Rape revisited. Über Vergewaltigungsdiskurse

Weil aus aktuellem Anlass gerade viel über Vergewaltigung diskutiert wird, möchte ich hier noch einmal etwas genauer über die aktuelleren feministischen Analysen zu dem Thema schreiben, die nämlich wie meistens komplexer sind als viele meinen.

Unter dem Titel „rape revisited. Die Tiefengrammatik der sexuellen Gewalt“ hat Mithu M. Sanyal für den grade erst von mir empfohlenen Sammelband „Feminismen heute“ eine kritische Rekapitulation des Vergewaltigungsdiskurses seit den 1970er Jahren unternommen. Kleine Erinnerung: Damals hat die Frauenbewegung das Thema häusliche Gewalt öffentlich zum Thema gemacht. In diesem Zusammenhang wurde vielen (auch vielen Frauen) erstmals bewusst, dass Vergewaltigung nicht vor allem etwas ist, das im dunklen Park von einem bösen Fremden ausgeht, sondern meistens innerhalb sozialer Beziehungen stattfindet: Es sind Ehemänner, Freunde, Bekannte, die vergewaltigen. Der Verdienst der damaligen Frauenbewegung, das bewusst zu machen und politisch zu thematisieren, ist unbestritten, allerdings hat der Diskurs einige Schwachstellen, die Mithu Sanyal analysiert:

Erstens wurde dadurch ein Bild von Frauen als sexuell eher inaktiven, tendenziell an Sex desinteressierten Wesen noch einmal bekräftigt und so bestehende Geschlechterzuschreibungen eher verstärkt als dekonstruiert. In dem Bemühen, den tatsächlichen Skandal der sexuellen Gewalt sichtbar zu machen, wurde gleichzeitig denjenigen, die Vergewaltigungen erlebt und erlitten hatten, eine bestimmte Interpretation zugeschrieben, zum Beispiel, dass dies in jedem Fall ein ungeheuer traumatisierendes Ereignis sein muss. Manche Feministinnen beanspruchten „im Namen der vergewaltigten“ Frauen zu sprechen, obwohl ja auch Frauen, die vergewaltigt wurden, sehr unterschiedliche Weisen haben, das Erlebte zu verarbeiten und zu interpretieren. (In diesem Zusammenhang ist übrigens auch der Beitrag von Claudia Schöning-Kalender über „Frauenhäuser im Aufbruch“ aus diesem Sammelband interessant).

Zweitens wurde im damaligen Diskurs die Debatte über sexuelle Gewalt sehr pauschal mit einem Gewaltverhältnis zwischen den Geschlechtern gleichgesetzt. Es ist eben nicht so, dass es schlicht um das Schema „Männer sind Täter und Frauen sind Opfer“ geht. Auch Männer werden Opfer von sexueller Gewalt, die zumeist von anderen Männern ausgeht, aber auch von Frauen ausgehen kann. Und Frauen sind mit der Art und Weise, wie sie Geschlecht „performen“ auch selbst aktive Mitwirkende an dem, was heute unter dem Oberbegriff „Rape Culture“, also „Vergewaltigungskultur“ zusammengefasst wird.

Daraus aber nun – wie es manche tun – den Schluss zu ziehen, Vergewaltigung sei ja quasi eine „geschlechtsneutrale“ Angelegenheit und betreffe Frauen und Männer gleichermaßen (nach dem Motto: Frauen vergewaltigen Männer genauso wie Männer Frauen), ist natürlich Quatsch. Mithu M. Sanyal geht denn auch den genau umgekehrten Weg: Sie untersucht gerade die Verwobenheit zwischen Vergewaltigung, Vergewaltigungsdebatten und der Konstruktion von Geschlecht, die nämlich eben sehr viel komplexer ist als das schlichte Täter/Opfer-Schema.

„Vergewaltigung ist nicht nur das am meisten gegenderte Verbrechen, sondern auch das Verbrechen, das uns am meisten gendert“, beginnt sie ihren Text. Unter diesem Aspekt rekapituliert sie anschließend die feministischen und medialen Diskurse über Vergewaltigung, und kommt zu dem Schluss: „Vergewaltigung gendert uns, indem sie uns beibringt, wie wir uns unserem Geschlecht entsprechend zu verhalten haben, wie die Geschlechter zueineinander stehen.“

Ihr Fazit ist übrigens, dass der entscheidende Faktor für „Rape Culture“, also die Wahrscheinlichkeit, dass sexuelle Gewalt in einer Kultur vorkommt, die soziale Ungleichheit zwischen den Geschlechtern ist: „Je totaler eine Institution ist, desto höher die  Zahl der Vergewaltigungen. Je rigider die Geschlechterrollen, desto mehr Sexismus bis hin zur physischen sexuellen Gewalt. Das enthebt das Individuum zwar nicht der Verantwortung, verlagert den Fokus jedoch auf die gesellschaftliche Organisationsform. Entsprechend gibt es Gesellschaftsformen, in denen Vergewaltigung so gut wie nicht vorkommt, bis hin zu hoch gewalttätigen Gesellschaften mit einer hohen Rate an sexualisierten Verbrechen.“ Und:

„Die schlechte Nachricht ist zwar, dass sich das Vergewaltigungsproblem nicht durch schärfere Gesetze lösen lassen wird. Das Gute ist allerdings, dass nahezu alle Maßnahmen, die unsere gesamte Gesellschaft (geschlechter-)gerechter machen, ein direktes Vergewaltigungspräventionspotenzial haben.“

Mehr Infos:

*Unter der Überschrift „Vergewaltigung gibt es nicht“ hatte Mithu M. Sanyal schon 2012 einen Artikel im Missy Magazine, der leider nicht online steht, aber natürlich kritisch diskutiert wurde, hier ist eine Antwort von ihr auf entsprechende Kritik.

*Zur  Zeit arbeitet Mithu M. Sanyal an einer Kulturgeschichte der Vergewaltigung. Auf das Buch freue ich mich schon.

*Vor dem Thema Vergewaltigung hat sie sich mit der Vulva beschäftigt. Hier meine Rezension dazu.

*Für das Forum bzw-weiterdenken schrieb sie über Die Pornofizierung der Gesellschaft.

 

Ich bin Journalistin und Politologin, Jahrgang 1964, und lebe in Frankfurt am Main.

21 Gedanken zu “Rape revisited. Über Vergewaltigungsdiskurse

  1. „Erstens wurde dadurch ein Bild von Frauen als sexuell eher inaktiven, tendenziell an Sex desinteressierten Wesen noch einmal bekräftigt und so bestehende Geschlechterzuschreibungen eher verstärkt als dekonstruiert.“

    Ich habe als junge Frau Ende der Achtziger ja das gelesen, was von der zweiten Welle der Frauenbewegung publiziert worden war, unter anderem das Buch „Our bodies ourselves“, was von einer Gesundheitsinitiative aus Boston herausgegeben war. Später las ich auch Anja Meulenbelt. Und das Buch „Keine Angst vorm Fliegen“ war ja auch in jener Zeit erschienen.

    Meine Erinnerung ist die, dass die Frauenbewegung nicht sexualfeindlich war, sondern dass es ihr um eine andere Art von Sexualität ging, das heißt, sie betonte, dass das ganze „Drumherum“ mindestens so wichtig ist wie die Penetration. Es kam zu Übertreibungen wie der Behauptung, dass Penetration Vergewaltigung sei, aber es gab auch genügend Gegenstimmen, die sagten, dass Frauen (inklusive Lesben) Penetration durchaus genießen.

    „Ungeheuer traumatisierendes Ereignis“ – mir scheint, dass man heutzutage mit dem Traumabegriff wieder ganz ganz vorsichtig sein sollte, weil damit sehr viel Schindluder getrieben wird. Vor einigen Jahren las ich das Buch „The Trauma Myth“, der beschrieb, dass sexueller Missbrauch von Kindern häufig nicht als ungeheuer traumatisierend im Sinne von „so schrecklich, dass ich es nur durch Dissoziation aushalten konnte“ erlebt wird, dass er aber große Schäden anderer Art verursacht und dass man den Betroffenen nicht gerecht wird, wenn man ihre Erfahrungen in das Traumakonzept zwängt – oder besser gesagt, in das Konzept der PTBS, der Traumabegriff selbst ist weiter.

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  2. @susanna14 – Ja, das stimmt, der Diskurs der Frauenbewegung damals war vielfältiger als das, was dann „davon übrig geblieben ist“. Leider ist das ja bei vielen Themen so.

    Über die Frage der Interpretation einer erlebten Vergewaltigung denke ich nach, seit mir vor vielen Jahren eine Bekannte erzählte, was sie erlebte, als sie nach einer Vergewaltigung zu einer Frauenberatungsstelle ging: Sie erlebte nämlich, dass sie nicht mit ihrer Version der Geschichte gehört wurde, sondern dass sie den Eindruck hatte, eine bestimmte Interpretatin quasi auferlegt zu bekommen. Seither war sie eine glühende Antifeministin (so waren wir ins Gespräch gekommen). Ich glaube nicht, dass das jemals der generelle Standard in feministischer Beratung war, aber eine Tendenz in diese Richtung gab es schon. Was die speziell psychologischen Hintergründe von Traumabearbeitung angeht, so kenne ich mich da nicht aus…

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  3. Als die Beratungsstellen mit ihrer Arbeit begannen, waren es meistens Laiinnen, die die Beratung durchführten. Jetzt haben die Frauen, die dort arbeiten, in aller Regel Sozialpädagogik, Pädagogik oder Psychologie studiert und zusätzlich eine Beraterinnenausbildung, bei der man einige Dinge lernt, vor allem, dass man es aushält, dass die, die beraten wird, den eigenen Ratschlägen nicht folgt und oder Dinge anders interpretiert. Auch in den Frauenhäusern mussten die Mitarbeiterinnen erst einmal lernen, es auszuhalten, dass die Frauen nach ihrer Flucht nicht gleich glücklich waren und ihr neues Leben planten, sondern häufig wieder zu ihrem Mann oder Freund zurückkehrten.

    Aber auch Profis haben Grenzen, und wenn diese berührt werden, fangen sie an, Dinge zu tun, die sie eigentlich nicht tun sollten. (Und die Verantwortung liegt bei den Profis, nicht bei den „Kundinnen“, die um Beratung nachsuchen.) Manchmal ist es auch einfach so, dass sie bestimmte Dinge nicht auf dem Schirm haben und nicht auf die Idee kommen, die Klientin danach zu fragen.

    Andererseits halte ich es doch auch für wichtig, dass die Beraterinnen ihre eigenen moralischen Maßstäbe klar machen und sagen: Das, was dein Mann da getan hat, geht gar nicht. Das Dumme ist nur, dass sie in aller Regel „nach Gefühl“ urteilen und ihre moralischen Gefühle genauso wenig begründen wie die meisten anderen Menschen. In vielen Fällen reicht das, etwa wenn die Kundinnen sich völlig irrwitzige Argumentationen des gewalttätigen Ehemannes haben anhören müssen, so dass die Beraterin nur „Wie bitte?“ zu sagen braucht, um die Absurdität sichtbar zu machen. Aber es reicht eben nicht immer.

    „Trauma“ ist ein sehr weiter Begriff, hinter dem verschiedene psychologische Konzepte stehen. Das derzeitig beliebteste Konzept ist die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS, englisch PTSD). Dabei wird von einem einzelnen Ereignis ausgegangen, das den Betroffenen überfordert hat, so dass er dissoziiert hat. (Ich wähle die männliche Form, weil es zunächst an Vietnam-Veteranen erforscht wurde.) Was entfällt, sind Traumatisierungen durch lang andauernde Machtlosigkeit und Unsicherheit.

    Mir ist auch noch einmal durch den Kopf gegangen, was heutige Feministinnen an der Diskussion der Siebziger als sexualfeindlich empfinden könnten. Ich glaube, das BDSM-Spektrum und eventuell auch die neue weibliche Vorliebe für Pornographie wären in den Siebzigern kritisiert worden.

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  4. Die Abwertung der Vorgehensweisen aus den 80ern und 70ern ist schon sehr pauschal und die Diskussionen von damals sind eher einseitig dargestellt.
    Und dann dieser Satz:
    „Und Frauen sind mit der Art und Weise, wie sie Geschlecht „performen“ auch selbst aktive Mitwirkende an dem, was heute unter dem Oberbegriff „Rape Culture“, also „Vergewaltigungskultur“ zusammengefasst wird.“
    Der ist erklärungsbedürftig.
    Vergewaltigungsmythen wirken so stark auf alle, dass Frauen tatsächlich auch an ihnen und damit an der rape culture beteiligt sind, etwa wenn sie glauben wollen, dass die vergewaltigte Frau „irgendetwas falsch gemacht hat“, damit sie einen Abstand, einen Unterschied ausmachen können und sich sicher fühlen können.
    Oder wenn sie es nicht verkraften, Männermythen und Männlichkeitsbilder zu kritisieren und lieber auf Feministinnen losgehen.
    Aber sie verursachen garantiert weder Vergewaltigungen noch eine Vergewaltigungskultur durch ihre „performance of feminity“, es sei denn, die oben beschriebene Anbiederung an Männer oder die oben beschriebene Reaktion im „Glauben an die gerechte Welt“ und aus Angst sollen dazu gerechnet werden. Allerdings werden die von Männern und Frauen geteilt, sind also nur bedingt geschlechtsspezifisch und damit nur schwer unter „performance of femininity“ zu rechnen. Ich komme darauf zurück – hier nur gesagt: Ich stehe Butler ziemlich kritisch gegenüber, aber diese Auslegung ihrer „performance“ – Ideen hat sie nicht verdient. Und das alles zu verquirlen, um dann uralte Ergebnisse wieder hinzuschreiben … minus einer Machtanalyse – „Vergewaltigung gendert uns, indem sie uns beibringt, wie wir uns unserem Geschlecht entsprechend zu verhalten haben, wie die Geschlechter zueineinander stehen.“ aber halt unter eigenem Namen, ist etwas trist. Die „alte Frauenbewegung“ hat genau das beschrieben, sie nannte Vergewaltigung daher auch ein Mittel zur Durchsetzung männlicher Dominanz. Aber das geht heute natürlich nicht mehr und wir kritisieren nicht die Vergewaltigung, sondern die Art darüber zu sprechen. Wir brauchen nur andere „Diskurse“, verleugnen die Gewalt einfach, kleiden sie in eine andere Sprache, und sie findet nicht statt. Die Feindinnen heute sind (ganz neu!!) Feministinnen. Stimmt, die machen da nicht so mit.
    Und nun zu Gesetzen – was machen wir mit den ganzen Einstellungsbescheiden, die der bff gesammelt hat, und der oft beschriebenen Auslegung der „schutzlosen Lage“ durch den BGH? Erklären, dass es keine „schutzlose Lage“ gibt, weil dieser Begriff Frauen falsch darstellt? Vermutlich, und Gesetze ändern auf keinen Fall, deren Auslegung zu kritisieren oder die zu ändern, wohl auch nicht … aber „Das Gute ist allerdings, dass nahezu alle Maßnahmen, die unsere gesamte Gesellschaft (geschlechter-)gerechter machen, ein direktes Vergewaltigungspräventionspotenzial haben.“
    Einverstanden, aber warum muss das gegeneinander gerechnet werden? Ansonsten … warte ich jetzt auf die Kritik an der Quote, an der geschlechtergerechten Sprache und an jeder konkreten Forderung danach. Zumindest jede Forderung, die nicht als erstes sieben Zeilen Feminismus-bashing betreibt, sich von jeder Feministin, die schon einmal eine klare Forderung gestellt hat, distanziert und sofort sieht, das vor allem die Frauen ja selber schuld sind. So wie sie durch ihre „performance of femininity“ an der Vergewaltigungskultur Schuld sind. Sind sie nicht, auch wenn die Unterwerfung vieler Frauen unter einen ebenso dekorativen wie wirkungslosen Mainstream wirklich bitter ist.

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  5. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass ein einmaliges Erlebnis oft zur Traumatisierung ausreicht. Was ich mir als traumatisierend vorstellen kann, ist, dass nach einer solchen Übergriffigkeit eine dann immer wieder gesellschaftlicher Rechtfertigung des Übergriffs begegnet.

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  6. >>>Und Frauen sind mit der Art und Weise, wie sie Geschlecht „performen“ auch selbst aktive Mitwirkende an dem, was heute unter dem Oberbegriff „Rape Culture“, also „Vergewaltigungskultur“ zusammengefasst wird.>>>

    Ich bin selbst Vergewaltigungsopfer, also kann ich für mich sprechen. Ich finde, liebe Frau Schrupp, dass Sie gerade selbst zur Vergewaltigungskultur beitragen.

    Ich war am Sex nicht interessiert – und kämpfe dafür, dass mir nicht mehr nachgesagt wird, dass ich sexuell an ihn interessiert gewesen wäre und ihn provoziert hätte.

    Es war ein traumatisches Ereignis mit langjäherigen körperlichen und psychischen Gesundheitsfolgen. Das Ereignis und die Folgen haben mein Leben verändert. Wer sich in der Lebensphase, wo andere ihre Familie, ihre Karriere aufbauen, nur ums Überleben und Heilung der Gesundheitsschäden kümmert konnte, hat auch nach der Heilung soziale und berufliche Folgen.

    Ich bin nicht bereit – weil einigen Feministinnen ihren Prinzipen wichtiger sind als ich -, mir sagen zu lassen, dass ich mich ja nur von dem Ereignis nicht beeindrucken lassen hätte sollen, und somit wäre die Sache erledigt.

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  7. Welchen Wert haben solche Erkenntnisse für kulturrelativistische Feministinnen, die rigorose Geschlechtertrennung schön bunt finden, sofern sie mit anderen Kulturen begründet wird?

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  8. @ethfiel
    Ich kann mir durchaus vorstellen, dass jemand durch ein einmaliges Ereignis traumatisiert ist. Was ich nach der Lektüre von „Die Erfindung des Traumas“ von David Becker problematisch finde, ist die Konzentration auf das eine Ereignis, das das Trauma ausgelöst ist. So cool in Filmen, wo man nach diesem einen Ereignis sucht (auch viele alte Gothic Novels funktionieren so: man findet die Geschichte über den ursprünglichen Mord heraus, und das Gespenst verschwindet), aber die Realtität ist komplexer.

    An zwei Punkten würde ich etwas ändern:
    1. Machtlosigkeit und Ausgeliefertsein über längere Zeiträume verursachen auch dann Schäden, wenn es kein einzelnes Ereignis gibt, das so schlimm war, dass die betroffene Person dissoziiert hat. Wenn man sich zu sehr auf solche einzelnen überwältigenden Ereignisse konzentriert, verliert man diese anderen Leute aus dem Auge. (Ich vermute, selbst manche Holocaust-Überlebende gelten dann nicht mehr traumatisiert, weil eben dieses einzelne überwältigende Ereignis fehlt und der oder die Überlebende nie dissoziiert hat – die ganze Situation war eben katastrophal.)
    2. Auch wenn ein einzelnes Ereignis im Vordergrund steht, scheint es mir, als seien Psychologen gut beraten, nicht nur dieses Ereignis, sondern auch das Davor und das Danach zu beleuchten. Häufig hat schon die Situation, die vorher war, die Person geschwächt, und die Reaktion der Mitmenschen auf das Ereignis hat einen wesentlichen Einfluss darauf, wie gut man es verarbeitet.

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  9. „Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass ein einmaliges Erlebnis oft zur Traumatisierung ausreicht. Was ich mir als traumatisierend vorstellen kann, ist, dass nach einer solchen Übergriffigkeit eine dann immer wieder gesellschaftlicher Rechtfertigung des Übergriffs begegnet“

    Ja das sehe ich genau so, insbesondere was die millionen vergewaltigten deutschen Frauen und Mädchen nach Kriegsende betrifft.

    Ich war eine von ihnen.

    Selbst schuld? Mit 10 Jahren? Und immer wieder die gleichen Rechtfertigungen und Verharmlosungen.

    Man lese nur die verstörenden Zitate von Adorno dazu, ein Heiliger des Feminismus, der in Briefen fordert Mädchen in Vergewaltigungslager zu stecken.

    Das sollte der Feminismus mal aufarbeiten.

    @ Frau Schrupp

    Ich habe eine Bitte die von Herzen kommt.

    Der Gebrauch dieses Begriffes „Vergewaltigungskultur“ sollet doch diesen schlimmen Verbrechen vorbehalten sein, gerade wenn der Begriff aus den USA kommt.

    Auch die Amerikaner haben viele Frauen und Mädchen und Jungen vergewaltigt.

    Wie auch im Irak.

    Danke schön fürs zuhören und liebe Grüße

    Luise

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  10. @ Luise: Erst einmal: Komplimente dafür, wie Sie sich in Ihrem Alter noch an Internet-Diskussionen beteiligen. Meine Eltern, die auch schon alt sind, aber jünger als Sie, nutzen das Internet sehr kompetent, aber vor der Beteiligung an Diskussionen schrecken Sie zurück.

    Ich sprach in einem meiner vorangegangenen Kommentare davon, dass zum Beispiel in einer Therapie der Fokus nie nur auf dem einzelnen traumatierenden Ereignis liegen sollte, sondern auch auf dem Kontext, also auf dem, was danach und dem, was davor geschehen ist. Im Fall der Vergewaltigungen zur Zeit des Kriegsendes wäre das einerseits die NS-Zeit einschließlich Angriffskrieg und der Ermordung der europäischen Juden und vieler anderer Menschen, andererseits wäre das der Umgang mit der NS-Vergangenheit in den Jahrzehnten seit 1945, den man nicht wirklich mit Aufarbeitung bezeichnen kann.

    Ein typisches Merkmal des Umgangs mit der NS-Vergangenheit besteht in der Selbststilisierung zu Opfern und der Weigerung, mit jenen mitzufühlen, die vom NS-Regime verfolgt wurden. Man konzentrierte sich auf das eigene Leid, sei es als Soldat im Krieg, sei es während der Bombenangriffe, sei es während der Flucht. Diese Erfahrungen wurden aus dem Kontext herausgelöst, anstatt sie in ihrem Zusammenhang mit dem Angriffskrieg zu sehen. Dabei wurde ständig ein Tabu behauptet („Wir dürfen ja nicht darüber reden“), das es aber nicht gab: Alle erzählten von den Bombenangriffen.

    Hier ein Link zu einem Blogpost, der genau diese Form der Erinnerung kritisiert, die sich weigert, einen Zusammenhang zwischen der Zerstörung deutscher Städte und der Befreiung der KZ-Häftlinge zu sehen: http://www.irgendwiejuedisch.com/2015/04/das-requiem-fur-einen-polnischen-jungen.html

    Bei Ihrer Geschichte über die Vergewaltigung deutscher Mädchen und Frauen bei Kriegsende habe ich mir überlegt, ob dort nicht ein ähnliches Phänomen besteht: Alle reden von einem Tabu, das aber faktisch nicht existiert. Ich habe versucht, mich daran zu erinnern, wann ich zum ersten Mal davon gehört haben: Es muss Anfang der Achtziger gewesen sein, als ich ungefähr zwölf war – jüngeren Kindern erzählt man solche Geschichten nicht. Unser Mathematiklehrer kam ins Reden und behauptete, deutsche Soldaten hätten nicht vergewaltigt, das sei verboten gewesen, nur die russischen Soldaten hätten dies getan. (Von den zahlreichen anderen Verbrechen deutscher Soldaten sprach er nicht.)

    Ob der typische Umgang mit diesen Verbrechen („Die bösen Russen! Die unschuldigen geschändeten deutschen Frauen!“) einer Verarbeitung der Traumata im therapeutischen SInn zuträglich war, wage ich zu bezweifeln. Ich kann mir vorstellen, dass die einzelne Frau als „geschändet“ galt. Aber insgesamt wurden – anders als in sonstigen Vergewaltigungsdiskursen – die betroffenen Frauen als Opfer und die vergewaltigenden Soldaten der Roten Armee als Täter, wenn nicht gar als Monster oder wilde Tiere gesehen. Kein Wort davon, dass die Frauen diese irgendwie gereizt hätten, indem sie „aufreizende“ Kleidung trugen.

    Es gibt allerdings den generellen Vorwurf, dass die Deutschen als Volk (natürlich nicht jeder und jede einzelne, aber sehr viele von ihnen) das Unglück verursacht haben, das die Folge des von ihnen begonnenen Krieges war (unter welchem übrigens auch all jene litten, deren Länder von den Deutschen besetzt waren, und auch jene, die sich entschlossen, gegen Deutschland zu kämpfen), Diesem Vorwurf schließe ich mich an. Aber ich habe wenig Hoffnung, dass Sie, wenn Sie in siebzig Jahren nicht gelernt haben, einen Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung herzustellen, es jetzt noch lernen.

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  11. „einen Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung herzustellen, es jetzt noch lernen“

    @ Susnna14

    Ist nicht genau ihr letzter Absatz „rape cultur“?

    Es gib keine Entschuldigung für Vergewaltigungen an Kindern, da sind wir uns doch hoffentlich einig. Es gibt auch keine Kollektivschuld.

    Es gibt dafür keine Ursache die soetwas rechtfertigt.
    Ich dachte das wäre unter Femministinnen eigentlich konsens.

    Mit freundlichen Grüßen

    Tine

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  12. @Tine

    Ohne den Angriffskrieg gegen die Sowietunion wären diese Vergewaltigungen nicht passiert. Ein anderes Land zu überfallen ist etwas völlig anderes als einen kurzen Rock zu tragen, oder all die anderen typischen Gründe, mit denen Frauen Vergewaltigungen angeblich „provozieren“.

    Es gibt keine Kollektivschuld, aber die allermeisten Deutschen einschließlich der Frauen haben sich während der NS-Zeit auf die eine oder andere Weise schuldig gemacht, und sei es nur, indem sie das Regime unterstützt haben. Dies gilt auch für Luise (falls sie kein Fake ist), Der Fokus auf die Verbrechen an Deutschen und die Vernachlässigung von Verbrechen, die von Deutschen begangen wurden, zeigt dies. Es wurden auch Frauen vergewaltigt, die im Widerstand waren, es wurden sogar Frauen vergewaltigt, die gerade den Konzentrationslagern entkommen waren, aber diese würden anders darüber schreiben. Die waren trotz der Vergewaltigung in erster Linie froh, dass die NS-Zeit zuende war.

    Natürlich waren die russischen Soldaten freie Menschen und hätten die Vergewaltigungen auch sein lassen können. (Insofern tragen sie die Verantwortung.) Aber der Diskurs über diese Vergewaltigungen scheint mir doch in das Muster zu fallen, das ich auch bei anderen deutschen Opfernarrativen (Bombenkrieg, Flucht und Vertreibung) finde: Ein behauptetes Tabu, obwohl alle darüber Bescheid wissen und ständig darüber reden, Entkontextualisierung der Taten, Vernachlässigung der Verbrechen der Deutschen… Und Luise geht es nicht um Vergewaltigung (die sie von mir aus gerne in einer Therapie bearbeiten kann), sondern eben um dieses deutsche Opfernarrativ.

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  13. Hallo Sebastian,
    Sie verwechseln da etwas:
    „dieses Massaker an Kindern ist Einzigartig.“
    Der Holocaust war ein einzigartiges Massaker, nicht nur, aber auch an Kindern. (Kinder gelten normalerweise als Sinnbild von Unschuld, es wurden aber auch viele unschuldige Erwachsene ermordert, was genauso schlimm ist.)
    Die Vergewaltigungen waren schlimm, aber nicht einzigartig. Was ich kritisiere, ist die Art und Weise, wie über diese Vergewaltigungen gesprochen wird. Sie werden instrumentalisiert, um von deutschen Verbrechen abzulenken und die Deutschen als die eigentlichen Opfer darzustellen, während die Rote Armee (die Auschwitz befreit hat) als Verbrecher hingestellt wird. Man kann über die Vergewaltigungen reden, aber wenn man es unter Verwendung von Superlativen wie „einzigartig“ tut, wie Sie es tun, dann geht es nicht mehr um die Vergewaltigungen, sondern darum, die deutschen Verbrechen zu relativieren.
    (Der andere Satz, bei dem es mir gruselte, war: Sie gehörten zur „falschen“ Ethnie. Auch hier findet wieder Täter-Opfer-Umkehr statt. Die Deutschen ermordeten Menschen, weil sie zur falschen Ethnie gehörten. Hinter den Vergewaltigungen durch Russen steckte kein Rassenwahn, sondern Hass, der nach alledem, was in Russland passiert war, sehr verständlich war. In diesem Hass machten sie keine großen Unterschiede zwischen Deutschen, die mitschuldig waren oder nicht, aber ehrlich gesagt, ist es ziemlich lächerlich, wenn Deutsche den Alliierten vorwerfen, dass sie da nicht genau genug unterschieden hätten.

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  14. @ Antje
    Ich weiß jetzt, woher die Vorstellung kommt, Adorno sei eine Ikone des Feminismus. In einem Vortrag von Andreas Kemper habe ich gelernt, dass der wahre Feind der Maskulisten oder Maskulinisten der sogenannte Kulturmarxismus, also die Frankfurter Schule sei. Der moderne Feminismus, insbesondere das Gender Mainstreaming, sei eine Werkzeug des Kulturmarxismus.

    Ehrlich gesagt, die Bemerkung über Adorno hat mir geholfen, „Luise“ (von der ich immer noch nicht weiß, ob sie ein Fake ist) nicht ernst zu nehmen. Ich habe eine Weile lang darüber nachgedacht, ob sie eine Widerstandskämpferin sein könnte, die vergewaltigt wurde. Solche Fälle gab es ja. Aber eine Widerstandskämpferin würde nicht so schreiben, wie „Luise“ es getan hat, und schon gar nicht würde sie eine hämische Bemerkung über Adorno machen.

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  15. Liebe Antje, bislang habe ich hier mitgelesen, doch was hier oben gerade passiert ist, finde ich unfassbar: „Hellstorm“ ist ein abscheulicher, glasklar faschistischer Progandafilm (weit entfernt von Dokumentation), mit dem auch alle (auch die deutschen) Opfer noch einmal verhöhnt werden. Der Film wird gerade – natürlich! – auf vielen rechten Internetseiten gepostet. Es ist hart, ihn durchzustehen, v.a. weil in bekannter Manier die Faschos alle anderen als die einzig Bösen hinstellen und die Nazi-Deutschen als die Guten. Den Film als Neo-Nazi-Propanda zu durchschauen sollte trotz des Zeitabstandes und vielleicht mitunter mangelndem Detailwissen Jüngerer trotzdem jeder und jedem einigermaßen geschichtsaufgeklärten Jugendlichen bereits gelingen!
    Bitte lass so etwas hier nicht unkommentiert!

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  16. @kinsue – Vielen Dank für den Hinweis, ich habe den Kommentar mit dem Film gelöscht. Mein Internet in China war so langsam, dass ich mir den Film nicht anschauen konnte und der Name hatte mir nichts gesagt! Tut mir leid, dass mir das durchgerutscht ist (aber gut, dass Leserinnen wie du aufpassen :))

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  17. @Antje, @kinsue
    auch von mir vielen Dank für den Hinweis. Ich habe mir ebenfalls den Film nicht angesehen. Ich fand schon den Text gruselig und wollte mir den Film nicht auch noch antun – aber ich muss auch gestehen, dass ich in solchen Situationen immer noch unsicher bin. Für mich klang schon der erste Kommentar von „Luise“ (ich fürchte, dass Luise und Sebastian identisch sind) ziemlich problematisch, und der zweite dann auch, aber ich kenne auch das Tabu, Frauen, die vergewaltigt wurden, zu verletzen und ihr Leid klein zu reden. Aber etwas klang falsch, und ich dachte: das kann ich nicht unkommentiert stehen lassen. Jetzt bin ich froh, dass mein Gespür mich nicht getrogen hat.

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