Die fehlende Aufmerksamkeit vor der Meinung

Gerade stolperte ich über einen Tweet von mspro, der auf einen Blogpost aufmerksam macht, in dem Facebook-Kommentare zu dem Buch  “Hier ist alles Banane – Erich Honeckers geheime Tagebücher 1994-2015” dokumentiert sind. Im Ton der Entrüstung stellen da Leute fest, dass es sich dabei ja wohl um eine Fälschung handeln muss.

Soweit so Banane, und nach einem ersten Impuls – ist lustig, muss ich teilen – habe ich dann gezögert, weil es immer etwas blöd ist, sich über die vermeintliche Ungebildetheit und Dummheit anderer Leute lustig zu machen. Aber ich glaube, es handelt sich hier nicht (im Wesentlichen) um eine Frage von Bildung. Sondern was hier deutlich wird, ist der fehlende Wille, irgend einem Thema oder einer Sache auch nur ein Minimalbisschen Aufmerksamkeit zu widmen, bevor man die eigene Meinung dazu öffentlich äußert.

Es ist nämlich keine Frage der Bildung, zu erkennen, dass dieses Buch selbstverständlich nicht originale Honecker-Tagebücher enthält. Wer auch immer nur fünf Sekunden darüber nachdenkt, muss drauf kommen. Aber warum fünf Sekunden über was nachdenken, wenn ich doch sofort eine Meinung habe? Vielleicht auch einfach nur frei assoziiert zu der Farbe Gelb auf dem Cover?

Diese grottige Art von Oberflächlichkeit ist mir in letzter Zeit auch häufiger bei Twitter oder auf Facebook begegnet, wenn ich zum Beispiel einen Link zu einem Text poste, der eine vielleicht ein bisschen unklare Überschrift hat. Dann gibt es sofort RATATATAT Meinungen und Kommentare und Replys, die sich aber nicht auf den Inhalt des verlinkten Textes beziehen, sondern irgend ein anhand der Überschrift frei vermutetes Gelaber sind. Woher kommt das Bedürfnis, sich zu einem Text zu äußern, den man überhaupt nicht gelesen hat?

Ich glaube, fehlende Aufmerksamkeit ist ein wichtiger Grund für den desolaten Zustand der aktuellen Debattenkultur – neben Hass und Dummheit. Vielleicht sind Hass und Dummheit auch eher Auswirkungen fehlender Aufmerksamkeit, ich vermute jedenfalls sehr stark, dass sie weniger die Folge fehlender Bildung sind.

Denn die Unsitte, Dinge zu beurteilen, bevor man ihnen auch nur ein Minimalbisschen Aufmerksamkeit gewidmet hat, findet sich auch in den Feuilletonseiten, dazu muss man nur irgend einen beliebigen Artikel aus dem Genre „Feminismuskritik“ nehmen. Höhere Bildung hilft natürlich dabei, die so ganz groben Patzer zu vermeiden, dazu ist man dann eben Profi genug.

Hannah Arendt hat unterschieden zwischen Meinung und Urteil. Meinen bedeutet, die eigenen Ansichten zu einem Gegenstand flüchtig hinauszuposaunen, ohne Sachkenntnis zu dem Gegenstand und ohne für die eigenen Äußerungen geradezustehen („Ich hab ja nur meine Meinung gesagt.“) Urteilen hingegen bedeutet, dass man sich eine ausreichende Zeit mit dem Gegenstand beschäftigt hat und dann begründet zu einem Urteil darüber kommt, für das man dann auch persönlich ein- und geradesteht.

Wenn man eine Demokratie sein will, muss man Menschen haben, die bereit sind, zu urteilen. Menschen, die einfach nur mal was „meinen“, schaden der Demokratie. Und mit der Aufmerksamkeit fängt alles an.

Sagte auch schon Simone Weil, die die Messlatte dafür, was es bedeutet, wirklich aufmerksam zu sein, zwar ganz schön hoch gelegt hat, die ich hier aber dennoch zitieren möchte. Sie sagt:

„Die Aufmerksamkeit besteht darin, sein Denken zu umgehen, den Geist verfügbar, leer und für den Gegenstand durchlässig zu halten, die verschiedenen bereits erworbenen Kenntnisse, die man zu nutzen genötigt ist, in sich dem Geist zwar nahe und erreichbar, doch auf einer tieferen Stufe zu erhalten, ohne dass sie den Geist berührten. … Und vor allem soll der Geist leer sein, wartend, nichts suchend, aber bereit, den Gegenstand, der in ihn eingehen wird, in seiner nackten Wahrheit aufzunehmen.“

Das ist sicher super-schwer, macht aber deutlich, wie die fehlende Aufmerksamkeit in unserer öffentlichen Debatte zustande kommt: Die Geister sind schon voll, voll mit komplett undurchlässigen Meinungen, die der Welt nur noch übergestülpt werden müssen. Scheißegal, was die Welt eigentlich macht.

 

 

Ich bin Journalistin und Politologin, Jahrgang 1964, und lebe in Frankfurt am Main.

10 Gedanken zu “Die fehlende Aufmerksamkeit vor der Meinung

  1. Aus meiner Erinnerung, daher evtl ungenau: Viktor Klemperer hat in seinem Buch LTI Lingua Tertii Imperii die Wendung „ein Weltbild haben“ (braucht keine logische Herleitung, muss nicht ethisch begründet werden, es ist halt so) besprochen. In seinen Augen war das Aufkommen des Weltbilds in Ablösung für philosophische Betrachtungen zur Jahrhundertwende eine Bedingung für das Erstarken des Nationalsozialismus.
    Deswegen macht es mir Angst, dass sogar Leitmedien und Politik immer öfter auf diese „Meinungen ohne Ahnungen“ anspringen und sie zur „öffentlichen Meinung“ erheben. Gruselig.

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  2. Danke für diesen Eintrag!
    Ich glaube, dass dieser Mangel an Aufmerksamkeit unter anderem damit zu tun hat, dass wir Pluralität heute fast nur noch als das Nebeneinander verschiedener Identitäten und damit öffentliche Debatten nur als Plattformen zu Identitätsaffirmation verstehen. Und nicht mehr als Aufträge oder Angebote, Sachfragen gerecht zu werden und sie zur Not auch mal kontrovers auszufechten. Meinungsfreiheit dient aber nicht nur dem Schutz von Individuen vor Repression (ein Verständnis, das in dem Satz „Ich darf ja wohl meine Meinung äußern!“ ziemlich deutlich durchscheint), sondern ganz zentral eben auch der Findung von sinnvollen komplexen Lösungen für komplexe Fragen, denen partikulare Einzelurteile nicht gerecht werden können.
    Das Ergebnis finde ich auch gruselig: Wenn jede Meinung gleich viel wert ist, setzt sich am Ende halt der durch, der am lautesten schreit, respektive am besten an Instinkte und Ängste appellieren kann.

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  3. Liebe Frau Schrupp,

    wie immer haben Sie den Kern getroffen. Ich kann Ihnen in dieser Angelegenheit voll zustimmen. Danke auch vielmals für die Ausführung der Simone Weil. Ich vermute, dass das Üben der Aufmerksamkeit zwar anstrengend aber sicherlich sehr hilfreich ist.
    Mit herzlichen Grüssen
    Danièle Brown

    P.S: Das Buch habe ich übrigens gelesen, ganz witzig jedoch keiner Aufregung wert.

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  4. vielen dank für das hinsetzen und das differenzierte auseinandersetzen. ich wünschte mir (ebenfalls) eine welt – im kleinen, wie im grossen -, die differenziert nachdenkt und argumentiert. die kurz-urteils-sätze sind eine plage und werden dennoch, wie dutzendware, kopiert und in die welt gesetzt.

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  5. typisch, Frau Schrupp wettert mal wieder gegen die Meinungsfreiheit.

    Spaß beiseite, das vorschnelle Meinen ist in der Tat ein Problem. Neben allerlei Ärgernissen für den Alltag der Leute sehe ich auch das Problem für die Demokratie. Das soll ja so etwas wie das faire Ringen um den richtigen Weg sein. Leider läuft es in der Praxis eher so, wie in dieser Allegorie auf die Diskussionskultur im Netz zu sehen ist: https://www.youtube.com/watch?v=PFSZ8_oo134

    Der andere Punkt ist das Recht auf freie Meinungsäußerung als Menschenrecht und Ausdruck der Menschenwürde. Als solcher hat die Meinung des Individuums, sei sie noch so haltlos und vorschnell, schon einen Eigenwert. Ich finde, dass wir die Meinungsfreiheit und auch den Wert der einzelnen Meinung häufig zu sehr in Hinblick auf ihren Beitrag zur (demokratischen) Meinungsbildung auslegen. Gerade auch in gebildeten Kreisen.

    Man darf auch sagen, dass wir auf der Innenseite einer hohlen Erdkugel wohnen, wenn es einen glücklich macht. Leistet das objektiv betrachtet einen positiven Beitrag zu irgendwas? Nein, aber trotzdem hätte ich Hemmungen, diese Person gesellschaftlich oder rechtlich mundtot zu machen.

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  6. Danke für den Artikel. Ich finde die Hochschätzung der „Kommentier-Kultur“ erstaunlich – angesichts der Beliebigkeit der Inhalte. Ihre Unterscheidung zwischen Meinung und Urteil ist triftig, vor allem der Hinweis, dass nur letzteres auch mit der Übernahme von Verantwortung einhergeht. Eine Ergänzung zu ihren Gedanken hab ich anzubieten: Die grassierende Wollust am Kommentieren, am schnell-eine-Meinung-haben wirkt wohl befreiend, befreiend von der Frustration, in einer unverständlichen, komplexen und bedrohlichen Zeit zu leben. Je mehr die tradierten Erklärungsmuster versagen, desto heftiger wird der Wunsch, irgendeine Meinung zu haben und sich somit seiner Subjektivität zu versichern. In diesem Sinne auch: je mehr die traditionellen politischen Grundpositionen als Orientierung in und Gestaltung der Gegenwart versagen, desto attraktiver werden populistische Parteien – deren Lösungsvorschläge ebenso beliebig und themenverfehlend sind wie viele der Postings in Sozialen Medien. cheerio, georg

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  7. @gtillner – Ich schätze die Kommentarkultur auch deshalb hoch, weil es funktioniert, wie man z.B. in meinem Blog hier sehen kann. Wenn es eine aufmerksame und klare Moderation gibt, entsteht ein Umfeld, in dem sich Menschen mit wirklich interessanten Kommentaren beteiligen, und das bringt die gesamte Community und nicht zuletzt die Bloggerin selber weiter.

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  8. Ich meine, dass zumindest ein Teil des Problems „Rechtspopulismus“ genau auf diesen Unwillen zur Aufmerksamkeit zurückzuführen ist. Und zwar Unwillen zur Aufmerksamkeit sowohl gegenüber Fakten (kostet Zeit und ist manchmal anstrengend) als auch gegenüber Argumenten (bedarf des Nachdenkens, der Selbstreflexion und ist fast immer anstrengend).
    Beurteilen kann ich das nicht. Dazu müsste ich jetzt recherchieren, da habe ich gerade keine Zeit für.

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