Hic sunt leones. Oder: die Grenzen des Paradieses.

Ich denke aus gegebenem Anlass seit einer Weile über Grenzen nach und die Frage, welche ideengeschichtliche und symbolische Funktion sie haben. Wir sind heute oft versucht, das Vorhandensein von territorialen Grenzen für etwas Selbstverständliches und Naturgegebenes zu halten. Aber mir scheint die Idee, die Erde (die doch offensichtlich niemandem „gehört“, sondern Lebensraum aller ist) in Bereiche aufzuteilen und Linien zu ziehen, die bestimmte Menschen überschreiten dürfen und andere nicht, keinesfalls selbstverständlich. Es ist sogar eigentlich eine verrückte Idee, die gegen ein grundlegendes Gerechtigkeitsempfinden verstößt. Denn mit welchem Recht sollte ein Mensch einen anderen Menschen daran hindern dürfen, von hier nach dort zu gehen?

Klar, zwischen dem Naturzustand und heute liegt eine Geschichte der menschlichen Gesellschaft. Wie also führte die zu Grenzziehungen und der Vorstellung, diese seien legitim? In der gegenwärtigen Debatte wird diese Frage meist materialistisch beantwortet: mit Überlegungen zu Wirtschaft, Eigentum und dergleichen. Grenzen sollen Eigentum schützen, die „Wirtschaftsflüchtlinge“ kommen nach Europa, weil es hier mehr Wohlstand gibt.

Ich denke aber, dass die wichtigste Funktion von Grenzen nicht ist, Eigentum und Wohlstand zu schützen (oder auch: deren gerechte Verteilung zu verhindern), sondern ein Innen von einem Außen zu trennen: Ein „Innen“, in dem eine Ordnung herrscht, und ein „Außen“, in dem Chaos herrscht.

Die Römer beschrifteten auf ihren Landkarten die Gegenden außerhalb der Grenzen des Römischen Reiches mit „Hic sunt leones“, „Hier sind Löwen“. Die staatliche Ordnungsmacht reichte nur bis zu diesen Grenzen. Nur innerhalb der Grenzen war man durch Gesetze geschützt, nur hier gab es ein Rechtssystem, Soldaten, eine Bürokratie, an die man sich wenden konnte, wenn einem Unrecht widerfuhr. Außerhalb dieser Grenzen war Wildnis, „Löwen“. Eine ähnliche Funktion hatten Stadtmauern: Innerhalb war man sicher, außerhalb drohte man, unter die Räuber zu fallen.

Auch die christliche Vorstellung vom Paradies entwickelte sich im Mittelalter genau entlang dieser Logik von „Innen“ und „Außen“. War die frühe christliche Gemeinde noch mit dem Anspruch aufgetreten, mit Hilfe einer jesuanischen Ethik das „Reich Gottes auf Erden“ zu verwirklichen, ganz allgemein, überall und für alle, so trat später gewissermaßen eine abgespeckte Version davon in Kraft: Das umzäunte „Paradiesgärtchen“. Das Paradies kann nicht überall sein, das friedliche, harmonische christliche Lebensideal existiert nur innerhalb der Klostermauern, außerhalb herrschen die Gesetze von Gewalt und Chaos. (Diese These stammt von Rita Nakashima Brock und Rebecca Ann Parker aus ihrem Buch „Saving Paradise). –

Die Funktion all dieser Grenzen war also nicht, Menschen daran zu hindern, sie zu übertreten, sondern sie begrenzte sozusagen das Gebiet, innerhalb dessen es möglich war, für Recht und Ordnung auch tatsächlich zu sorgen. Dass der westliche Eindruck der Gesetzlosigkeit meist auf die entsprechenden außerhalb der eigenen Grenzen liegenden Gegenden gar nicht zutraf, dass dort vielmehr indigene Gesellschaften lebten, die durchaus Gesetze und Regeln und Ordnungsprinzipien hatten, nur eben welche, die von einem westlich-universalistischen Blick nicht erkannt und verstanden wurden, steht dabei auf einem anderen Blatt.

Denn mit der Entstehung der Nationalstaaten wurde die gesamte Welt kolonisiert und in Staaten nach römisch-westlicher Machart aufgeteilt. Es blieb keine Wildnis mehr übrig, denn jedes Fitzelchen Erde wurde nun dem ein oder anderen Nationalstaat unterworfen oder zugeschlagen. Seither haben wir uns angewöhnt, Grenzen nicht mehr als Trennung zwischen Innen und Außen zu betrachten, sondern als Trennung zwischen dem Einen und dem Anderen. Als Trennlinien zwischen zwei souveränen Staaten, die eine jeweils unterschiedliche Ordnung haben – aber überall herrscht eben irgendeine Ordnung.

Vielleicht erleben wir zurzeit eine Periode, wo diese Weltordnung zusammenbricht, wo die Wildnis, in der nicht mehr Menschen und Gesetze herrschen, sondern Löwen, wieder wächst. Oder vielleicht erstmals wächst, weil die Gesetze und Ordnungen, die vor der Kolonialisierung dort das Zusammenleben geregelt und zivilisiert haben, inzwischen zerstört wurden, teilweise aus Ignoranz, teilweise mit Absicht.

Die Grenze zwischen Europa und dem Drumherum jedenfalls hat heute definitiv nicht mehr den Charakter einer Trennung zwischen dem Einen und dem Anderen, sondern sie trennt Innen und Außen. Wer es nicht hinein schafft in die Festung Europa, kann nicht einfach im Rahmen einer anderen Rechtsordnung leben, sondern muss gegen die Löwen ums nackte Überleben kämpfen.

Es ist falsch, dieses Geschehen in erster Linie unter ökonomischen Vorzeichen zu betrachten. Menschen, die nach Europa wollen und nicht hereingelassen werden ins „Paradies“, sind nicht auf der Suche nach materiellem Wohlstand, sondern sie fliehen vor den Löwen, also vor der Abwesenheit irgendeiner verlässlichen gesellschaftlichen Ordnung. Ihr Problem ist nicht nicht in erster Linie Armut, sondern die Unsicherheit, die daraus erwächst, nicht zu wissen, wer morgen das Sagen hat oder welche Regeln morgen gelten. In einem stabilen, wenn auch von materieller Knappheit geprägten System kann man irgendwie planen, einen eigenen Entwurf vom Leben haben und von dem, was man tun will. In einem System der reinen Willkür geht das nicht. Dort ist man nur Spielball anderer und nicht Protagonist, Protagonistin des eigenen Lebens (die Idee, dass Willkür das Schlimmste an Herrschaft ist, habe ich von Simone Weil).

Die Terroranschläge auf westliche Ziele machen das ebenfalls deutlich, vielleicht gar nicht mal in der Substanz, auf jeden Fall aber in der Symbolik: Sie werden nicht als ganz normale Verbrechen verstanden (die die staatliche Polizei dann auf ganz normalem Weg verfolgt, wie das innerhalb der Grenzen eben üblich ist), sondern als quasi externer Einschlag: die Löwen greifen an, punktuell, unkontrollierbar. Sie durchlöchern das Konzept vom abgeschotteten Paradies, zerstören die Illusion, dass die Grenzzäune die Löwen draußen halten können.

Der Fehler liegt nicht nur darin, dass „der Westen“ versucht, die Grenzen seines Paradiesgärtleins abzuschotten, was ihm kaum gelingen wird. Sondern auch darin, das ganze Problem in erster Linie mit Geld lösen zu wollen. Safeta Obhodjas, die 1992 vor dem Bürgerkrieg in Bosnien nach Deutschland geflohen ist, kritisiert in einem Interview, wie  nach dem „Friedensschluss“ auf dem Balkan Unsummen an Geld nach Bosnien geflossen ist, wodurch genau diese nicht-staatlichen „Löwen“ reich und mächtig geworden sind.

Und besonders fatal ist, dass beim Versuch, die Löwen möglichst effektiv zu bekämpfen, die Grenzen von Recht und Ordnung selbst gedehnt und durchlöchert werden.

 

Ich bin Journalistin und Politologin, Jahrgang 1964, und lebe in Frankfurt am Main.

29 Gedanken zu “Hic sunt leones. Oder: die Grenzen des Paradieses.

  1. Zweierlei:

    ich vermisse den Rekurs auf „Revier“ und Revierverhalten“; das scheint mir aber unvermeidlich, weil archaisch ganz sicher schon vorhanden. Eines der zahlreichen Verhalten, die wir überwinden können – wenn wir wollen.

    Und der knappe Schluss, mit dem Du Dich von Lösungen mittels Geld distanzierst, gefällt mir nicht. Die ganze Chose ist ja entstanden wegen Geld, und dass einzelne Versuche der Gutmachung jetzt Kompradoren finanziert, spricht nicht dagegen, dass wir ohne sehr viel Geld (bestenfalls halt für die Richtigen …) da nicht mehr rauskommen.

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  2. Kurz @peter brunner: Ich weiß nicht, ob das mit dem Revierverhalten nicht durch das Innen-Außen-Gegensatzpaar hinreichend abgedeckt ist. (Letztlich geht es dabei ja auch nur darum, eine/n Rivalen/in draußen zu halten.

    Zum Artikel: Ich mache mir seit ein paar Jahren Gedanken über Grundbesitz und je länger ich darüber nachdenke, umso absurder finde ich die Vorstellung, dass ein Mensch ein Stück Erde besitzt und dies sogar über sein irdisches Dasein hinaus, indem er es an seine Nachkommen vererben kann.
    Sich Gedanken über Nationalstaaten und nationale Grenzen zu machen, liegt als nächster Schritt nahe.
    Hier habe ich in mir den großen Widerspruch, dass ich einerseits sehr dankbar bin für die Rechtsordnung, die Struktur und die Planbarkeit (=Gegenteil von Willkür), die der Staat, in dem ich zufällig geboren wurde, mir bietet.
    Andererseits habe ich Schwierigkeiten mit der Gemeinschaft, die in einer doch recht zufällig gezogenen Grenze zusammengefasst wird. Und die natürlich ebenso die ausschließt, die nicht innerhalb dieser Grenze leben.

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  3. Schöner Artikel! Ist ne Frage, mit der ich mich in meiner Promotion (über Gemeinschaft und Gastfreundschaft) zentral beschäftige. Zwei Literaturtipps dazu: einen aus dekonstruktionistischer, einen aus sozialphilosophisch-phänomenologischer Sicht.
    a) Roberto Esposito möchte in seiner Trilogie (Communitas, Immunitas, Bios) zeigen, wie die Metapher der Immunität zentral diese Suche nach Sicherheit bis hin zur Einmauerung erklären kann. Die westliche Freiheitsgeschichte ist eine Geschichte der Immunisierung: man will sich aus dem Bereich einer potenziell gefährlich vorgestellten Koexistenz (Hobbes) in einen Bereich des Eigenen schützen. Um die Barrieren zwischen einen immer imaginierten, harmonischen Eigenen und dem Fremden aufrecht zu erhalten, braucht es einen Schutzmechanismus, der das Übel gegen das man sich schützen will inkorporiert (-> zB durch einen staatlichen Sicherheitsapparat). Diese Immunisierung, der Versuch sich unempfindlich zu machen, der Versuch alle (Selbst-)fremdheit zu tilgen führt irgendwann zur Autoimmunität: dann wenn zuviel Sicherheit da ist, zerstört man sich selbst. . Das ist jetzt eine sehr knappe Zusammenfassung eines wesentlich gehaltvolleren Textes. Hier wäre eine Erkenntnis: das „Ökonomische“ und die „innen/außen“ Unterscheidung sind nur zwei Seiten der selben Medaille: bei beiden geht es um Eigen-tum, um Selbsthabe, um die Idee eines irgendwie reinen „propriums“. Das Ökonmische setzt das Immune (das unbeschadete Eigene) voraus.
    b) Bernhard Waldenfels beginnt seine 30 Jahre andauernde Beschäftigung mit der Erfahrung des Fremden vom Standpunkt der Ordnungen aus. Es gibt Ordnungen; dort wo es Sozialität, Sprache etc. gibt. Ordnen und Grenzen ziehen sind im Wesentlichen das selbe. Entscheidend ist die Frage, wie Ordnungen mit dem Außer-Ordentlichen umgehen, also entweder eine fremde Ordnung oder das irritierend Fremde im Bereich des Eigenen, dass sich den eigenen Kategorien entzieht. Hier ist der Unterschied zwischen Feindschaft und Gastfreundschaft. Und Waldenfels kritisiert besonders Ideen von einer völlig offenen „Diskursgemeinschaft“, von herrschaftsfreien Dialogen, von völliger Entgrenzung. Nicht weil dadurch das eigene aufgegeben würde, sondern weil die Grenzziehungen, die sozusagen immer geschehen, verdeckt und unsichtbar gemacht werden. Wenn man sich die Koexistenz immer sehr harmonisch und offen vorstellt, werden die Grenzziehungen umso drastischer ausfallen: wenn jeder dabei sein soll, ist es umso verwerflicher, wenn man zB nicht dabei sein will.

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  4. @Peter Brunner – Ich bin mir nicht so sicher, ob das „Revierverhalten“ tatsächlich eine menschliche Konstante ist, oder nicht doch einfach die Folge einer bestimmten Mentalität und eines Männerbildes, das eher im 18./19. Jahrhundert anzusiedeln wäre und dann (passend zu der Zeit) nachträglich biologistisch „naturalisiert“ wurde. Es ist ja nicht in allen menschlichen Kulturen anzutreffen, und vielleicht spielte es bei der Entstehung von Grenzen auch gar nicht die Rolle, die ihm dann zugeschrieben wurde.

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  5. Ich dachte gleich an den europäischen Exportartikel, die sich heute Amerikaner nennen und fast so tun, als seien sie ursprünglicher Natur, weil heute jeder vergessen hat, welcher europäische Exportartikel da verschickt wurde. Sarkatisch, oder?

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  6. Als Metapher, um die aktuellen Probleme in eine frische Perspektive zu setzen, gefällt mir das mit den „Löwen“ ausgesprochen gut. Das bringt einen sehr wichtigen Aspekt auf den Punkt. Ich glaube aber, dass das Bild (mindestens) einen Bruch braucht, um einen weiteren Aspekt mit abzubilden.
    Mir fällt auf, dass in letzter Zeit besonders häufig von „schutzwürdigen“ Flüchtlingen die Rede ist. Das dient natürlich immer dazu, indirekt die „Nicht-Schutzwürdigen“ zu markieren. Berechtigter Schutz wird dabei meistens denjenigen Flüchtlingen zugesprochen, die vor den „Löwen“ in dem von dir genannten Sinne fliehen, also vor Kriegen, Bürgerkriegen usw. KEINEN Schutz verdienen aber angeblich jene, die „nur“ aus wirtschaftlichen Gründen fliehen. Diese Unterscheidung bedeutet übersetzt: Menschen verdienen Schutz vor den Folgen von Krieg. Sie verdienen KEINEN Schutz vor den Folgen neokolonialer Ausbeutung.
    Um zur Metapher zurückzukommen: Die „Löwen“, die da draußen Menschen fressen, sind nicht nur Löwen des Chaos an sich. Viele von ihnen gehören zu „unserer“ Ordnung als fester Bestandteil dazu – „wir“ haben sie da draußen hingeschickt. Sie ermöglichen „unsere“ Ordnung, indem sie andere Ordnungen zerstören. Im Zeitalter der Globalisierung beruht die Ordnung des „Westens“ zu einem nicht geringen Teil auf der Auslagerung von Chaos in den Rest der Welt. And it’s not a bug, it’s a feature.

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  7. Oder vielleicht erstmals wächst, weil die Gesetze und Ordnungen, die vor der Kolonialisierung dort das Zusammenleben geregelt und zivilisiert haben, inzwischen zerstört wurden, teilweise aus Ignoranz, teilweise mit Absicht.

    Wann war z.B. in Tunesien vor der Kolonisierung? Vor den Franzosen, vor den Osmanen, vor den Römern?

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  8. Die römischen Grenzen dienten in erster Linie dazu, Menschen abzuhalten (so wie auch Stadtmauern im Mittelalter). Ebenso die chinesische Mauer oder die Befestigungen Russlands in der Ukraine gegen die Krimtataren. Um ein innen oder außen zu markieren hätten diese Gesellschaften niemals so viele Ressourcen aufgebracht, wie sie zum Bau und Unterhalt dieser Bauwerke nötig waren. Für die damaligen Wirtschaftskraft pro Kopf kann man das nicht mit heutigen Grenzbefestigungen vergleichen.

    Bsp.: die Motivation hinter den immer wieder nach vorne verschobenen, hunderte km langen Wällen und Befestigungen in der heutigen Ukraine: die Gegend war lange Zeit kaum bewohnbar, weil das Khanat der Krim ab dem 14. Jh regelmäßige Überfälle verübte, bei der große Teile der Bevölkerung in die Sklaverei entführt wurden. Zwischen dem 14. Jh und dem 17. Jh wird die Zahl auf etwa 3 Millionen geschätzt. Die Mauern und Befestigungen sind große Hindernisse für Reitertruppen und geben den Infanterietruppen Zeit, einzugreifen. Nach und nach konnte Russland so die Bevölkerungszahl in der an sich fruchtbaren Ukraine stark anheben und schließlich das Khanat besiegen. Es gab weitere Faktoren, aber diese Befestigungsanlagen waren ein wichtiger Teilaspekt.

    Auch der römische Limes diente ganz wesentlich dazu, die Germanen von Raub- und Plünderungszügen abzuhalten sowie jeden Übertritt zu kontrollieren.

    Das gleiche gilt für die chinesische Mauer.

    Keines dieser Bauwerke hat zu allen Zeiten gehalten. Jedesmal, wenn zum Bsp. die chinesische Mauer von Reitervölker überwunden wurde, hatte das schwerwiegende Folgen. Als die Mongolen etwa China eroberten, starb schätzungsweise die ein Drittel bis die Hälfte der Bevölkerung. Doch meistens tat die Mauer das, was sie sollte: ein mobiles Reiterheer so bremsen, dass ein Infanterieheer eine Chance hatte.

    Ich denke auch die Wiener sahen den Zweck ihrer Stadtmauern bei der Belagerung durch die Türken eher als wirksame Verteidigung.

    Solange das römischen Reich stark genug war, hat es niemals erlaubt, dass etwa eine nennenswerte Anzahl Germanen auf römischen Gebiet umsiedelten. In Agrargesellschaften gibt es außerhalb der Landwirtschaft ja auch wenig Arbeit. Erst als Rom in Folge der Antoninische Pest hohe Bevölkerungsverluste hatte und damit auch wirtschaftliche und militärisch geschwächt war, wankten eine Zeit lang die Grenzen.

    Die modernen Nationalstaaten hatten ebenfalls eine Art Mauer, nämlich große Heere, die Ihnen ihre explodierenden Bevölkerung ermöglichte (beim Höhepunkt um 1900 stellte Europa 25% der Weltbevölkerung). Das dies möglich war, lag an der industriellen Revolution. Diese und die Technik hoben das das Pro-Kopf-Einkommen mehrfach über das von Agrarstaaten. Dies und der große technische Vorsprung ermöglichte bis dahin unvorstellbare Bewaffnung und Mobilität. Nicht einmal das ferne und bis noch fast ins 17. Jh weltwirtschaftlich dominante Ostasien konnte sich dem entziehen. Seitdem glauben wir Europäer vermutlich, Mauern würden nicht funktionieren.

    Sehr gut funktionierende Mauern und Befestigungen (aus Sicht ihrer Erbauer natürlich) kann man in Israel sehen und an der spanischen Grenze zu Marokko.

    Viele Staaten dieser Welt haben noch (eine Zeit lang) schnell wachsende Bevölkerungen, und viele davon werden dadurch noch instabil werden. Wir werden daher, denke ich, noch viele Mauern in der Welt entstehen sehen. Und sie werden im wesentlichen auch funktionieren, denn im Gegensatz zu der Ausnahmesituation der Europäer während der industriellen Revolution haben diese Staaten keine technische Überlegenheit und sind auch, was die Produktion angeht, weit unterlegen. Diese Staaten werden daher nicht expandieren, sondern in Bürgerkriegen zerfallen.

    Auch das Zahlen von „Tribut“ hat Tradition. Sowohl die Römer als auch die Chinesen haben zeitweise darauf zurückgegriffen, oder auch die Habsburger an die Türken. Meist war es ein Mittel, Zeit zu gewinnen.

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  9. Mich irritiert übrigens das Wort „westlich“ in deinem Text, Antje: Den Blick der Römer auf die Germanen als westlich zu bezeichnen wirkt zumindest ungewohnt. Ich meine den Begriff und nicht die Intention, denn die Römer hatten wohl wenig Ahnung von den Germanen, schauten auf sie herab und unterschätzten sie.

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  10. Grenzen und Mauern dienen dem Schutz für etwas geschaffenes. Gäbe es tatsächlich keine Grenzen (ich meine hier nicht nur die Nationalstaaten, sondern zum Beispiel auch Grundstücke im kleinen), so hätte keiner die Möglichkeit, etwas geschaffenes für sich zu schützen. Wenn nun einer sich einen besonders schönen Gartenteich einrichtet, so würde ein weglassen der Grenze dazu führen, dass er nicht mehr die Ruhe seiner Arbeit genießen könnte, da viele Menschen nun davon profitieren möchten, ob wohl die Arbeit für den schönen Garten nur einer getan hat.

    Auch nationale Grenzen dienen natürlich dem Schutz. Auch dem Schutz der eigenen Regeln, Gesetzte und Ordnung. Wenn andere Menschen andere Regeln für das Richtige halten, so wird diese dazu führen, dass plötzlich Chaos entsteht, wenn es keine Grenzen gibt.

    Nationalstaaten dienen also dazu, dass jede Gruppe, die sich gemeinsam auf Regeln und Ordnungen geeinigt hat, diese schützen kann.

    Und wenn es tatsächlich so ist, dass die Mehrheit der Flüchtlinge vor den Löwen flieht, warum reicht ihnen dann nicht Europa?
    Warum muss es Deutschland sein?
    Welche Löwen gibt es denn in Italien oder Österreich, dass so wenig dort bleiben möchten?
    Meiner Meinung nach, muss man tatsächlich unterscheiden, warum jemand kommt. Und für jemanden, der aus wirtschaftlichen Gründen kommt (sollte über eine normale Einwanderung in den Arbeitsmarkt problemlos möglich sein) müssen andere Regeln gelten als für jemanden, der um Asyl ansucht.

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  11. Migration von armen Länder in reiche Länder hat immer sowohl einen wirtschaftlichen als auch einen institutionellen Aspekt (im weitesten Sinne, viele kulturelle Traditionen und Gebräuche eingeschlossen). Arme Länder haben andere Institutionen, weil in armen Länder andere entweder zweckvoller sind oder weil man sich viele, wie z.Bsp. Demokratie, den Rechtsstaat, lange Bildungswege, Wissenschaft und Forschung, umverteilende Sozialsysteme, Rücksicht auf Minderheiten usw., auch leisten können muss.

    Noch bevor nun in den Ländern die industrielle Revolution an Fahrt gewinnt, wächst die Bevölkerung erst mal schneller, als der Kapitalstock mitwachsen kann. So war das auch in Europa. Das bedeutet, dass die nächste Generation ärmer ist und sozial absteigt verglichen mit ihren Eltern, auch wenn die Wirtschaft im schnell wächst. Wenn das die oberen Bevölkerungsschichten erreicht, erhöht das den Druck in der Gesellschaft besonders stark. Gerne verklärt man dann eine scheinbar ideale, in der Vergangenheit liegende Gesellschaft und deren „Ideale“.

    Aber gleichzeitig müssen die Institutionen an die Anforderungen der modernen Industriegesellschaft angepasst werden. Die neuen sind noch schwach, schlecht verankert, und gleichzeitig verlieren die alten an Nutzen und Autorität.

    Und so wird Migration für einen Teil der Bevölkerung eine wirtschaftlich echte Alternative. Der Nutzen liegt wesentlich höher als die (nicht zu unterschätzenden) Kosten. Gleichzeitig herrschen oft chaotische, wenn nicht bürgerkriegsähnliche Zustände in den Ländern.

    Die Migranten bringen natürlich auch Teile ihrer unpassenden Institutionen mit. Allein das schafft Spannungen mit der ansässigen Bevölkerung. Je mehr Migranten aus einem Kulturraum kommen, desto geringer ist erst mal der Anpassungsdruck, und um so schlechter ist die Akzeptanz. Irgendwann geht die ansässige Bevölkerung in den Panikmodus über und dann wird die weitere Einwanderung abrupt unterbunden und oft werden Sozialsysteme teilweise rückgebaut. Meist dauert es dann ein bis zwei Generationen, bis die Assimilation soweit fortgeschritten ist, dass wieder die Fiktion einer gemeinsamen Identität und Abstammung wieder etabliert ist (und tatsächlich spielen Mischehen eine wichtige Rolle). Die Assimilation geht hauptsächlich auf Kosten der Migranten, zum einen müssen sie ja viele Institutionen aufgeben, weil sie unzweckmäßig sind, zum anderen haben die Migranten den größten wirtschaftlichen Nutzen und damit die Anreize. Man wird sich das in Schweden ansehen können, denke ich.

    Gleichzeitig aber ändern sich auch die Gesellschaften der Herkunftsländer, der Bevölkerungszuwachs endet, der Kapitalstock kann aufholen und überholen, moderne Institutionen haben sich etabliert und die Migration ist für die meisten nicht mehr attraktiv.

    In einem ganz großen Maßstab konnten und können wir das z. Bsp. in China sehen, das nun am Ende des Prozesses steht und bald Teil des „Westens“ sein wird (nicht des politischen Westens, sondern des kulturellen). Man darf sich von der missgünstigen Berichterstattung unserer Presse nicht täuschen lassen: wir werden ziemlich sicher noch erleben, wie China demokratisch und rechtsstaatlich werden wird. Und vielleicht erleben wir auch den Zeitpunkt, wo China zum bedeutendsten Zentrum von Wissenschaft und Forschung wird. (Nebenbei: wir werden dann auch sehen, dass China als Demokratie erst einmal nationalistischer und eventuell auch aggressiver agieren wird.)

    Andere Beispiele, die das gröbste hinter sich haben, sind die Türkei oder der Iran (wobei die Türkei natürlich schon weiter ist).

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  12. Noch was zum Hauptthema:

    Es ist falsch, dieses Geschehen in erster Linie unter ökonomischen Vorzeichen zu betrachten. Menschen, die nach Europa wollen und nicht hereingelassen werden ins „Paradies“, sind nicht auf der Suche nach materiellem Wohlstand, sondern sie fliehen vor den Löwen, also vor der Abwesenheit irgendeiner verlässlichen gesellschaftlichen Ordnung.

    Ich denke, dass das ein wichtiger Punkt ist, aber so pauschal nicht stimmt. Beispiel Syrien: Der Krieg geht jetzt schon seit fünf Jahren. Auf den Weg nach Europa gemacht haben sich die Leute in großer Zahl, als letztes Jahr beim UNHCR das Geld gekürzt wurde und sich in den Flüchtlingslagern der Nachbarländer die Versorgung verschlechterte. Sowas ist ja subjektiv auch ein instabiler bis chaotischer Zustand (dass es irgendwem im Tschad noch schlechter geht, spielt ja keine Rolle). Die meisten Syrer haben früher in einer normalen Wohnung oder in einem ganzen Haus gelebt, und dann wohnten sie jahrelang beengt in einer Baracke oder einem Zelt. Das hält man mit Kindern nicht ewig aus und erwartet in Deutschland womöglich auch was Besseres als eine Pritsche in einer Turnhalle.

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  13. Nur mal zum Ausgangspunkt:

    „Ich denke aber, dass die wichtigste Funktion von Grenzen nicht ist, Eigentum und Wohlstand zu schützen (oder auch: deren gerechte Verteilung zu verhindern), sondern ein Innen von einem Außen zu trennen: Ein „Innen“, in dem eine Ordnung herrscht, und ein „Außen“, in dem Chaos herrscht.“

    Ich denke, dass historisch betrachtet sehr wohl der ökonomisch/landwirschaftliche Aspekt den Ausschlag gab, Grenzen zu brauchen. Als eine mit verschiedenen Erfahrungen im Anbauen und Gärtnern kann ich nur sagen: Wenn die Nachbarn Ziegen halten, Herden durchtreiben, das Wasser abgraben oder Touristen beherbergen, sind Grenzen mehr als angesagt. Oft reichen sie nicht mal, man muss zu Zäunen schreiten!

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  14. @Antje: …wenn ich was von dir gelesen habe, geistert das oft noch lange in meinem Kopf rum und manchmal, wie jetzt finde ich was Passendes ganz unverhofft.
    Habe seit neuestem ein Lettre-Abo und dort fand ich einen Auszug aus einem Buch von Simon Glinvad Nielsen, der, glaube ich, noch nicht ins Deutsche übersetzt wurde. Der Artikel heißt „Technische Insolvenz“ und ist sehr autobiografisch.
    Dort fand ich folgende Passage:
    „Der chinesisch- amerikanische Philosoph Yi-Fu Tuan schreibt, dass alle Kulturen das Bedürfnis zur Kennzeichnung des Raumes haben, der sie umgibt.
    Man schafft Grenzen, um sich materiell oder rituell zu schützen, und drei Arten von Grenzen wiederholen sich in den Kulturen, die Yuan untersucht. Eigentum, Haus und Körper. Die Domäne ist die größte Einheit und bezeichnet die lokale Gesellschaft, deren Teil man ist. Festungswerke und Stadtmauern mittelalterlicher Städte sind deutliche Abgrenzungen, aber auch symbolische Grenzziehungen haben eine entscheidende Rolle in der Errichtung und Aufrechterhaltung lokaler Gemeinschaften gespielt. In England gab man das Wissen über den Umfang des Pfarrdistrikts durch ein jährliches Abwandern seiner Grenzen weiter, wobei man um Schutz und Segen betete und die Grenzzeichen reparierte die im Lauf des Jahres entzweigegangen oder entfernt worden waren. Im Inneren der Domäne beschützt man die Öffnungen seines Hauses mit Hilfe von Beschwörungen oder Symbolen (ein Hufeisen, Zauberwurzeln und Borken, drei Nägel, welche die heilige Dreieinigkeit vertreten) und schließlich bewacht man die Öffnungen des Körpers, durch die das Schlechte, Böse Einzug halten kann. Im 15. Jahrhundert, so schreibt Tuan, mussten Kinder zunächst das Kreuzzeichen über dem Mund schlagen, bevor sie mit dem Essen begannen.

    Wir ziehen Grenzen und beschützen ihre Schwachstellen und Durchlässe, Sicherheit ist jedoch nicht selbstverständlich. Die Furcht vor den Gefahren auf der anderen Seite der Grenze wird von der Furcht verstärkt, dass diese Gefahren sich bereits in unserer Nähe befinden, ohne dass uns das bewusst geworden ist. Wir befinden uns unter Belagerung. War die Belagerung früher aber physisch und lebensbedrohend, hat sie nun unsere Sinne befallen und stimuliert abwechselnd unsere Furcht und unser Kontrollbedürfnis ( auch hier wird eine Grenze übertreten oder vielleicht sogar überlistet: Die Verteidigung des Körpers löst sich auf). Um 1420 kamen Wolfsrudel durch die Löcher in der Stadtbefestigung von Paris und griffen die verängstigten Einwohner an. Heute Leben die wenigsten von uns unter solcher Bedrohung, aber die Furcht vor dem Anderen, vor dem Barbarischen auf der anderen Seite der Mauer ist nicht weniger wirklich; ist vielmehr näher gerückt und uns zu einem Spiegelkabinett geworden, in dem unser Albtraum körperliche Dimensionen annimmt. Durch das Loch in der Hecke sehen wir das Leben, das wir nicht leben wollen, den Menschen, der wir nicht sein wollen. Wenn wir Verwünschungen/Flüche ausstoßen un die Faust in der Tasche Ballen, greifen wir uns selbst an, un dieser Kampf ist nicht zu gewinnen, er kann höchstens ausgesetzt werden, denn um siegreich zu sein, müssten wir die Gesinnung auslöschen, welche die Furcht hervorruft. Und wie sollte das möglich sein, wenn der gesamte Kampf dem Überleben gilt?“

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  15. Einen Satz fand ich auch noch gut:
    “ Was schafft Nachbarschaft? Ist es gerade das Bewusstsein einer Grenze, die es ermöglicht, die Nähe des anderen zu ertragen? „

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  16. @onlinemeier – ja, interessant, aber irgendwie ja auch nur die eine Seite der Medaille. Es gibt ja auch die Faszination für das Andere, das Wissenwollen, was jenseits der Bergkette ist, das Interesse, das Staunen? Es wird ja auch alles mögliche unter dem Begriff „Grenze“ subsumiert, von dem ich nicht weiß, ob es sinnvoll ist, dafür nur einen Begriff zu haben. Zum Beispiel gibt es eine Grenze meiner Unversehrtheit, und wenn jemand die überschreitet ist das unangenehm und macht Angst, aber die hat nur zum Teil was mit einer räumlichen Abgrenzung zu tun, eher mit der Frage, was ist übergriffig. Ich finde, das ist etwas anderes als räumliche Grenzziehungen, die auch nicht nur symbolischer Natur sind, sondern tatsächlich mit Macht und Gewalt (Stacheldraht, Polizei) Menschen daran hindern, sich von hier nach dort zu bewegen.

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  17. @Antje: wenn ich dich richtig verstanden habe, bist du der Frage auf der Spur, wie es zu Grenzen gekommen ist und warum wir sie als selbstverständlich und legitim betrachten. Wenn die eine Seite der Medaille der Schutz wäre ( wie Tuan schreibt, von Eigentum, Haus und Körper) und die andere Seite der Medaille wäre die Faszination, die Neugier, Grenzen zu überwinden, dann könnte ja vielleicht das Ziehen von Grenzen das Ergebnis dieser Neugier sein. Denn wenn ich lossegele, um zu sehen, was “ hinter dem Horizont “ ist und ich entdecke dort neues Land und erobere es – anstatt es nur zu besuchen und zu bestaunen – dann entwickele ich vielleicht die Furcht davor, mir könnte das, was ich erobert habe, wieder weggenommen werden. Weshalb ich es durch (Grenz-)Befestigungen schützen will.
    Wenn ich aber losginge und würde die, die schon da sind, wo ich auch hin will, fragen, ob ich bleiben kann, ob sie mit mir teilen würden, dann bräuchte es vielleicht keine Grenzen? Dann wären vielleicht nie welche entstanden?
    Sind Grenzen also möglicherweise das Ergebnis von menschlicher Gier?

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  18. „Die Terroranschläge auf westliche Ziele machen das ebenfalls deutlich, vielleicht gar nicht mal in der Substanz, auf jeden Fall aber in der Symbolik: Sie werden nicht als ganz normale Verbrechen verstanden (die die staatliche Polizei dann auf ganz normalem Weg verfolgt, wie das innerhalb der Grenzen eben üblich ist), sondern als quasi externer Einschlag:“

    Da schwingt für mich implizit mit, dass sie eigentlich doch ganz normale Verbrechen sind. Sind sie das? Sind die NSU-Morde „nur“ eine Mordserie? Imho nein, sie sind eben keine Angriffe auf Personen, sondern auf die gesellschaftliche Metaebene. In sofern ist auch der westliche Umgang mit diesen „Löwen“ nachvollziehbar.

    „Der Fehler liegt nicht nur darin, dass „der Westen“ versucht, die Grenzen seines Paradiesgärtleins abzuschotten, was ihm kaum gelingen wird. Sondern auch darin, das ganze Problem in erster Linie mit Geld lösen zu wollen.“

    Was wäre Ihre Alternative? Imho steckt man sofort in dem Dilemma, dass das Verändern des Selbst nicht ausreicht, um fremde Probleme zu lösen, jede Einmischung in selbige aber genau das erfordert, was man eigentlich verhindern möchte.

    Für mich sind Grenzen im übrigen ebenfalls Trennbarrieren zwischen „innen“ und „außen“. Aber primär im Sinne einer Einflussnahmenbegrenzung. Denn nur ohne diese kann überhaupt eine Form von Ordnung entstehen, oder anders gesagt: Mehr Variable erhöhen halt ständig die Entropie – etwas, dass ich für nicht sonderlch erstrebenswert halte.

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  19. Ich finde, das ist etwas anderes als räumliche Grenzziehungen, die auch nicht nur symbolischer Natur sind, sondern tatsächlich mit Macht und Gewalt (Stacheldraht, Polizei) Menschen daran hindern, sich von hier nach dort zu bewegen.

    Bewegen kann auch alles mögliche heißen – vom Verwandtenbesuch bis zur dauerhaften Einreise. No-Borders-Aktivsten vermischen das gern. Aber mit Touristenvisum kommt man ja rein. Das Hindernis ist also das Geld und nicht die physische Grenze.

    Wir haben die Wahl zwischen völlig ungeregelter Zuwanderung (und womöglich Reisewarnungen für Deutschland für Touristen) und einem soliden Sozialstaat mit geregelter Zuwanderung. Die halbe Welt auf ein bedingungsloses Grundeinkommen einzuladen funktioniert ja eher nicht.

    Aber es gibt ja Aktivisten, die den Staat und das Geld eh doof finden und sich freuen, dass in Griechenland die öffentlichen Strukturen zerfallen, weil man dann den Hungernden und Selbstmordgefährdeten die anarchistische Selbstorganisation missionieren kann. Das ist alles im Paket mit drin, wenn jemand „No Borders“ sagt.

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  20. @Irene (@irene_muc)
    „Wir haben die Wahl zwischen völlig ungeregelter Zuwanderung (und womöglich Reisewarnungen für Deutschland für Touristen) und einem soliden Sozialstaat mit geregelter Zuwanderung. Die halbe Welt auf ein bedingungsloses Grundeinkommen einzuladen funktioniert ja eher nicht.“

    Habe ich bisher nicht mitbekommen, dass „die halbe Welt auf ein bedingungsloses Grundeinkommen“ eingeladen wird.
    Auch was die Schweizer Initiative betrifft, liest sich das anders.
    Hier ein Auszug aus einem Interview mit Giannis Varoufakis:
    „Die Initiative sieht vor, dass alle erwachsenen Einwohner der Schweiz monatlich 2500 Franken erhalten sollen. Würde dies nicht die Einwanderung und die Flucht in die Schweiz befeuern?
    Das ist ein ernsthafter Einwand. Ich glaube, dass nur Bewohner als Bezüger infrage kommen, die eine bestimmte Zeit in der Schweiz gelebt haben. Über eine Frist wäre das elegant zu regeln.“
    http://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/standard/Schweiz-ist-ideal-fuer-Experimente-mit-dem-Grundeinkommen/story/23669824

    Selber denke ich beim Grundeinkommen nicht an die halbe, sondern an die ganze Welt. 🙂
    http://bgerheinmain.blogsport.de/2015/04/27/eine-antwort-auf-internationale-migrationen/
    „Vielen unserer Mitmenschen geht es schlecht. Sie versuchen, ihre Situation sowie die der ihnen Nahestehenden zu verbessern. In Europa geht es viel weniger Menschen schlecht als z.B. in Afrika. Unter anderem weil Europa wie auch die anderen Industrienationen eine aggressive Außenhandelspolitik betreiben, in Afrika Rohstoffe billig abbauen, und zusätzlich noch gesundheitsschädlichen Müll dort straflos abladen, DAS ALLES ohne Rücksicht auf die Zerstörung der Umwelt und der Lebensgrundlagen der Menschen vor Ort. Manche Menschen aus Afrika oder anderen so verarmten Ländern handeln genau wie Europäer auch immer gehandelt haben, wenn es richtig schlecht ging: Sie versuchen dort hinzukommen, wo sie für sich und die ihren bessere Chancen auf ein gutes Leben oder wenigstens ein Überleben sehen.

    Das finden manche Leute hierzulande gut, weil sie sich davon viele billige Arbeitskräfte versprechen. Andere finden es gut, weil sie die Einwanderer als kulturelle Bereicherung empfinden und ihnen vielleicht auch ein gutes Leben wünschen.

    Wieder andere finden das schlecht, weil sie sich von den Einwanderern bedroht fühlen, z.B. weil sie selbst dadurch auf dem Arbeitsmarkt noch weiter unter Druck geraten. Vielleicht auch, weil sie sich ihrer selbst so wenig sicher und kulturell derart verarmt sind, dass sie mit anderen Kulturen nichts anfangen können.

    Was können wir tun, damit Menschen dort wo sie leben nicht länger von Armut, Krieg und Verfolgung bedroht werden? Was ist nötig, damit Menschen einander nicht mehr als Bedrohung wahrnehmen, als Konkurrenz um die absoluten Existenzgrundlagen?

    Was alle Menschen brauchen ist Wasser, Nahrung, Kleidung, Obdach und Gesundheitsversorgung sowie Kommunikation mit anderen Menschen, Zugang zu Bildung und Kultur, ein Gefühl der Zugehörigkeit, also ein Mindestmaß an gesellschaftlicher Teilhabe. Alle diese Dinge lassen sich organisieren, oftmals am besten dezentral also vor Ort und durch die betroffenen Menschen selbst. Dafür müssen sie nur über Kaufkraft verfügen, also über Geld. Denn wer Kaufkraft hat findet im Allgemeinen jemanden der ihm die benötigten Dinge verschafft.

    Geld lässt sich ohne großen Aufwand dort hinschicken, wo es gebraucht wird.

    Die Idee ist ganz einfach: Wir sollten dafür sorgen, dass alle Menschen immer und verlässlich so viel Geld bekommen, dass ihre Existenz und grundlegende gesellschaftliche Teilhabe sichergestellt sind. Finanzieren lässt sich das z.B. durch eine Abgabe auf Umweltverbrauch (CO2-Freisetzung), auf unbare Geld- Transaktionen, auf Vermögen (insbesondere Land und Immobilien); außerdem gehören die Geldschöpfung selbst sowie die Gewinne daraus vergesellschaftet. Dadurch würde auch das globale Öko- und Wirtschaftssystems stabilisiert.

    Deutschland, Europa, „der Westen“ könnten damit anfangen, ein BEDINGUNGSLOSES GRUNDEINKOMMEN einzurichten und die sogenannten Entwicklungs- und Schwellenländer zum Mitmachen einladen. Damit niemand mehr sein Leben riskieren muss, um hierher zu kommen und niemand mehr Angst vor denen haben muss, die trotzdem kommen.“

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  21. Die Idee ist ganz einfach: Wir sollten dafür sorgen, dass alle Menschen immer und verlässlich so viel Geld bekommen, dass ihre Existenz und grundlegende gesellschaftliche Teilhabe sichergestellt sind.

    Wer ist „wir“? Wir Westler? Was können wir z.B. gegen korrupte Regierungen in Afrika tun, um Geld gerechter zu verteilen?

    Was die elegante Frist fürs Recht auf BGE angeht: Was wäre denn elegant?

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  22. Ich denke auch das sind das sind zwei Teile der selben Medaille. Wenn Menschen zu uns kommen und dauerhaft bleiben wollen oder vermutlich werden, können wir das in gewisserweise auch als übergriffig empfinden.

    Xenophobie und Xenophilie verkörpern diese zwei Seiten. Kein Mensch ist so provinziell, dass Neues oder Unbekanntes nicht doch auch eine Faszination ausüben würde. Das Andere, fremde, dass das wir nicht kennen weist einen gewissen Reiz aus und macht die Beschäftigung damit interessant und unterhaltsam. Jedoch rekurriert die Frage des Anderen auch auf die Frage des Eigenen. Wir erkennen uns zum Beispiel im Anderen selbst, weil wir anhand unserem Gegenbild zuordnen können, was uns vom ihm unterscheidet, was uns speziell macht. Die Xenophobie rührt demnach von dort her, wo das Fremde in das Selbst einzudringen versucht. Als Individuum würden wir den Versuch eines anderen uns umerziehen zu wollen abwehren. Die Faszination des Fremden verkehrt sich, wenn es beginnt und zu kolonialisieren. Wenn nun Menschen bei uns einkehren, nicht auf Zeit sondern auf Dauer und wir plötzlich gezwungen sind uns zu hinterfragen und unser Verhalten in einem Raum und einer Gesellschaft, die bisher fraglos wir waren, anzupassen wir also uns fremder werden, dann tritt auch hier wieder das Empfinden von Übergriffigkeit auf.

    Bei aller Solidarität (und bei der genannten Fremd und Eigenunterscheidung ist die Basis für ein nebeneinander leben die Gemeinsamkeit) muss man einwenden, dass Grenzen auch das Selbst schützen und das Wanderungsbewegungen, weil sie von viel existenzielleren oder materialistischeren Nöten getrieben werden, darauf freilich keine Rücksicht nehmen (können) für die Betroffenen das dennoch ebenso eine relevante Größe ist. Das Überschreiten auch einer staatlichen Grenze kann damit einen Raum der Selbstbestimmung verletzten.

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  23. Eine bessere Welt (auch wenn ich die Verantwortung nicht primär bei den Industriestaaten sehe) wäre eine gute Maßnahme.

    Der Witz wäre: Die, die dann trotzdem noch kommen würden, würden es dann tatsächlich um des Landeswillen tun, in das sie kommen und schon mit dem Willen Teil des Landes und seiner Kultur zu werden und zu sein.

    Der absolute Löwenanteil heutiger Migration hat Opportunitätsgründe (sozialer oder materieller Art). Der Zuzug in gewisse Länder folgt damit einer Kosten-Nutzen-Orientierung. Teil der dortigen Identität will man eigentlich nicht werden oder nur soviel, wie nötig um die maximale Teilhabe an den gesellschaftlichen Pfründen zu erhalten. Das Nicht.Wollen jedoch nicht aus primärer Verweigerung, sondern weil sie ebenso wenig wie die Eingeborenen ihre Identität aufgeben möchten, wodurch sie allerdings die Einheimischen, wenn diese offen sein wollen, dann doch dazu zwingen dies mehr oder minder zu tun, was dann zu mehr oder minder berechtigen Gefühlen von Überfremdung führen kann.

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  24. Ich denke auch das Selbstermächtigung eine wichtigere oder zumindest grundlegendere Rolle spielen muss als Transferzahlungen, die erst sinnvoll danach ansetzen können.

    Aktivisten reden häufig von den schrecklichen Verhältnissen materieller oder politischer Natur in den Ländern aus denen Migranten und Flüchtlinge kommen. Sie verweisen dann auch auf die unrühmliche Rolle Europas und weshalb wir schon aus Ausgleich verpflichtet sind Menschen aufzunehmen.

    Selten redet man davon, dass dies a) keine unabänderlichen Verhältnisse sind und b) es nicht Europas Aufgabe ist für geordnete Gemeinwesen zu sorgen, höchstens bei deren Aufbau auf Wunsch zu helfen. Der Gedanke an Europas oder des Westens Heilsbringerolle verbietet sich allein dadurch, dass damit erneut die Ansicht verbunden wäre, dass hier der fortschrittliche weiße Mann die Bürde der Zivilisierung der Indigenen zu tragen habe.

    Tatsächlich sind selbst die Staaten in den Hungersnöte an der Tagesordnung sind, keineswegs arm. Überall wo Menschen siedelten, sprich überall wo heute auch noch Gemeinwesen sind, gibt es mehr als ausreichend Ressourcen zur Versorgung. Wenn in Äthiopien mit den richtigen Anbaumethoden selbst Ausläufer der Sahelzone fruchtbar genug gemacht werden können, dass eine Dorfgemeinschaft sich nicht nur selbst versorgen sondern auch noch einen Überschuss erwirtschaften kann (ohne auf Dünger und Gensaat angewiesen zu sein) darf es als Beleg gelten, dass es darauf ankommt das notwendige Grundwissen zu vermitteln und dafür zu sorgen, dass die Leute selbst die Initiative zu ergreifen, wie jener Dorfvorsteher, der sich selbst um eine Lösung für das Hungerproblem bemühte, um das sich die Regierung nicht kümmern wollten.

    Wie ein britischer Ökonom vor einiger Zeit in einem Interview festhielt, übersehen wir häufig, dass es bei der Migration den Ländern die Menschen abgeben in der Regel die jungen und gebildeten Kräfte abhanden kommen, die in der Lage wären eine gesellschaftliche Erneuerung zu denken und Reform oder Revolution zu tragen, tatsächlich damit Migration inzwischen ein geeignetes Ventil für Despotien aller Art geworden ist, geht der Widerstand, erhält sich das System. Das ist die Schattenseite.

    Viele Probleme wären dabei politisch zu lösen. Wie gesagt verfügen viele Länder gerade in Afrika über Reichtümer. Wir haben keine Kolonialregime, die noch wie in Belgisch-Kongo mit Waffengewalt absichern könnten, dass dort geförderte Diamanten in die Heimat verschifft würden. Die Regierungen sind relativ frei in der Frage an welche Unternehmen sie zu welchen BEdingungen Konzessionen zur Ressourcen-Förderung, Nutzung oder Export abgeben, ebenso der Landverkauf. Es sind örtliche Regierungen die über die Reichtümer befinden, es sind örtliche regierungen, die wenn die Konzessionen abwerfen ggf. die Gewinne solidarisieren, es sind die dortigen Regierungen die ggf. mit einer allzu liberalen Politik die heimische Wirtschaft nicht vor Importen zu schützen (weshalb sich der Aufbau einer eigenen starken Wirtschaftsbasis nicht vermöglicht) oder es versäumen Regelungen zu erlassen, die Landbesitzer bspw. dazu zwingen würden neben exportprodukten wie Kaffee oder Kakao auch eine Mindestfläche mit Nahrungsmitteln zu bestellen. Häufig geht es dabei darum, dass es den Regimen egal ist, weil ihre Pfründe ja sicher sind oder im Fall der Konzessionen selbst daran noch prächtig verdienen, in dem sie Eigentum des gesamten Volkes verramschen.

    Statt also auf eine göttliche (oder westliche) Erlösung zu setzen, müssen die Menschen endlich erkennen, dass sie selbst der Staat sind und ihr Recht einfordern, Regierungen absetzen, die volksfeindlich agieren, solche einzusetzen, die konkrete Verbesserungen vornehmen.

    Zu sagen all diese Probleme könnten nur vom Westen gelöst werden oder sollten vom Westen gelöst werden, verdammen die Menschen in entwicklungsländern zu Unmündigen, dabei haben sie alles Recht dazu über ihre Staaten selbst zu bestimmen, wenn sie es denn endlich täten.

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  25. @Seldis – „Zu sagen all diese Probleme könnten nur vom Westen gelöst werden oder sollten vom Westen gelöst werden, verdammen die Menschen in entwicklungsländern zu Unmündigen, dabei haben sie alles Recht dazu über ihre Staaten selbst zu bestimmen, wenn sie es denn endlich täten.“

    So pauschal behauptet das hier niemand. Im Gegenteil:
    ‚Westliche Interventionen‘ werden kritisiert u. abgelehnt.

    Selbstermächtigung: Unbedingt !

    Nur, was ist, wenn diese mit Tränengas, Panzern und ‚ westlichen Wohlstandswaffen‘ niedergemacht wird?

    Es gibt eine Menge Gründe, warum Menschen in Entwicklungsländern nicht von ihrem Selbstbestimmungsrecht
    Gebrauch machen können. Das auch ‚wir westliche Industriestaaten‘ das mit zu verantworten haben zeigt u.a. folgender Beitrag: „Land-Grabbing – Die marktkonforme Wiedergeburt des Kolonialismus –
    http://www.nachdenkseiten.de/?p=19084

    Unsere sog. Wirtschaftsordnung verursacht viel Leid u. Elend.
    Ermächtigen wir uns also diese, im Sinne des guten Lebens aller,
    zu verändern: ‚Wirtschaft ist Care‘ 🙂 http://hpd.de/artikel/10150

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  26. @Seldis – „Wenn nun Menschen bei uns einkehren, nicht auf Zeit sondern auf Dauer und wir plötzlich gezwungen sind uns zu hinterfragen und unser Verhalten in einem Raum und einer Gesellschaft, die bisher fraglos wir waren, anzupassen wir also uns fremder werden, dann tritt auch hier wieder das Empfinden von Übergriffigkeit auf.“

    „….gezwungen sind uns zu hinterfagen…“ und evtl. sich neuen Gegebenheiten stellen bis anpassen gehört schlicht zum Leben dazu. Dieses
    Welches ‚wir‘ wird hier phantasiert?

    „…und unser Verhalten in einem Raum und einer Gesellschaft, die bisher fraglos wir waren, anzupassen wir also uns fremder werden, dann tritt auch hier wieder das Empfinden von Übergriffigkeit auf.“

    Wie genau sieht dieses „Empfinden von Übergriffigkeit“ aus?
    Gefühle sind Gefühle und gehören reflektiert um Innen- und Außenrealität erkennen und unterscheiden zu können.

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  27. @Seldis – „Ich denke auch das Selbstermächtigung eine wichtigere oder zumindest grundlegendere Rolle spielen muss als Transferzahlungen, die erst sinnvoll danach ansetzen können.“

    Zu sog. Transferzahlungen, wie z.B. das bedingungslose Grundeinkommen, welches Selbstermächtigung stärkt, noch ein erfrischender Beitrag von Dr. Regula Stämpfli:
    „Über Grundeinkommen, Herrschaft(en) und Menschen“

    Klicke, um auf Rede-1.-Mai-2016-Thun.pdf zuzugreifen

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