Beziehungsweise Revolution – müsst ihr lesen!

Was ist mit der Revolution? Gibt es die noch, oder ist das Projekt abgesagt? Was ist zu beachten, wenn man sich im politischen Engagement nicht von der Idee verabschieden möchte, es könnte auch einmal eine grundsätzliche Umwälzung gesellschaftlicher Verhältnisse geben, die zu mehr Freiheit, mehr Gleichheit, mehr…

Ja, die Sache mit der Brüderlichkeit. Die wurde doch sehr vernachlässigt. Tonnen von Büchern sind geschrieben worden, die sich umfassend mit den Fragen der Freiheit oder der Gleichheit oder von beidem in ihrem Wechselverhältnis beschäftigen. Aber keine über die Brüderlichkeit. Die Brüderlichkeit spielt in linker Theorie keine Rolle.

Es ist fast lustig, aber eigentlich auch naheliegend, dass ausgerechnet eine Feministin jetzt den Anfang macht, um diese Lücke zu schließen. Schließlich hat sich der Feminismus mit Beziehungen und „Beziehungsweisen“ ausgiebigst beschäftigt, aber das aus naheliegenden Gründen nicht unter der Überschrift „Brüderlichkeit“. Und damit eben auch nicht unter der Überschrift der Revolution.

Adamczaks These ist, dass alle drei Aspekte notwendig sind, um Revolutionen gelingen zu lassen.

Führt Freiheit ohne Gleichheit zu Ausbeutung und Unterdrückung, so führt Freiheit ohne Solidarität zu Individualisierung. Führt Gleichheit ohne Freiheit zu Zwangskollektivierung bzw. Homogenisierung, so führt Gleichheit ohne Solidarität zu Bindungslosigkeit bzw. Autoritarismus.

Während die Revolution von 1917 die Gleichheit ins Zentrum stellte und die von 1968 die Freiheit, gab es noch keine Revolution, die sich programmatisch um „Beziehungsweisen“ drehte. Wobei eben auch dieser Aspekt nicht ohne die anderen auskommt.

Das Gleiche lässt sich antizipativ auch für Konstellationen sagen, in denen die Solidarität bestimmend ist: Solidarität ohne Gleichheit führt in den Paternalismus, Solidarität ohne Freiheit in Loyalität und repressive Vergemeinschaftung.

Wobei genau das in der Tat bei manchen Strömungen des Feminismus passiert ist.

Beim Lesen dieses Buches, was ruckzuck innerhalb weniger Tage ging, fühlte ich mich „theoretisch zuhause“ wie lange nicht: Endlich sind mal linke und feministische Basics gleichermaßen selbstverständliche Grundlage der Argumentation. Und nicht nur das, auch der Anarchismus, der in Bezug auf „Beziehungsweisen“ oft hellsichtiger war als der Marxismus, ist dabei. Selbst für mich war streckenweise das konsequente generische Femininum („Alle anwesenden Expertinnen waren sogenannte Männer“) eine Herausforderung beim Lesen. Und gleichzeitig erfährt man viel Interessantes über die Revolutionen, speziell über die von 1917. Dazu ist das Buch noch streckenweise regelrecht amüsant zu lesen, wenn auch nicht leicht.

Ich halte dieses Buch wirklich für einen Meilenstein, und ich denke, niemand sollte mehr über „Revolution“ sprechen, ohne es gelesen zu haben und sich zu den hier entfalteten Thesen zu positionieren. Wer dahinter zurückfällt ist out.

Was natürlich nicht heißt, dass ich mit allem einverstanden bin. Wie meistens bei queerfeministischen Autorinnen fehlt mir etwa die Berücksichtigung des Schwangerwerdenkönnens. Wenn Adamczak zum Beispiel schreibt:

Aus dieser revolutionären Perspektive … erscheinen alle Identitäten, die die Geschichte der Herrschaft den jeweils Lebenden vor die Füße geschleudert hat, als Reichtum potenzieller Existenzweisen, den diese sich aneignen können, um die Fragen zu beantworten: Wie wollen wir leben, wer wollen wir werden, durch welche Beziehungen wollen wir existieren?

Dann füge ich an: Die Möglichkeit, schwanger werden zu können (was ja eine sehr wesentliche Beziehungsweise ist) können sich eben nicht alle Menschen aneignen, und bei etwa der Hälfte der Menschheit ist das schon bei ihrer Geburt klar. Die Differenz zwischen möglicherweise Schwangerwerdenkönnenden und sicher Nichtschwangerwerdenkönnenden ist nicht sozial konstruiert, sie ist biologisch, ein realer Unterschied, der sich nicht dekonstruieren lässt, und mit dem Gesellschaften, auch revolutionäre, umgehen müssen.

Aber ohnehin erschien mir das Buch im letzten Kapitel, in dem die „Beziehungsweisen“ ausbuchstabiert werden, noch unfertig und etwas ausfransend. Hier wäre nun viel Gelegenheit, auf die umfangreiche theoretische Arbeit gerade zu einer Politik der Beziehungen (etwa im italienischen Differenzfeminismus und seinen deutschsprachigen Partnerinnen) zurückzugreifen. Vieles von dem hier Angerissenen ist dort bereits diskutiert und bearbeitet worden.

Vielleicht machen wir die nächste Revolution ja zusammen.

(PS: Das Buchcover ist in Wirklichkeit lila und nicht blau !)

Ich bin Journalistin und Politologin, Jahrgang 1964, und lebe in Frankfurt am Main.

11 Gedanken zu “Beziehungsweise Revolution – müsst ihr lesen!

  1. „Die Möglichkeit, schwanger werden zu können (was ja eine sehr wesentliche Beziehungsweise ist) können sich eben nicht alle Menschen aneignen, und bei etwa der Hälfte der Menschheit ist das schon bei ihrer Geburt klar. Die Differenz zwischen möglicherweise Schwangerwerdenkönnenden und sicher Nichtschwangerwerdenkönnenden ist nicht sozial konstruiert, sie ist biologisch, ein realer Unterschied, der sich nicht dekonstruieren lässt, und mit dem Gesellschaften, auch revolutionäre, umgehen müssen.“

    Die medizinische Forschung bemüht sich zwar sehr, auch die Biologie zur sozial(?) konstruierten Möglichkeit werden zu lassen, was mit allen möglichen Genmanipulationen auf botanischer Ebene und in der Tierzucht schon weitgehend gelungen ist, aber NOCH ist es nicht gelungen, eine Gebärmutter als Incubator herzustellen. Immer noch brauchen Säugetiere den Körper eines anderen Tieres, um sich zu einem lebensfähigen Individuum zu entwickeln. Wenn das gelingen sollte, was wäre das dann für eine Revolution?

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  2. Verzeihung, aber ich bin milde amüsiert :-).

    Für erfolgreiche Revolutionen der Vergangenheit gab es zwei Muster: 1) Nackte Gewalt (Oktoberrevolution Russland) oder 2) Massen auf den Strassen, eine geschwächte und handlungsunfähige Regierung plus keine zu einer militärischen Intervention bereite ausländische Macht (Ghandis Indien oder DDR 1989 ff).

    Beides ist in Deutschland etwa soweit weg wie Alpha Centauri von der Erde. Was das Buch zu einer der vielen tausend Denkübungen in Reviolutionsrhetorik macht, die Linke (nach meinem Eindruck) seit 50 Jahren mit grosser Energie völlig folgenlos als Gedankenspiele betreiben.

    Nah, ich rechne gemäss Ihren publizierten Anforderungen an veröffentlichungswürdige Kommentare nicht mit Freischaltung. Das hier war auch nur intellektuelle Masturbation.

    Gruss,
    Thorsten Haupts

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  3. Ich bezog mich auf Ihren Eingangssatz:

    „Was ist mit der Revolution? Gibt es die noch, oder ist das Projekt abgesagt? Was ist zu beachten, wenn man sich im politischen Engagement nicht von der Idee verabschieden möchte, es könnte auch einmal eine grundsätzliche Umwälzung gesellschaftlicher Verhältnisse geben, die zu mehr Freiheit, mehr Gleichheit, mehr…“

    Das ist – ganz grob – der Tenor normalerweise linksradikaler Literatur seit mindestens 1977 (davor war ich zu jung ….).

    Nein, ich habe das Buch nicht gelesen. Sorry, aber Revolutionslyrik hatte ich einfach genug in den letzten 40 Jahren. Wenn Sie eine Empfehlung hätten, die Tocquevilles noch heute gültiger Analyse inhärenter Spannungen in einer Demokratie intellektuell standhält, wäre ich interessiert.

    Gruss,
    Thorsten Haupts

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  4. Liebe Antje Schrupp,
    vielen Dank dafür, dass sie (meine) Aufmerksamkeit auf diese so relevanten und aktuellen Fragestellungen des Buches gelenkt haben!

    Allerdings möchte ich gerne zu ihrem Kommentar zum „queerfeministischen“ Übergehen der Differenz des Nicht/-Schwangerwerdenkönnens nachfragen:

    Ich sehe hier kein Manko der Argumentation im nicht-biologistischen Denken des Geschlechts und finde Ihre Kritik fragwürdig; kann es sein, dass Sie als Differenzfeministin (?) hier einfach mit anderen ontologischen uind erkenntnistheoretischen Prämissen handwerken?

    Wäre es nicht interessant, gerade die Verknüpfung von postessentialistisches Denken des Geschlechts mit (anarcha-)feministischen Ansätzen zu suchen, um mit der diskursiven Behauptung der Differenz des Nicht/-Schwangerwerdenkönnens ALS biologische einen emanzipatoirsichen und nicht exklusiven Umgang zu finden? Klingt nach der schönen Dynamik zwischen Gleichheit – als Gleichheit des Verschiedenen über die Binarität hinaus, eben queer – und Freiheit – als Wahl zwischen potentiellen Existenzweisen – oder?
    Medizinische Manipulation von eh schon immer manipulierten Körpern, Performanz der Geschlechtlichkeit als Einhorn und ein gelingendes Frauenleben, ohne dass sich Schwangerschaft überhaupt als Kriterium aufdrängen ließe oder die Kritik an dem Dogma regressiver AfD/CSU Familienpolitik wären nur einige praktische Konsequenzen, hinter die ich zugunsten der neuen Behauptung einer Differenz nicht zurückfallen wollen würde, Sie?
    Und um die Solidarität nochmals zur Sprache zu bringen: Vielleicht ist ja eine Hinwendung zu diesem Phänomen der Nicht/-Schwangerwerdenkönnens vielmehr eine Chance, eben in solidarischer Kritik, die nicht die Deutungshoheit aufgrund der Betroffenheit in Sachen Schwangerwerden behauptet, Herrschaftskritik und Feminismus in Theorie und Praxis als politische Projekt zu begreifen, wobei der Kampf und die Entzweiungum darüber, was überhaupt der als Hauptwiderspruch und Priorität gelten darf zwischen Marxist*innen und Anarchist*innen, zwischen Schüler*innen Frankfurts und Feministi*innen hinfällig wäre, oder?

    Ich freue mich auf einen Kommentar zu meinen Fragen, die jetzt selber eher Kommentar geworden sind!
    Liebe Grüße, Johanna Johakunobi

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  5. @Johanne Johakunobi – Danke für Ihren Kommentar. Ich verstehe allerdings nicht so ganz, worauf Sie hinauswollen. Ich wollte darauf hinaus, dass Schwangerwerdenkönnen keine Existenzweise ist, die gewählt werden kann, denn wer ohne Gebärmutter etc. geboren wird, kann nicht schwanger werden. Möglicherweise irgendwann einmal wenn es Gebärmutterimplantate oder etwas dergleichen gibt, aber momentan nicht.

    Ansonsten ist Schwangerschaft selbstverständlich kein Kriterium für gelingendes Frauenleben, dass hätte und habe ich auch niemals behauptet.

    Die Gleichheit des Verschiedenen wiederum gibt es zwar in politischer Hinsicht (wir können Verschiedenen gleiche Rechte, gleiche Chancen etc. verschaffen trotz der Verschiedenheit), die Verschiedenheit als solche bleibt aber, und wenn wir sie ignorieren, entsteht wiederum Ungerechtigkeit.

    Selbstverständlich will ich hinter die ganzen Errungenschaften, die Sie aufzählen, nicht zurückfallen, aber wenn wir reale Unterschiede zwischen Menschen, wie zum Beispiel die bezüglich des Schwangerwerdenkönnens, nicht gesellschaftlich verhandeln, werden wir nicht glücklich und bringen keine gute Revolution zustande, behaupte ich 🙂

    PS: Kennen Sie meine Blogpostreihe zu dem Thema? https://antjeschrupp.com/2013/02/18/letz-talk-about-schwangerwerdenkonnen/

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  6. Was ist mit der Revolution? Gibt es die noch, oder ist das Projekt abgesagt?

    Ist Revolution immer ein Projekt? Da politische Theorie nicht mein Feld ist, habe ich mal den Duden befragt. Da hätten wir im politischen Bereich:

    1. auf radikale Veränderung der bestehenden politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse ausgerichteter, gewaltsamer Umsturz[versuch]
    2. umwälzende, bisher Gültiges, Bestehendes o. Ä. verdrängende, grundlegende Neuerung, tief greifende Wandlung
    https://www.duden.de/rechtschreibung/Revolution

    Punkt zwei findet durch teils ungeplante Ereignisse statt. In der katholischen Kirche würde ich die ganzen Enthüllungen mitsamt Dominoeffekt im Bereich sexueller Missbrauch dazu zählen. Die Wirkung geht wohl über das Thema selbst hinaus, weil das Vertrauen in die Autoritäten selbst und den Apparat abnimmt (messbar durch Austritte). Der Islam ist gerade in den Startlöchern.

    Falls des „Des Kaisers neue Kleider“ eine frühe revolutionäre Schrift ist, bin ich auch revolutionär eingestellt. 😉

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  7. @Irene – Es gibt noch eine dritte Möglichkeit, nämlich durch steten Tropfen auf vielen Ebenen bewirkte Umwälzungen, über die man sich irgendwann im Klaren wird. Ich hab mich diesbezüglich schon mehrfach mit dem Thema beschäftigt, z.B. hier https://antjeschrupp.com/2012/01/23/slavoj-zizek-linke-kerle-und-die-revolution/ und hier https://antjeschrupp.com/2011/02/04/tomaten-auf-den-augen-uber-revolutionen/

    Bini Adamczak argumentiert in ihrem Buch in eine ähnlich Richtung, indem sie nämlich schreibt, dass die Russische Revolution nicht ein „Ereignis“ war, das im Februar oder Oktober 1917 stattgefunden hat, sondern ein vielschichtiger pluralistischer Prozess, an dem viele beteiligt waren und der über einen längeren Zeitraum ging.

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  8. Hallo, ist ja ein verführerischer Diskussionsbeginn. Der Topos vom „gelingenden Frauenleben“ scheint gerade irgendwie entschlüpft, erfordert aber doch allerhand biographische Konstruktion im schlechten, ungleich verteilten (…) Bestehenden. Ich mag nicht so recht individuell gelingen.
    Und 1968 ff. hatte sich auch durchaus programmatisch mit Beziehungsweisen beschäftigt, fragt sich nur: wer kriegte im Ergebnis was? Werde hochgespannt in Bini Adamczaks Buch gucken.

    Mir scheint nach dem Anlesen, als sei es ein weiterführender Teil eines schwer erkämpften, ziemlich großangelegten Perspektivwechsels… Neben aller Unfertigkeit (Antje Schrupp) – die ja irgendwie kein Wunder ist – trägt es doch ganz simpel dazu bei, Revolutionstheorie und v.a. die Aneignung der Geschichte durchlebter Revolutionen – mithin einen tragischerweise abstoßend männlich besetzten Bereich! – attraktiver für Frauen* (…) zu machen.
    Vulgo: ohne solche Zugänge versandet das Begehren, Geschichte mitzukennen und einen Platz zur Interpretation und Gestaltung zu beanspruchen, auf „Frauen“-Seite oft sehr schnell. „Wir“ kommen da, auch mittels der Losung, weltliche, produktive, kulturell prägende Beziehungen zwischen Frauen* zu knüpfen, begrifflich sicherlich noch weiter. Ich wette drauf, dass ich das Buch nach Lektüre für die nächsten Jahre, mit ein paar anderen im Verein, als schützenswertes Gut behandle und mich herumstreite, um ihm (ihr 😀 ) mehr Habitate zu verschaffen.

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