für Frauen ist sein nun auch symbolisches Verschwinden umso leichter zu verwinden, als sie ja von Anfang an explizit davon ausgenommen waren: Der Gesellschaftsvertrag schützte immer nur (freie) Männer vor der Gewalt anderer Männer, aber zum Beispiel nicht die Frauen vor der Gewalt ihrer Ehemänner. Vergewaltigung in der Ehe etwa ist ja erst seit kurzem verboten, häusliche Gewalt erst ein politisches Thema, seit die Frauenbewegung in den 1970ern das zur Sprache brachte.

Die erste Einsicht, wenn man die Erzählung vom Gesellschaftsvertrag nicht mehr glaubt, lautet: Politisches Handeln, das wirksam sein will, kann sich nicht darauf verlassen, dass die Staaten, also Polizei, Militär und Gerichte, letztlich dafür zuständig sind, die Dinge zu regeln, und dass es zur Erfüllung staatsbürgerlicher Pflichten also genügt, sich an politischen Prozessen wie etwa Wahlen zu beteiligen. Für „Verschwendung“ hält Muraro daher auch „die Sprache des Protests, der sich an die Regierenden wendet“, und der noch immer einen Großteil politischer Debatten – gerade der Linken und der Feministinnen – ausmacht (wie ein beliebiger Blick auf Twitter zeigt). Aber, so Muraro: „Die Parolen der Entrüstung sind erbärmlich (nicht der Protest, der damit einhergeht). Es fehlt gewiss nicht an Gründen, um sich zu entrüsten, aber es fehlt offensichtlich der Adressat: Es gibt keine politische Autorität mehr, die der Sache gewachsen ist.“ (S. 34)

Die klassische Strategie der Gewaltlosigkeit, die ja teilweise auch radikal staatskritisch ist, funktioniere heute nicht mehr, denn sie braucht ein Ideal, anhand dessen sich die Arroganz der Herrschenden vorführen lässt: Früher war das das Reich Gottes, später das Ideal des Fortschritts, der dafür sorgt, dass es allen immer besser geht. Solange ein solches Ideal wenigstens theoretisch angestrebt wird, lässt es sich auch als Argument gegen Verstöße dagegen verwenden, man kann den Herrschern ihre Gotteslästerlichkeit vorhalten oder den Regierenden ihre Verletzung des Gleichheitsprinzips. Doch inzwischen hat man sich von beidem verabschiedet, es gibt kein Ideal mehr, sondern die offizielle Politik hat dahingehend kapituliert, dass die Reichen und Starken sich das Beste aus der Welt rausholen auf Kosten aller anderen und sieht ihre Aufgabe nur noch darin, den Ablauf dieser Zwangsläufigkeit ein wenig milder zu gestalten. Aber, schreibt Muraro, „die Feststellung, dass wir nicht mehr vom Traum animiert sind, allen werde es besser gehen, ist ein Todesstoß für das Ideal der Gleichheit und die Politik der Rechte. Es gibt eine Gewalt in den Dingen und zwischen den Lebenden, die auf eine Rückkehr des Gesetzes des Stärkeren hindeutet: Darüber müssen wir nachdenken.“ (37)

Wenn aber das Gesetz des Stärkeren zurückkehrt – also die Welt des „Jeder gegen Jeden“, für das der Gesellschaftsvertrag durch die Einhegung individueller Gewalt eine Lösung versprochen hat – dann ist die Frage, wie wir, die wir für eine gerechtere und bessere Welt eintreten möchten, angesichts dieser Situation handeln sollen und können. Gisela Jürgens schreibt im Vorwort zur deutschen Ausgabe: „Deutlich wird stets, dass die einzige Macht, die wir haben, die ist, gegenwärtig zu sein und über die eigene Kraft zu verfügen. Frei über sie zu verfügen, darin liegt die Stärke.“

Dabei müssen wir uns natürlich klar machen, dass es einen fließenden Übergang gibt zwischen konsequentem Einsatz der mir zur Verfügung stehenden Kraft – und Gewalt. Es ist nicht möglich, eine klare Grenze zu ziehen, wie es Theorien der Gewaltfreiheit manchmal behaupten. Der zu suchende Maßstab, schlägt Muraro vor, liegt nicht darin, ob Gewalt angewendet wird oder nicht, sondern darin, ob das eigene Handeln – sei es nun gewaltsam oder nicht – richtig oder gerechtfertigt ist. „Richtig“ bezieht sich auf die angewandten Mittel im Sinne von Wirksamkeit (hat das, was ich tue, tatsächlich positive Auswirkungen oder schädliche?), das „Gerechtfertigt“ bezieht sich darauf, ob die angestrebten Ziele sinnvoll sind. Gesucht ist der Mittelweg zwischen einem zynischen „Der Zweck heiligt die Mittel“ und einem lähmenden „Ich darf nur tun, was gesetzlich erlaubt und gewaltfrei ist“.

Natürlich, und da haben diejenigen Recht, die für prinzipielle Gewaltfreiheit plädieren, ist der Einsatz von Gewalt sehr viel weniger wirksam als immer behauptet wird. Meistens erreicht man damit das Gegenteil von dem, was man wollte, und Nicht-Handeln (im Sinne von nicht Kollaborieren) ist fast immer der effektivere Weg. Die Frage, die Muraro aufwirft, ist aber diejenige, ob das wirklich prinzipiell, also ausnahmslos immer der Fall ist, oder ob es nicht manchmal doch eben Situationen gibt, in denen es anders ist.

Wir sind hier bei der Diskussion über „gerechten Krieg“, die inzwischen diskreditiert ist, weil wir das Mantra „gerechte Kriege gibt es nicht“ gelernt haben – aber leider nur, um uns daran zu gewöhnen, dass nützliche und „unvermeidliche“ Kriege inzwischen an der Tagesordnung sind. Es scheint, als ob niemand mehr die Frage danach, ob ein Krieg „gerecht“ ist, überhaupt stellt, weil Krieg inzwischen schlicht ein Fakt ist so wie Regen.

Muraro, die selbst nicht an Gott glaubt, zieht den Begriff „Gott“ heran, um eine gerechte Gewalt, so wie sie sie für nötig hält, zu beschreiben, und zwar, weil es notwendig ist, den Aspekt der Transzendenz hier zu berücksichtigen: „Es handelt sich darum, eine Gewalt zu denken, die nicht das Instrument von irgendjemandem ist, die sich das Recht nicht aneignen kann, indem es sie rechtfertigt, und die niemand sich aneignen kann.“ (40)

Ihr Punkt ist, dass es keine Definition dieser gerechten Gewalt geben kann, dass es sich hierbei vielmehr um Entscheidungen handelt, die einzelne Menschen in einer jeweils konkreten Situation treffen müssen, ohne sich dabei auf Regeln oder Gesetzmäßigkeiten berufen zu können, und bei denen sich immer erst im Nachhinein herausstellt, ob die Anwendung von Gewalt richtig und gerechtfertigt war. Ein krasses Beispiel, das sie hier anführt, sind die UN-Truppen in Srebrenica, die dabei zusahen, wie die Bevölkerung von serbischen Truppen massakriert wurde – obwohl sie zweifellos die nötige Stärke gehabt hätten, das zu verhindern.

Die Frage ist: Sind wir bereit, in einer gegebenen Situation die ganze notwendige Kraft und alle Stärke, die wir haben, einzusetzen? Oder schließen wir schon von vornherein ein bestimmtes Handeln aus? Im Prinzip ist der Rekurs auf Gewalt hier nur das Auf-die- Spitze-Treiben genau dieser Frage, denn „die ganze notwendige Kraft“ umfasst natürlich noch sehr viel mehr als den Einsatz von Gewalt. Zum Beispiel die Bereitschaft zu harten Auseinandersetzungen, oder dazu, sich unbeliebt zu machen, oder das entschlossene Eingreifen in Situationen, auch wenn mir persönlich daraus vielleicht Nachteile entstehen.

Der entscheidende Punkt, an dem sich Muraros Vorschlag andererseits von militanten Konzepten des politischen Kampfs unterscheidet, die den Einsatz von Gewalt rechtfertigen – sowohl auf Seiten von Staaten und Militärs als auch auf Seiten von „linken“ Bewegungen wie etwa der RAF – ist ihr kategorisches Beharren darauf, dass Gewalt niemals ein Mittel zum Zweck sein kann:

„Dass Gewalt ein Mittel ist (ein Mittel der Politik oder Justiz), welches sich auf die eine oder andere Art gebrauchen lässt, für oder gegen das Machtsystem, ist eine falsche und schädliche Annahme. Die Gewalt steht uns nicht zur Verfügung, eher umgekehrt. Wenn wir tiefer schauen, ist in der Gewalt der Ausdruck einer Potenz zu erkennen, welche die Menschen nicht kontrollieren; meist ist sie blind und destruktiv, doch manchmal, von Zeit zu Zeit, kann sie einen Sinn bekommen und sich denjenigen auferlegen, die einen Sinn für Gerechtigkeit haben, und so gerechte Gewalt werden. Auf jeden Fall ist es falsch zu glauben, mit der Gewalt alles tun zu können – sie gebrauchen oder darauf verzichten, als ob es den Menschen offen stünde, sie sinnvoll einzusetzen, und als ob es eine freie Option wäre, darauf zu verzichten, und nicht ein von außen auferlegter Zwang, der uns auch auf unsere Stärke verzichten lässt.“ (53f)

Wahrscheinlich ist dieser Punkt am Schwierigsten zu verstehen, aber er ist gleichzeitig meiner Meinung nach auch der wichtigste.

Nachgedacht werden müsse schließlich auch über die „Virilität“ von Gewalt und Krieg, also die Verwobenheit von beidem mit Männlichkeitskonzepten. Wir befinden uns schließlich genau im hundertsten Jahr nach Beginn des Ersten Weltkriegs, der für Muraro ein Wendepunkt in der menschlichen Geschichte mit Gewalt ist: Der Moment, in dem Gewalt massenhaft und maschinell wurde, und jener Krieg, in den hunderttausende junge Männer mit Begeisterung zogen, um zu zeigen, dass sie männlichen Geschlechts waren (und wobei viele Frauen sie aus denselben Gründen bejubelten, es geht hier nicht um moralische Schuldzuweisungen, sondern um eine Analyse).

In diese Rubrik gehören ebenso Traditionen der Linken, von anarchistischen Terroranschlägen bis zum heutigen „Schwarzen Block“, der für Muraro das „objektive Komplizentum, die perfekte Verkörperung des Kontinuums von privater Gewalt, Kriminalität und Staatsgewalt“ ist (S. 63). Alles drei – private Gewalt, Kriminalität und Staatsgewalt – bedingt und stabilisiert sich gegenseitig, und ist tief in Vorstellungen von Männlichkeit eingewoben (weshalb Muraro auch der Ansicht ist, dass die Neuthematisierung von Gewalt heute von Frauen ausgehen muss).

Es geht jedenfalls nicht um einen Appell zu mehr Mut und Heldentum im politischen Kampf, ganz und gar nicht. Es geht nicht darum, „stärker“ zu werden, sondern darum, ob ich meine vorhandene Stärke – wie klein auch immer sie sein mag – einsetze oder nicht. Gewalt ist kein Mittel, schreibt Muraro am Ende des Büchleins, sondern „eine Manifestation“. Der Idee, Gewaltausübung könne als kalkuliertes, instrumentelles Handeln verstanden werden, setzt sie eine andere Art entgegen, bei der die Gewalt eher „herausgelassen“ wird: „Wut, der Wutanfall, der die würdige und richtige Reaktion des Menschen auf einen Übergriff und auf arrogante Gewalt ist, egal, von wem sie ausgeht, Gott, Mann, Frau oder Dingen… Der Wutanfall bewirkt, dass wir uns hochschwingen auf die enorme Stärke dessen, was uns vernichten will, und so können die Energien erneut fließen.“ (66f)

Aber wie viel der in uns vorhandenen Gewalt sollen wir herauslassen? Muraro bringt das auf folgende Formel: „So viel wie nötig, um zu kämpfen, ohne zu hassen, so viel, wie gebraucht wird, Bestehendes aufzulösen, ohne zu zerstören.“ (78)

Luisa Muraro: Stärke und Gewalt. Christel Göttert Verlag, Rüsselsheim, 78 Seiten, 7,50 Euro.

Ich bin Journalistin und Politologin, Jahrgang 1964, und lebe in Frankfurt am Main.

41 Gedanken zu “„Kämpfen ohne zu hassen, Auflösen ohne zu zerstören“

  1. Hochspannende Gedanken, die du uns hier von Luisa Muraro nahebringst, und ich kann auch nur bestätigen, dass die Rezension von Dorothee hervorragend ist. Ich werde mir das Büchlein bestellen.
    Zwei Dinge bleiben erst mal hängen. Die innere Haltung, dem „alten“ System die innere Gefolgschaft aufzukünden, das erinnert mich an die Denkumenta, wo eine Frau (mir fällt der Name grad nicht ein, sorry) aufstand und sehr klar beschrieb, dass das Patriarchat für sie aufhörte zu existieren, als nicht mehr daran glaubte. Da hat sie recht und das begegnet hier auch wieder. Bleibt die frage, was setze ich an die Stelle des „aufgegebenen“ Glauben. Diese Frage stellt Muraro auch, aber da lese ich jetzt erst mal ihr Buch selber.
    Das andere ist: Ich kenne viele Männer und Frauen, die in diesem politischen System Verantwortung tragen. Vom Stadtratsmitglied über MdB bis zum Mitglied im Europaparlament. Es sind oft engagierte, klare Menschen,die mit Leidenschaft hier tätig sind. Vielleicht in ihrer eigenen Analyse hier auch nicht weit weg sind von dem, was Muraro hier zu Gewalt und Aufkündigung eines alten Gesellschaftsvertrags schreibt. Und doch tragen sie immer wieder solche grauseligen Entscheidungen mit, durch das Heben ihrer Hand. Im Grundsatz kenne ich den Zwiespalt als kirchlicher Verantwortungsträger auch, ohne eine äußere Ordnung ist das Zusammenleben schwer und mit so einer Ordnung trage ich als Vorsitzender eines Presbyteriums schon die Verantwortung, im Rahmen dieser Ordnung zu handeln. Natürlich geht es hier um viel „kleinere“ Fragen, aber die Grundfigur ist die gleiche, Ich vermute, wenn ich eine/n MdB fragen würde, bekäme ich zur Antwort: Ja gefällt mir auch nicht, aber es gibt in einer Demokratie Mehrheiten usw. usw. Und das ist keine Ausrede, sondern ernsthaft so gemeint. Und irgendwer muss es ja auch machen, ich bin froh, dass ich weiß, es gibt auch Menschen in den politischen Gremien, die nicht auf Karriere und Macht aus sind. Aber was macht das mit ihnen? Kann Mann, Frau zu solch einer inneren Stärke kommen, das Mann/Frau auch in diesem Zwiespalt die grausamen Entscheidungen mittragen kann oder muss irgendwann ein Schnitt gemacht werden? Und dann rückt eine, ein Andere_r nach, der nicht so nachdenkt? – Dieser innere Zwiespalt beschäftigt mich als kirchlicher Verantwortungsträger (und das als Pfarrer noch „qua Amt“, ich kann nicht meine Mitwirkung im Presbyterium einfach niederlegen, dann müsste ich zugleich auch meine Tätigkeit als Pfarrer beenden). Mal schauen, vielleicht führt die Lektüre der 70 Seiten mich hier weiter.

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  2. @Matthias – Die Frage, wie man innerhalb des politischen Systems Verantwortung tragen kann, steht ja im Zentrum des Buchs „Macht und Politik sind nicht dasselbe“, das imho geradezu eine ARt von Leitfaden für diese Frage ist. Kurz und knapp: Indem man sich der Logik der Macht entzieht und der Versuchung, Macht als Instrument für gute Ziele zu verwenden, und stattdessen auch an diesen Orten versucht, im Wirklichen Sinne politisch zu handeln, also außerhalb dieser Logik.

    Ansonsten: Ich kann ja auch im Rahmen einer Ordnung handeln, ohne alle ihre Regeln zu teilen, wichtig ist, dass ich die innere Unabhängigkeit habe, zu sagen: Ich entscheide es in jedem einzelnen Fall erneut, ob ich mich daran halte, oder ob ich meine Stärke gegen diese Ordnung einsetze. Und viele dieser ernsthaft mit guten Absichten ausgestatteten „Funktionsträger_innen“ haben diese innere symbolische Unabhängigkeit nicht, das merke ich oft im Gespräch mit ihnen, wo sie mir gegenüber die prinzipielle Richtigkeit des Systems sehr vehement betonen. Es scheint wirklich so eine Alternative zu sein: Entweder man ist systemkritisch und dann ganz raus, oder man ist systemimmanent, dann erlaubt man sich und anderen keine grundlegende Kritik daran.

    Ich bin aber überzeugt, dass das nicht notwendig ist, sondern dass man innerhalb von Systemen und Ordnungen mit einer inneren symbolischen Unabhängigkeit wirken kann. Das ist imho der Kern der Zwei-Reiche-Lehre (aber das führt jetzt zu weit, darüber will ich schon dauernd mal bloggen :))

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  3. ich finde diesen text sehr spannend (zugegeben auch deshalb, weil es einer der texte ist, den ich nicht beim ersten lesen gleich verstehe), aber auch, weil mich das thema „abkehr von konzepten“ derzeit eh umtreibt. So etwa die Frage, warum frauen symbolisch zu menschen gerechnet werden wollen. kann frau nicht aus der menschheit austreten, außerhalb der reihe tier-mensch-gottheit? welche konsequenzen hätte das? und, dazu die frage, die mich auch mit der wieder zurücknahme der eigenen gewalt, die sie oben darlegen beschäftigt, wenn die mehrheit um eine herum diese konzepte annimmt, wird eine dann nicht sofort wieder eingetaktet, wie etwa durch den automatisierungsprozess „polizei“?

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  4. @Antje – Vielen Dank für diesen Beitrag mit Buchbesprechung.
    „Stärke und Gewalt“ werde ich mir sogleich bestellen.

    Du zitierst u.a. daraus:
    „Auf jeden Fall ist es falsch zu glauben, mit der Gewalt alles tun zu können – sie gebrauchen oder darauf verzichten, als ob es den Menschen offen stünde, sie sinnvoll einzusetzen, und als ob es eine freie Option wäre, darauf zu verzichten, und nicht ein von außen auferlegter Zwang, der uns auch auf unsere Stärke verzichten lässt.“ (53f)

    Wahrscheinlich ist dieser Punkt am Schwierigsten zu verstehen, aber er ist gleichzeitig meiner Meinung nach auch der wichtigste.“
    Ja, wirklich nicht einfach zu verstehen. Kannst du diesen Punkt
    noch konkretisieren?
    Ist damit evtl. auch so was wie Zivilcourgage gemeint, also z.B. trotz Demonstrationsverbot zu demonstrieren, trotz des Wissens um einen sog. Straftatbestand sich an Hausbesetzungen, Sitzblockaden zu beteiligen?

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  5. @Ute – Ja, schon irgendwie, wobei Zivilcourage auch ein bisschen den Tonfall hat, dass wir nicht feige und schwach sein dürfen, geht also in Richtung Heldentum, was nicht gemeint ist. Es geht so um das Bewusstsein, dass Gewalt etwas ist, worüber ich nicht verfügen kann, weder indem ich sie instrumentell einsetze, aber ich kann auch nicht darauf verzichten, solange ich die symbolische Unabhängigkeit, um die es Muraro geht, nicht habe. Also nur wenn ich nicht mehr prinzipiell auf Gewalt verzichte, kann ich im konkreten Fall dann wirklich darauf verzichten, solange ich mich (etwa der Erzählung vom Gesellschaftsvertrag mit staatlichem Gewaltmonopol) unterordne, verzichte ich nicht wirklich. Ich merke, dass es tatsächlich schwierig ist, das auszudrücken, ohne auf eine Instanz „Gott“ zurückzugreifen (dann ist das einfacher, etwa indem ich beschreibe, wie mich „heiliger Zorn“ ergreift – das heißt, der aktive und ursprüngliche Part liegt nicht bei mir, sondern ich lasse es nur zu oder nicht.)

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  6. Antje – worin unterscheidet sich “heiliger Zorn” von anderen Zornesweisen?

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  7. Die Frage bezüglich “heiligem Zorn”, finde ich deshalb wichtig und spannend, weil ich ‘heiligen Zorn’ als eine Art Kraftspender verstehe, der mich selbst ermächtigt zu handeln. Sog. Gesellschaftsvertrag und staatliches Gewaltmonopol können damit außer Kraft gesetzt werden. Daher meine
    Frage worin sich “heiliger Zorn” von anderen Zornesweisen unterscheidet, und auf was gründet sich ‚heiliger Zorn‘ bzw. wem dient er?

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  8. Ja, denke ich auch. Ganz wichtig, dass Mensch sich über die Motive seines Handelns bewusst ist und wird. Da kann Psycho-Analyse hilfreich sein. Hörte gerade dieser Tage Erich Fromm
    zum Komplex von Gewalt und Aggression auf YouTube.
    Fromm’s Auffassungen, finde ich, stehen nahe denen von Luisa Muraro wenn diese sagt: „Ich hole mir die gesamte Verfügbarkeit über mich und meine Stärke zurück, ich selbst muss sie verwalten, egal wie groß oder klein sie ist, und ich gebe mir die Erlaubnis, sie zu gebrauchen.“

    Weiter bewegen mich auch folgende Worte Muraros:
    „….„die Feststellung, dass wir nicht mehr vom Traum animiert sind, allen werde es besser gehen, ist ein Todesstoß für das Ideal der Gleichheit und die Politik der Rechte. Es gibt eine Gewalt in den Dingen und zwischen den Lebenden, die auf eine Rückkehr des Gesetzes des Stärkeren hindeutet: Darüber müssen wir nachdenken.“

    Mich wundert, dass dieser Beitrag, wie auch dein
    Artikel “Optimismus und Visionen statt “Klasseninteresse”
    bisher wenig Resonanz erfahren haben.

    Könnte Resignation ein Grund sein oder liegt es vielleicht nur daran, dass die Ferienzeit angebrochen ist?

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  9. “ …Ich mache nicht mehr mit. Ich vertraue den Gesetzen und offiziellen Instanzen nicht mehr, ich hole mir die gesamte Verfügbarkeit über mich und meine Stärke zurück, ich selbst muss sie verwalten, egal wie groß oder klein sie ist, und ich gebe mir die Erlaubnis, sie zu gebrauchen.“ Hm – ist das nicht auch die Devise jener paramiltärischen Gruppen, die sich in den USA aufs Land zurückziehen, bewaffnen und keine Steuern mehr zahlen?

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  10. „Gewalt aus sich herauslassen“
    ein psychisch gesunder Mensch hat keine Gewalt in sich, die herausgelassen werden müsste, sondern im Gegenteil, große innere Hemmungen, Gewalt auszuüben. Zumindest wenn es sich um Gewalt handelt, die Menschen körperlich verletzt.

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  11. @Wilhelm Will Helm: es geht in dem Text um Wut, einen Wutanfall, nicht um Handgreiflichkeiten. Es ist auch ein Maß für eine solche Wut angeführt. Und es geht dabei um „die würdige und richtige Reaktion des Menschen auf einen Übergriff und arrogante Gewalt“.

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  12. Wütend sein, Wut herauslassen, dabei (bzw. um) die eigene Würde (zu) bewahren und die Würde des Gegenübers nicht verletzen, alles aus einer klaren Haltung heraus – das ist wirklich eine enorme Energie und Kraft, die einem dabei zufließt. Das hatte ich zuletzt in einem Arbeitszusammenhang, einem hierarchischen System. Seitdem hängt bei mir an der Pinnwand ein Zitat von Antje: „Nicht mehr das Amt trägt den Menschen, der es innehat, sondern der Mensch muss das Amt erst einmal ausfüllen, um Autorität zu haben.“

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  13. Nun ja, ich glaube ehrlich gestanden, dass jeder gesunde Mensch ein gewisses Aggressionspotential in sich birgt und dass dies auch wichtig und gesund ist, damit wir überhaupt zu Handeln in der Lage sind. Wir brauchen ja auch eine gewissen Gewalt – in ganz alltäglichen Dingen – um uns in gewissen Dingen durchsetzen zu können.
    Im Zuge des Gesellschaftsvertrages spielt ja auch die GewaltenTEILUNG eine wichtige Rolle – und hier könnte auch eines der Hauptursachen für die Problematik liegen: Die Hauptgewalt liegt nicht mehr zu je einem Drittel bei Exekutive, Legislative und Judikative, sondern letztlich zu 100 % bei der Wirtschaft, von dort aus wird die Legislative bestimmt bzw. gelenkt.
    Durch das Bundesverfassungsgericht haben wir in D das Glück, dass die Judikative zumindest in einigen wichtigen Fällen sich ihren Gewaltenteil nicht absprechen lässt.
    Zumindest könnte auch diese Art der Gewalt gemeint sein, wenn es darum geht, seine Einflussmöglichkeiten zu nutzen – oder sie sich nicht nehmen zu lassen.

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  14. @Eva Herold – Ja, das ist so, aber dass Leute aus falschen Motiven etwas machen, ist ja kein Argument dafür, dass das, was sie machen, prinzipiell falsch ist (es ist allerdings ein Hinweis darauf, dass man dabei vorsichtig sein sollte und das eigene Tun immer selbstkritisch reflektieren muss).

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  15. @Ute – Zu der Frage nach der Resonanz: Die ist bei eher komplexen Themen, die nicht einfach ein Pro und Contra hervorrufen bzw. die sich nicht auf konkrete Alltagsdinge beziehen, immer niedriger, was eigentlich ja auch logisch ist.

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  16. Antje, der erste Satz deines Beitrages lautet:

    „Ohnmachts-Erfahrungen gibt es im Bereich des Politischen viele.“

    Aus diesem habe ich mit die Vermutung gezogen, dass nicht wenige Menschen sich ohnmächtig/resigniert fühlen.
    Angesichts der vorherrschenden Macht/Gewaltverhältnisse kann ich das gut nachvollziehen.
    Die Frage ist, was es denn noch braucht, damit sich
    „heiliger Zorn“ in vielen Menschen regt und sie antreibt
    zur Veränderung bestehender schlechter Verhältnisse?

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  17. @EinSchönerWald – “ Die Hauptgewalt liegt nicht mehr zu je einem Drittel bei Exekutive, Legislative und Judikative, sondern letztlich zu 100 % bei der Wirtschaft, von dort aus wird die Legislative bestimmt bzw. gelenkt.“

    Vielleicht ist es auch so etwas wie „heiliger Zorn“, der dagegen zum Widerstand aufruft. 🙂

    Konzernmacht zurückdrängen! Mensch und Umwelt vor Profit!

    Aufruf zu einem europaweiten, dezentralen, breiten Aktionstag gegen TTIP, CETA und die Freihandelsagenda der Konzerne – 11. Oktober 2014 *

    http://www.attac.de/kampagnen/freihandelsfalle-ttip/aktionen/aktionstag-1110/

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  18. Wenn ich mir die aktuellen Pro-Gaza-Demos und die dort verbreiteten Hassparolen so anschaue, habe ich nicht den Eindruck, dass der Staat für das Recht des Stärkeren steht, sondern die autoritären Demonstranten. Die Polizei lässt sie überwiegend gewähren, vielleicht aus Ratlosigkeit, Personalmangel oder Anweisung aus der Politik.

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  19. Wenn ich diesen letzten Satz „So viel wie nötig, um zu kämpfen, ohne zu hassen, so viel, wie gebraucht wird, Bestehendes aufzulösen, ohne zu zerstören“ für mich lese und ihn wirklich in mich rein lasse, bin ich schon auf dem Weg…
    -unwichtig auch, wie langsam ich dort zu gehen vermag.

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  20. Mhm. Können eben nicht alle. Quod licet Jovi… das ist überhaupt eine Frage, der ich manchmal nachsinne: Was sollte esoterisch bleiben, was kann exoterisch werden, und wer würde heute darüber bestimmen dürfen? Google und Apple als Nachfolge-Institutionen der Kirchen und gekrönten Häupter?

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  21. @Irene – hast du eine Idee, wie umgehen mit den von dir erwähnten ‚autoritären Demonstranten‘?

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  22. Das hat mich auch sehr erschreckt! Claus Kleber kommentierte das mit „der Gaza-Konflikt ist in Deutschland angekommen“. Kritik kann man ja durchaus an vielen Bereichen der Politik Israels äußern. Aber das sollte doch klar von jeglicher Form des Antisemitismus getrennt werden.
    In der SZ haben sie gestern die Kommentarfunktion bei einem Artikel zu dem Thema gesperrt – ich kann mir leider zu gut vorstellen, warum!

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  23. Wenn ich erfahre, dass auf Kundgebungen Hass-und Hetzparolen skandiert werden die mich entsetzen, dann bin ich ganz persönlich gefordert wie damit umzugehen wäre.
    Alleine darauf zu warten und zu erwarten, dass es Aufgabe der Polizei sei in solchen Situationen aktiv zu werden, dürfte dem entsprechen, was Muraro zu der Abtretung der eigenen Stärke an das staatliche Gewaltmonopol sagt.

    Rolf Verleger, ehemaliges Mitglied beim Zentralrat der Juden in Deutschland äußert sich in einem Deutschlandfunk-Interview folgendermaßen:
    “…dass hier jetzt die Zivilgesellschaft gefordert sei, ihrerseits ein Zeichen zu setzen. Das werde ich auch tun, indem ich nämlich nächsten Mittwoch mich an einer Demonstration beteiligen werde gegen das Massaker der Israelis in Gaza.”
    http://www.deutschlandfunk.de/anti-israelische-proteste-wer-hat-uns-das-denn-eingebrockt.694.de.html?dram:article_id=292408

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  24. Vielen Dank, Ute, das stimmt: hier ist jeder Einzelne selbst immer wieder aufgerufen, sich 1. an der eigenen Nase zu packen und 2. dann auch tatsächlich einzugreifen!
    Sich der Gewalt eines eigentverantwotlichen Handelns bewusst zu werden und couragiert zu sein, ist kein einmaliger Vorgang!

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  25. @Wilhelm WillHelm:
    “Gewalt aus sich herauslassen”
    ein psychisch gesunder Mensch hat keine Gewalt in sich, die herausgelassen werden müsste, sondern im Gegenteil, große innere Hemmungen, Gewalt auszuüben. Zumindest wenn es sich um Gewalt handelt, die Menschen körperlich verletzt.“

    Ein „psychisch gesunder Mensch“ (genau genommen jeder Mensch) hat natürlich Gewalt bzw. das Potential zu gewalttägiger Handlung in sich.
    Daher finde ich den obigen Satz ein bisschen unlogisch 😉
    Dass Hemmungen Gewaltausübung verhindern oder unterdrücken, untermauert ja gerade das Vorhandensein solcher Emotionen.

    Das simpelste Beispiel dafür ist der Reflex der Verteidigung von Leib und Leben – des eigenen und das von nahestehenden Personen (z.B. Kindern).
    Du kannst psychisch so „gesund“ und ausgeglichen sein wie Du willst, wenn man Dir Dein Baby entführt oder Deine Tochter vergewaltigt, dann wirst Du Dein Gewaltpotential sehr deutlich spüren und es auch möglicherweise einsetzen.
    Und wenn nicht, wenn Deine Hemmschwelle keine aktive Gewaltausübung erlaubt, dann sucht sich diese Emotion einen anderen Weg (der Dir im Idealfall ermöglicht, das Erlebte irgendwie zu verarbeiten und eines Tages in eine neue „Normalität“ zurück zu finden…aber das gelingt ja nicht immer).

    Glücklicherweise können Menschen aber auch ihren Wunsch nach Rache oder Vergeltung überwinden und versuchen, sich dem Hass und der Stimmungsmache zu entziehen.
    Das ist das einzige, was mich bei all diesen Berichten über Israel und Ghaza (von denen ich inhaltlich nicht im geringsten genug verstehe, um eine eigene Meinung zu haben) immer wieder aufrecht hält, was mir die Hoffnung gibt, dass es auch eines Tages wieder anders laufen könnte….

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  26. @Antje:

    Ich habe lange überlegt, ob ich was zu Deinem Artikel schreiben soll, weil ich so vieles daran nicht so wirklich verstehe.
    Ich versuch`s aber mal.
    Was Du von Luisa Muraro zitierst und über ihre Motive schreibst, liest sich aus meiner Perspektive sehr intellektualisiert, sehr „denkerisch“ und natürlich brauchen wir sowas, um immer wieder den Status Quo zu analysieren und zu hinterfragen.
    Aber – bei aller Begeisterung die ich selbst für philosophische Arbeit und Denken habe – mir fehlt dann letzlich doch das Handfeste, das Konkrete – nicht in Form von „macht das ab jetzt so oder so…“ das ist naiv und unmöglich.
    Mir fehlen irgendwie Beispiele, mit denen sie ihre Ideen illustrieren oder anschaulicher machen könnte.
    Das könnte ja ruhig auch fiktiv sein, wenn sie es utopisch versteht.
    Gibt es so etwas von ihr?

    Mir erscheint es heute etwas simpel, Gewalt und Gewaltbereitschaft allein oder überwiegend auf patriarchale oder Männlichkeits-kultige Faktoren abzustellen.
    Dass es das gab und auch immer noch gibt – klar, das zweifele ich nicht an.
    Aber Gewalt hat so viele Ursachen und Motivationen, und dem wird diese Basis des Männlichkeitskultes in meinen Augen nicht gerecht.

    Bevor man sich mit Fragen zum Umgang mit Gewalt befasst – oder eigentlich permanent auch während dessen – sollte doch auch die Frage behandelt werden, warum Menschen in den verschiedenen Situationen gewalttätig werden (und zwar nicht nur auf Männer bezogen! Gerade wenn es um Kriege geht, haben wir heute jede Menge Frauen dabei, und allgemein zeigen Studien z.B. über radikalisierte Gruppen eine deutlich steigende Tendenz weiblicher Gewaltbereitschaft).
    Untersucht wird auch, warum Menschen z.B. *nicht* eingreifen, wie im Fall von Srebrenica (oder in der U-Bahn oder tausenden ähnlichen Situationen), warum sie sich (scheinbar) unreflektiert von Hassparolen lenken lassen und nicht rationales Nachdenken und Informieren zu ihren Überzeugungen kommen…all das ist so vielfältig, so komplex…

    Ausserdem übt Gewalt auch eine große Faszination aus, und zwar sowohl die aktiv ausgeübte als auch die rein gedankliche Beschäftigung damit.
    Sie kann Menschen komplett in Rauschzustände versetzen und alle vorher vorhandene Hemmung, Rationalität und Sachlichkeit ausschalten.
    So etwas kommt aber in Muraros Überlegungen nicht vor – aber gerade in kriegerischen Gewaltszenarien, wo Massen von Menschen gleichzeitig in Gewalt verwickelt sind, ist das ein Faktor, dem die Menschen IN diesen Situationen nicht mehr mit Klugheit und Nachdenken entgegen treten können.
    Weder die Opfer noch die Täter.

    Du schreibst (oder zitierst):
    „…Der zu suchende Maßstab, schlägt Muraro vor, liegt nicht darin, ob Gewalt angewendet wird oder nicht, sondern darin, ob das eigene Handeln – sei es nun gewaltsam oder nicht – richtig oder gerechtfertigt ist. „Richtig“ bezieht sich auf die angewandten Mittel im Sinne von Wirksamkeit (hat das, was ich tue, tatsächlich positive Auswirkungen oder schädliche?), das „Gerechtfertigt“ bezieht sich darauf, ob die angestrebten Ziele sinnvoll sind. Gesucht ist der Mittelweg zwischen einem zynischen „Der Zweck heiligt die Mittel“ und einem lähmenden „Ich darf nur tun, was gesetzlich erlaubt und gewaltfrei ist“.

    Hier möchte ich fragen:
    Welche Position, welche Perspektive meint sie denn, wenn sie schreibt, dass man den Maßstab des eigenen Handelns anhand von „richtigen Mitteln“ oder „positiven/schädlichen“ Auswirkungen bedenken und suchen soll?
    Aus der einen Perspektive erscheint Gewalt bei der Durchsetzung der (vielleicht territorialen, vielelleicht religiösen…) Interessen sicherlich sinnvoll, vielleicht wird auch die Vertreibung der Bevölkerung oder die Schliessung von Grenzen (und deren Verteidigung mittels Gewalt) als „richtig“ betrachtet und muss mit besonders „wirksamen Mitteln“ durchgeführt werden, und eine „positive Auswirkung“ hat man vielleicht erreicht, wenn die Grenzen schön dicht sind…
    Aus der „anderen“ Perspektive erscheint das alles grund falsch, es erscheint unmoralisch, negativ, ungerechtfertigt und man sucht nach Wegen, sich dagegen zu wehren, es anders zu machen.
    Und dabei kommt dann auch wieder Gewalt als Option ins Spiel und es wird immer Menschen geben, die sie auch anwenden und auch wieder ihre Argumente dafür finden werden… und wieder und wieder Menschen, die nicht mit machen, die sich ausklinken und Alternativen suchen.

    Gibt es wirklich einen Ausweg aus diesem Kreislauf?

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  27. @Sternenguckerin – Hast du auch den im Text verlinkten Artikel von Dorothee Markert gelesen? Da stehen viele Beispiele drin.

    Wo liest du, dass sie die Ursachen von Gewalt allein im Patriarchat und im Männlichkeitskult sieht? Das tut sie nicht. Sie weist nur an einer Stelle darauf hin, dass es Verwebungen zwischen Männlichkeitskonstruktionen und Gewalt gibt. Das ist ja nicht dasselbe. Das, was du daran anschließend in deinem Kommentar schreibst, ist alles richtig, mir ist aber nicht klar, was es mit den Thesen von Muraro zu tun hat…

    Zum Maßstab: Das ist immer die individuelle Entscheidung. Es geht ihr nicht darum, eine universale Beurteilung von Gewalt zu geben, sondern Anregungen für uns, die wir selbst über unser Handeln entscheiden müssen. Es ist ein Urteil, das die Handelnde fällen muss und für das sie die Verantwortung trägt. Daher ja auch der Verweis auf „Gott“ bzw. die Transzendenz. Ob dieses Urteil richtig war, wird sozusagen erst beim Jüngsten Gericht entschieden, hier für den Moment kommt es darauf an, ob ich mir wirklich ernsthaft diese Frage stelle: Ist die von mir angewendete Gewalt richtig und gerechtfertigt (bzw. muss ich mich das natürlich auch bei allem anderen, was ich tue, fragen).

    Vielleicht hängt ihr Hinweis darauf, dass eine solche Neubewertung des Gewaltmonopols von den Frauen ausgehen muss, gerade auch mit der Gefahr, die darin liegt, und die du beschreibst, zusammen. Männer stehen mehr in der Versuchung, durch die Anwendung von Gewalt ihre Männlichkeit zu erhöhen – Frauen hingegen nicht, die riskieren durch die Anwendung von Gewalt höchstens ihre Weiblichkeit. Deshalb sind sie vielleicht weniger versucht, falsche und ungerechtfertigte Gewalt auszuüben, weil sie davon sozusagen weniger haben. Sie werden dafür in der Regel nicht gelobt, Männer oft schon.

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  28. @Antje:
    Danke für Deine Erläuterungen!
    Nein, den Artikel habe ich noch nicht geschafft, das hole ich aber nach.

    Gestolpert bin ich über das hier:
    „…Nachgedacht werden müsse schließlich auch über die „Virilität“ von Gewalt und Krieg, also die Verwobenheit von beidem mit Männlichkeitskonzepten. Wir befinden uns schließlich genau im hundertsten Jahr nach Beginn des Ersten Weltkriegs, der für Muraro ein Wendepunkt in der menschlichen Geschichte mit Gewalt ist: Der Moment, in dem Gewalt massenhaft und maschinell wurde, und jener Krieg, in den hunderttausende junge Männer mit Begeisterung zogen, um zu zeigen, dass sie männlichen Geschlechts waren (und wobei viele Frauen sie aus denselben Gründen bejubelten, es geht hier nicht um moralische Schuldzuweisungen, sondern um eine Analyse).“
    Ich habe ja nicht geschrieben, dass Muraro ihre Thesen über Gewalt oder den Umgang damit *ausschliesslich* auf Männlichkeitskonzepte und Kulte abstellt (aber man kann es so lesen, war nicht so beabsichtigt), mir erscheint es beim Lesen aber (im Gesamtbild mit anderen Zitaten von ihr, die Du immer mal wieder bringst, frag mich jetzt aber nicht welche und wo!) schon so, als betrachte sie Gewalt unter diesem speziellen Aspekt mit einem besonderen Schwerpunkt.

    Aber wie gesagt, ich verstehe es oft auch nicht sofort oder „richtig“.

    „….Das, was du daran anschließend in deinem Kommentar schreibst, ist alles richtig, mir ist aber nicht klar, was es mit den Thesen von Muraro zu tun hat…“

    Es hat vielleicht auch gar nichts mit den Thesen zu tun, ich finde einfach, dass Muraro`s Ansatz sehr „denkerisch“ ist (und teilweise etwas abstrakt, was ich nicht wertend meine) und dass Gewalt und ihre Motivationen so vielfältig sind, dass es mir persönlich schwer fällt, das mit den Thesen überein zu bringen.

    „Männer stehen mehr in der Versuchung, durch die Anwendung von Gewalt ihre Männlichkeit zu erhöhen – Frauen hingegen nicht, die riskieren durch die Anwendung von Gewalt höchstens ihre Weiblichkeit. “
    Das hat in manchen Teilen der Welt und ihren verschiedenen Gesellschaft sicherlich Gültigkeit, und sicherlich teilen viele Deine Meinung – aber frag mal eine stolze Soldatin (z.B. in einem Land, in dem Frauen schon lange im Militär aktiv sind, die hoch dekoriert ist und ihr Land verteidigt hat (mit Gewalt)…die sieht das vielleicht ganz anders und ihre Umwelt auch….
    Daher – mich interssiert eben die Perspektive, aus der Muraro selbst das betrachtet, wenn sie über Gewalt schreibt.

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  29. So. Habe jetzt den verlinkten Artikel gelesen.
    Finde dort aber auch nicht so wirklich was „konkretes“ zu den Thesen von Luisa Muraro.
    Aber vielleicht erkenne ich es auch einfach nicht.
    Sollte wohl dann das Büchlein lesen 🙂

    Die Berichte der Autorin aus dem Leben, das Beispiel aus der Bar oder aus dem Bus…das gibt es ja millionenfach, da könnte ich auch was zu beitragen, sicherlich jeder Mensch.
    Was ich nachvollziehbar finde, ist die Einschätzung, dass man nur selbst für sich einordnen kann, wann und wie Gewaltausübung „gerechtfertigt“ erscheint – wobei das natürlich auch immer im jeweiligen Kontext passiert und man ja in Interaktion handelt, also kann man z. B. Gewalt in einem Fall von Selbstjustiz zwar vor sich selbst rechtfertigen, aber die Justiz-Organe bewerten es vielleicht anders und bestrafen mich

    Ob es eine irgendwie „transzendente“ Kraft gibt, die irgendwann ein „Urteil“ fällt wissen wir nicht.
    Ich verstehe deshalb nicht, welche Rolle so eine „urteilende Transzendenz“ dann spielt -egal wie man sie nennt (oder ich habe es überlesen).
    Wenn man an das Vorhandensein einer solchen „Instanz“ glaubt (und vielleicht sogar in ihrem Namen Gewalt ausübt..) ok, da kann ich einfach nicht mitreden, da habe ich echte Grenzen meiner Vorstellungskraft.
    Und ja, ich habe mich mit Gewalt (und auch mit Gewalt aus Glaubensmotivation) lange befasst und versuche auch weiterhin, meine eigenen Schranken zu hinterfragen.

    Ich kann scheinbar einfach dem Text irgendwie nicht diese Denkanstöße oder das irgendwie andere, neue, ungewöhnliche entnehmen, wie es andere offensichtlich können. Tut mir leid 😦

    Aus einem System „ausklinken“ wenn auch erstmal als Gedanke oder Theorie, symbolische oder faktische Verträge aus der eigenen Position aufkündigen und neue Wege beschreiten…nun, das passiert (in meiner bescheidenen Sicht der Welt und ihrer Geschichte) permanent, oder? 

    Und die Beispiele aus dem „kleinen“ – also ein Mensch den wir für seine Zivilcourage bewundern, die sind schön und wichtig, denn selbst wenn wir bisher selbst eher zurückhaltend oder ängstlich waren…wer weiss, eines Tages trauen wir uns vielleicht doch und verstecken uns nicht mehr hinter den anderen.
    Aber auch das ist in meinen Augen weder neu noch ungewöhnlich.
    Dass Luisa Muraro rein pazifistische oder gewaltfreie Ansätze mit einem Fragezeichen versieht, finde ich tatsächlich nachvollziehbar.

    Also, vielleicht bestelle ich mir mal das Original, also das übersetzte.

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  30. @Sternenguckerin – „also kann man z. B. Gewalt in einem Fall von Selbstjustiz zwar vor sich selbst rechtfertigen, aber die Justiz-Organe bewerten es vielleicht anders und bestrafen mich“ – Ja, natürlich. Wenn du den Glauben an das Gewaltmonopol aufkündigst, dann ist es ja nicht plötzlich weg. Natürlich musst du mit Konsequenzen rechnen. Es geht in dem Artikel NICHT um Handlungsanweisungen, sondern um die innere Einstellung, mit der wir an das Thema herangehen. Und die „transzendente Kraft“ die GIBT es nicht, im Sinne dass sie beweisbar existiert, aber wir brauchen sie als logische Denkfigur, weil wir 1. feststellen, dass niemand innerweltlich Gewalt rechtfertigen kann, 2. der Ansicht sind, dass sie manchmal notwendig ist. Dies beides kann nur wahr sein, wenn man mit einer „Leerstelle“, die an dem Punkt quasi einspringt, operiert.

    Ich glaube, dass du vielleicht deshalb Schwierigkeiten hast, diesen Gedankengang nachzuvollziehen, weil du das Thema immer noch in Kategorien der Moral (was soll man machen, was ist richtig/falsch, erlaubt/verboten usw.) durchdenkst. Zum Beispiel geht es nicht darum, Leute für ihre Zivilcourage zu bewundern, denn möglicherweise haben sie diese Courage aus moralischer Überheblichkeit heraus, oder weil sie dem Mackertum frönen etc., udn dann wre es nicht gut. Es geht auch nicht darum, Ängstlichkeit zu überwinden und „Stark“ zu werden (das wäre in der Tag weder neu noch ungewöhnlich), das schreibe ich ja in dem Blogpost am Ende auch explizit. Sondern es geht darum, die eigene eigentlich vorhandene Stärke nicht durch Gedanken wie „Dafür bin ich nicht zuständig, das ist Sache der Polizei“ zu verkleinern. Wobei es natürlich eine Wechselwirkung gibt, aber so in etwa 🙂

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  31. Danke nochmal für Deine Erläuterungen, ich schätze ma, das ist einfach nicht so wirklich meine Welt, aber ich versuch’s ja trotzdem immer mal wieder 🙂
    Natürlich ist mir klar, dass es nicht um Handlungsvorschläge oder dergleichen ging, das hatte ich ja schon weiter oben geschrieben.

    Das mit dem Bewundern von Menschen mit Zivilcourage bezog ich auf die Alltagsbeispiele aus dem verlinkten Text. Die Autorin schildert dort ihren eigenen Zwiespalt, in dem sie sich emotional befand als ihre Freundin sich diesem pöbelnden Typen in den Weg gestellt hat.
    Eben genau nicht einfach nur bewundernd, sondern auch mit dem Impuls sie aufzuhalten.

    Wenn ich mich eben von den politischen Instanzen „verabschieden“ will, wenn ich nicht mehr darauf warten will dass ein polizeiliches oder ähnliches „offizielles“ Organ eingreift, dann ist doch Zivilcourage eine der Möglichkeiten, oder nicht?
    Naives Bewundern im Sinne von unreflektiert toll finden meinte ich auch nicht.
    Und logisch kann auch hier wieder die Motivation tausend verschiedene Ursachen haben und aus jeder denkbaren Perspektive anders bewertet werden.
    Ich habe selbst schon Situationen gehabt in denen ich eingegriffen habe, und die brenzlig wurden.
    Ich habe aber erst hinter her gemerkt, wie krass es hätte werden können, und statt Bewunderung habe ich (besorgte) Schimpfe kassiert, die auch rational betrachtet angebracht war.
    Aber ich bin impulsiv und checke dann manchmal erst im Nachhinein was los war, daher werde ich vielleicht auch wieder in solche Situationen kommen…
    Und vielleicht ist es dann gut wenn jemand mich bremst:-)

    Zur Transzendenz/Leerstelle…dazu hast Du ja schon viel in Deinem anderen Blog geschrieben, und ich glaube dass ich nach und nach verstehe was Du meinst, aber ich teile diese Idee nicht bzw. kann sie für mich nicht wirklich mit Sinn füllen.

    Und nein, ich suche nicht in „moralischen Kategorien“ , richtig oder falsch gibt es nicht als universelle Begriffe, die muss jede/r ja genauso für sich mit Inhalt füllen wie gut, schlecht oder böse.
    Das finde ich ja gerade so verworren bei den Zitaten von Muraro.
    Sie benutzt diese Begriffe, stellt jedoch klar dass der „eigene Maßstab“ von Angemessenheit, Richtgkeit usw. gefunden werden müsse.
    Ja, finde ich logisch, aber das wo ist das „neue“ oder „andere“ dabei?

    Aber weisst Du, ich will damit nicht länger nerven, ich werd‘ mal das Heft lesen, vielleicht kommt dann der Geistesblitz:-)

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  32. @Sternenguckerin – mir geht der Muraro Text auch nicht
    wie Öl runter, und ich kann mich in dem, was du dazu sagst, gut wiederfinden.
    Weil mir das „neue“ oder „andere“ sich darin auch (noch nicht) erschlossen hat, habe ich mich auf das mir eher bekannte bezogen. Eben das mit dem „heiligen Zorn“, den ich zwar nicht verordnen und herstellen kann, da dieser mich ungeplant überkommt und aus dem heraus ich dann auch manches Mal „unüberlegt“ handle, nicht die Konsequenzen im Blick habe, ähnlich dem, was du zur Impulsivität sagst. Ich staune im Nachhinein dann selber über Stärke und Geistesblitz, die mich in bestimmten Situationen erfassen können, wiewohl ich mich vor Gewaltanwendung fürchte – meine inbegriffen.
    Ein Programm ist daraus nicht zu machen. Das sehe ich wie Muraro u. Antje. Doch hinterlassen solche Erfahrungen Spuren in mir und vielleicht auch in anderen,
    was mit dazu beitragen kann, eine ‘neue Haltung’ einzuüben, z.B. im Sinne der obigen Überschrift: *Kämpfen ohne zu hassen, Auflösen ohne zu zerstören* .
    Wenn ich das Postulat vom guten Leben aller ernst nehme und vor mir selber glaubwürdig sein will, dann bemühe ich mich darum ganz bewusst diese “weg von Sieg/Niederlage-Haltung” auch in geplanten Aktivitäten von Widerstand, Da-zwischen-gehen und Verweigerung einzuüben. Klingt jetzt ein bissel pastoral, was?
    Und @Sternenguckerin – bitte unbedingt weiter *nerven*. 🙂

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  33. @Ute Plass
    😉
    ok, einmal noch:

    Wenn ich das hier lese:
    „…Er kann aber auch etwas anderes machen, das ich als Alternative vorschlage: Er kann seinen stillschweigenden Konsens mit der Ordnung, die das Zusammenleben reguliert, aufkündigen. Und sich in einem inneren Akt, der praktische Konsequenzen haben wird, sagen: Ich mache nicht mehr mit. Ich vertraue den Gesetzen und offiziellen Instanzen nicht mehr, ich hole mir die gesamte Verfügbarkeit über mich und meine Stärke zurück, ich selbst muss sie verwalten, egal wie groß oder klein sie ist, und ich gebe mir die Erlaubnis, sie zu gebrauchen.“ (25f).“

    Dann erinnert mich das, wie auch den @Matthias Jung, natürlich sofort an das „Aufkündigen des Patriarchats“ was an anderen Stellen hier im Blog ja auch schon zitiert wurde.
    Ein Blick in die Geschichte zeigt doch aber, dass dieses „innere Aufkündigen“ immer schon gemacht wurde – sonst hätten wir doch keine einzige gesellschaftliche Veränderung erlebt, oder irre ich mich?
    Menschen lehnen sich schon seit den frühesten historischen Aufzeichnungen gegen ihre Anführer/innen und Herrscher/innen auf (in allen erdenklichen friedlichen oder gewalttätigen Varianten), sie formen neue Gruppen, denken und handeln entgegen dem, was man ihnen erlaubt oder was man von ihnen erwartet, sie bilden neue Systeme, in denen dann eines Tages wieder neuer Widerstand entsteht und alles geht von vorne los.

    Insofern:
    Was Muraro dort schreibt, kritisiere ich gar nicht – weil sie ja recht hat und die innere Abkehr der erste Schritt ist, Dinge in Bewegung zu bringen.
    Aber sie nennt diesen Schritt „Alternative“ – und die entsteht für mich erst in der Handlung oder in konkreten Ideen, wie man aus der inneren Abkehr echte alternative Handlungen machen kann.

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  34. @Sternenguckerin
    „Ein “psychisch gesunder Mensch” (genau genommen jeder Mensch) hat natürlich Gewalt bzw. das Potential zu gewalttägiger Handlung in sich.
    Daher finde ich den obigen Satz ein bisschen unlogisch 😉
    Dass Hemmungen Gewaltausübung verhindern oder unterdrücken, untermauert ja gerade das Vorhandensein solcher Emotionen.“

    Würde ich nicht sagen, denn der Impuls zu Gewalt kommt normalerweise nicht aus einem generellen Bedürfnis, Gewalt auszuüben, sondern aus einem konkreten Anlass heraus. Extremsituationen können natürlich ein solcher Anlass sein, (allerdings haben selbst dann noch viele Menschen Hemmungen)

    Einen normalen/gesunden/zivilisiert Menschen müsste es doch bei dem Gedanken, einen anderen Menschen eigenhändig zu verletzen, erst einmal schütteln. Im Alltag wohlgemerkt. Dass man im Streit jemanden haut, ist eine andere Geschichte, aber wenn man besonnen über die Welt nachdenkt (und diesen Gemütszustand setze ich jetzt mal voraus für politische Diskussionen, Blogs, Bücher usw.), sollte eigentlich kein Drang zu Gewalt entstehen. Was etwas anderes ist, als Gewalt als Mittel zum Zweck. Mir ist hier nicht klar, woher die Motivation zur Gewalt kommen soll, wenn nicht als Mittel zum Zweck. Als Selbstzweck, zur Erfüllung eines inneren Bedürfnisses? Das würde man wohl als Blutdurst bezeichnen.

    Für mich gibt es nur zwei „gesunde“ Formen der Gewaltausübung: als Mittel, mit einer emotionalen Distanz („ich tue es nicht gerne, aber es ist notwendig“) oder eben in Extremsituation.

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  35. Nachtrag: mit gesund meine ich nur, dass es nicht pathologisch ist. Das bedeutet noch nicht, dass die Gewalt legitim ist. Das ist eine Frage des Einzelfalls (z. B. nach Art. 20 (4) GG oder § 32 StGB)

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  36. „@Wilhelm Will Helm:

    * Einen normalen/gesunden/zivilisiert Menschen müsste es doch bei dem Gedanken, einen anderen Menschen eigenhändig zu verletzen, erst einmal schütteln. Im Alltag wohlgemerkt. “

    Also, bei Begriffen wie „normal und zivilisiert“ krieg ich ja gerne mal eine gerunzelte Stirn…
    Ich habe doch auch Extremsituationen geschildert, diese können uns aber auch jederzeit auch im Alltag heimsuchen.
    Und für unzählige Menschen *ist* der Alltag extrem, auch wenn nicht jede/r selbst Gewalt anwendet.
    Wir sind alle mit der Möglichkeit „ausgerüstet“ Gewalt anzuwenden, egal wie „ziviliert“ wir uns nennen und egal wie sehr wir sie von unserer jeweiligen Haltung ablehnen.

    Und wie gesagt, was man nicht vergessen darf, ist die Sog-, Rausch,- und Faszinationswirkung, die auch von Gewalt ausgeht. Ihr „erliegen“ auch Menschen, die „normalerweise“ Gewalt ablehnen.

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  37. Nachtrag an Wilhelm Will Helm:

    *…aber wenn man besonnen über die Welt nachdenkt (und diesen Gemütszustand setze ich jetzt mal voraus für politische Diskussionen, Blogs, Bücher usw.), sollte eigentlich kein Drang zu Gewalt entstehen. “

    Das würde ich eben exakt nicht so sehen und es keinesfalls verallgemeinern.
    Dafür sind die Unterschiede und die Hintergründe der Menschen doch viel zu verschieden.
    Natürlich gibt es Menschen, die auch in einer „besonnenen Diskussion“ Gewalt als Option einbringen, aus den verschiedensten Motivationen.

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