Gender bei den Yoruba. Noch ein paar Überlegungen.

Im Nachklapp zu meinem aktuellen Text im 10 nach 8-Blog auf Zeit-Online über die Frage „Gibt es überhaupt Männer und Frauen?“ hat es noch einige Nachfragen und Anmerkungen zu dem darin angeführten Beispiel der präkolonialen Kultur der Yoruba in Nigeria gegeben. So wurde darauf hingewiesen, dass die Thesen von Oyèrónké Oyèwùmí keineswegs unumstritten sind. Bei Twitter wies mich jemand auf diesen Text von Tola Olu Pearce hin, auf Facebook jemand auf diesen Einwand von Bibi Bakare-Yusuf.

Letztere argumentiert vor allem damit, dass die Abwesenheit der Kategorie „Gender“ auf der sprachlichen, also symbolischen Ebene nicht bedeutet, dass Frauen nicht benachteiligt und diskriminiert werden. Das ist bestimmt richtig, allerdings meine ich, dass diese Kritik die Thesen von Oyèwùmí auch nicht so recht trifft – zumindest nicht, soweit ich das nach diesem Abstract beurteilen kann. Jedenfalls leugnet Oyèwùmí gar nicht, dass obinrin eine sozial niedrige Stellung haben, das steht explizit in ihrem Buch. Und sie behauptet auch nicht, dass es bei den Yoruba „Geschlechterneutralität“ oder „Geschlechtergleichheit“ gegeben habe. Vielmehr beschreibt sie eine Gesellschaft, in der Schwangerwerdenkönnen (oder nicht) und soziale/gesellschaftliche Rolle auf eine völlig andere Weise miteinander verknüpft werden, als im europäisch-westlichen Modell der Frau-Mann-Binarität.

Valide finde ich allerdings den Einwand von Tola Olu Pearce. Ihr Argument ist, dass die Abwesenheit einer symbolische Repräsentation patriarchaler Geschlechterrollen (etwa in der Sprache) noch nicht viel aussagt. Gewissermaßen argumentiert sie so, dass in der präkolonialen Yoruba-Kultur das Schwangerwerden und Kindergebären einen so großen Raum im Leben von Menschen mit Uterus eingenommen hat, dass es gar nicht notwendig war, ein ähnlich ausgefeiltes symbolisches Gender-Konstrukt aufzubauen wie in Europa, um ähnliche Resultate – nämlich die gesellschaftliche Dominanz von Menschen ohne Uterus – zu erzielen. Zumal, wie sie weiter argumentiert, Kinder diese Ordnung ja von klein auf gelernt haben, da ihre Haupt-Ansprechperson über viele Jahre eben genau eine Person mit Uterus in dienender/untergeordneter sozialer Position war.

Diese Argument finde ich schlüssig, es widerspricht den Überlegungen von Oyèwùmí auch auch gar nicht prinzipiell, sondern ist nur eine Frage der Gewichtung: Wie viel ist die Autonomie und Anerkennung, die Menschen mit Uterus bei den Yoruba genossen haben, sofern sie nicht in der Lebensphase des Schwangerwerdens sind, wert? Möglicherweise nicht besonders viel, wenn von Menschen mit Uterus definitiv erwartet (und entsprechender sozialer Druck ausgeübt) wird, dass sie die meiste Zeit ihres Lebens mit Schwangersein und Kindergebären verbringen.

Beim Nachdenken über diese Dinge kam mir noch eine weitere Idee. Mein Interesse an der Yoruba-Kultur, geht ja darauf zurück, dass ich mich in den 1990er Jahren längere Zeit intensiv mit dem brasilianischen Candomblé beschäftigt habe, der als Religion/Kultur zur Zeit der Skaverei aus der Yoruba-Kultur hervorgegangen ist. Hier ist zum Beispiel das Manuskript zu einer Radiosendung, die daraus entstanden ist. Viele Forscher sind sogar der Meinung, dass sich Elemente der alten Yoruba-Kultur unter den klandestinen Bedingungen des katholischen Kolonialismus in Brasilien ursprünglicher erhalten haben als in Nigeria selbst, wo der Druck, sich an andere Kulturen anzupassen (die Briten, den Islam) effektiver war.

Vermutlich fand ich die Überlegungen von Oyèwùmí deshalb so interessant, weil sie mir geholfen haben, etwas ein wenig besser zu verstehen, was mir all die Zeit irgendwie unverständlich geblieben war, nämlich genau die Bedeutung von Geschlechterrollen im symbolischen Kosmos des Candomblé.

Nicht nur, weil die meisten Kulte dort von Frauen dominiert sind oder es zumindest in den 1990ern waren – ich habe die Entwicklung seither nicht weiter verfolgt, und gerade im religiösen Bereich gibt es in Brasilien sehr viel Dynamik. Sondern was mich vor allem verwirrte, war die Bedeutung von „Geschlecht“ als eine der Eigenschaften der Orixàs, der Gottheiten. Jede und jeder von ihnen ist entweder männlich oder weiblich – aber es gibt keinerlei geschlechtsspezifisch-hierarchischen Unterschiede. Die Figuren sind gleich groß, gleich prächtig und gleich mächtig, und wessen Gottes Kind jemand ist hängt nicht mit dem Geschlecht zusammen. Mir erschien das immer irgendwie unglaublich, weil ich bis dahin der Ansicht war, dass Geschlecht IMMER irgend eine hierarchische Funktion haben müsste, denn wozu sollte es gut sein? Das Kennenlernen der Orixàs war vielleicht (denke ich mir heute) mit ein Faktor dafür, warum ich mich damals mehr dem Differenzfeminismus zugewandt habe – weil ich mir plötzlich konkret vorstellen konnte, dass die Existenz einer Geschlechterdifferenz als solche nicht unweigerlich eine Hierarchie und eine Unterordnung des Weiblichen bedeuten muss.

Meine kleine Sammlung von Orixas. Wer es nicht weiß, kann männliche und weibliche nicht voneinander unterscheiden. Ich bin übrigens eine Tochter von Jemanja.

Die These von Oyèwùmí nun, auch in Kombination mit dem Einwand von Pearce, gibt möglicherweise auch eine Erklärung dafür, wie es dazu kommen konnte, dass sich aus der Yoruba-Kultur in den brasilianischen Candomblés eine Tradition von weiblicher Stärke, weiblichem Einfluss und weiblicher Freiheit entwickelt hat, in Nigeria selbst aber nicht. Denn wenn beide, Oyèwùmí UND Pearce, Recht haben, war diese Kultur eine, in der es zwar patriarchale Dominanz innerhalb der Familien gab, aber keine symbolische Repräsentanz dieser Hierarchien in der Sprache. Das bedeutet, das Yoruba-Patriarchat war davon abhängig, dass es in den patrilinearen Familien im Alltag des Schwangerseins und Kindergebärens eingeübt und praktiziert wurde. Genau das aber ist mit der Verschleppung in die Sklaverei unterbunden worden. Die Familienstrukturen der versklavten Menschen sind ja zerschlagen worden, und damit faktisch auch die Macht von Spermagebern über Schwangere und Kinder: Es gab ja keine obinrin mehr. (Das jetzt natürlich eine steile These von mir, man könnte sie verifizieren oder falsifizieren, indem man erforscht, wie die Yoruba in den Anfangsjahren der Sklaverei über Menschen mit Uterus oder über Schwangere gesprochen haben, also als die soziale Position der obinrin nicht mehr existierte).

Wie auch immer: Da die Yoruba über ein symbolisches System verfügten, in dem die Geschlechterdifferenz keine Rolle in der Sprache spielt, waren sie nach der Zerschlagung ihrer Familienstrukturen davor gefeit, dass ihrer traditionellen Geschlechterkonstruktionen von der europäisch-westliche Geschlechterbinarität überlagert wurden. Denn sie hatten bereits eine symbolische Alternative, die auch ohne Familie auskam. Sobald nämlich ihre die traditionellen Famiienclans nicht mehr existierten, trat genau jene symbolische Ordnung in Kraft, die Oyèwùmí in ihrem Buch entwirft: eine Kultur, in der zwar bekannt ist, dass manche Menschen schwanger werden können und andere nicht, dies aber keine Privilegien begründet und keine Diskriminierungen legitimiert.

Jedenfalls wäre das jetzt mal eine Arbeitshypothese, die vielleicht lohnend wäre, verfolgt zu werden. Falls jemand das liest und weiterführende Ideen und Hinweise in die Kommentare schreibt, freue ich mich.

Ich bin Journalistin und Politologin, Jahrgang 1964, und lebe in Frankfurt am Main.

5 Gedanken zu “Gender bei den Yoruba. Noch ein paar Überlegungen.

  1. Meinst du, generell? Über das, was es bedeutet, Tochter oder Sohn eines Orixas zu sein, steht hier in der Rediosendung was: http://antjeschrupp.de/candomble Speziell Töchter von Jemanja zeichnet aus, dass sie klar sind, aktiv, bleiben bei einer Sache, manchmal auch Sturheit, strukturiert, manchmal kompromisslos, großzügig, problemlösunsorientiert… sowas in der Art 🙂

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  2. Ich bin diese Woche das erste Mal auf diese Seite gestoßen und fasziniert! Inhaltlich würde mich interessieren, ob es Studien dazu gibt, wie die patriarchale Struktur der Sklavenbesitzer(*innen?) sich auf die Kultur der Yoruba auswirkte? Beste Grüße, Katharina

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