„Liebeskatastrophe“ – das Wort stammt von Iris Radisch. Sie diagnostiziert selbige in ihrem 2006 erschienenen Buch „Schule der Frauen“ und beklagt „das völlige Fehlen von Vorbildern gelingender Liebe in modernen Lebensverhältnissen.“ (S. 75). Sie ist mit dieser pessimistischen Einschätzung keineswegs allein, und sehr oft ist die Klage über die angeblich verloren gegangene Liebe begleitet von einem kritischen Seitenblick auf die Ergebnisse der Frauenemanzipation und die Liberalisierung der Familienbeziehungen im Zuge der 68er-Bewegung. Auch Radisch wettert gegen die „Umdefinition und Schönfärberei der familiären Liberalisierungsschäden“ (S. 78).
In Wirklichkeit ist die Diagnose, die Liebe sei uns verloren gegangen, aber schon viel älter als die Kritik an dem Umbruch der 1970er Jahre. Erich Fromm hat bereits 1956 in „Die Kunst des Liebens“ behauptet, in der modernen Welt sei uns die Fähigkeit, zu lieben, abhanden gekommen, und „den grundsätzlichen Mangel an Liebe in den heutigen menschlichen Beziehungen“ beklagt (S. 43). Denn wahre Liebe, so Fromm, sei „ohne wahre Demut, ohne Mut, Glaube und Disziplin“ (S. 9) nicht zu haben.
Es ist klar, was hier dahinter steckt: die Vermutung, Freiheit und Liebe würden sich gegenseitig ausschließen. Sven Hillenkamp hat 2009 sogar ein ganzes Buch darüber geschrieben: „Das Ende der Liebe. Gefühle im Zeitalter unendlicher Freiheit.“ Ich habe das Buch noch nicht gelesen, aber im Interview mit Brigitte sagt Hillenkamp ohne Umschweife: „ Die Liebe hat zwei Feinde: den Zwang und die Freiheit.“
Seine These ist, dass die Unendlichkeit der Wahlmöglichkeiten – etwa in Bezug auf die Partnersuche – uns das Lieben, das Eingehen von Liebesbeziehungen heute schwer macht, und ich glaube, damit hat er Recht. Ich halte es aber für falsch, diese Situation als Freiheit zu bezeichnen. Freiheit und Wahlfreiheit sind eben gerade nichtdasselbe – darüber werde ich später nochmal ausführlich bloggen, kurz habe ich es am Ende dieses Vortrags schon einmal angesprochen.
Freiheit und Freiwilligkeit zu verwechseln ist fatal, denn es bringt die Freiheit in Misskredit – und damit letztlich auch die Liebe, denn ohne Freiheit gibt es auch keine Liebe. Aber es ist im Rahmen einer männlichen Interpretationsgeschichte des Begriffes Freiheit verständlich. Die männliche Philosophie hat, verstärkt seit der Aufklärung, Freiheit mit Unabhängigkeit und Autonomie gleichgesetzt. Weniger bekannt ist (aber es wird von Forscherinnen nach und nach ausgegraben), dass es eine große und vielfältige Denktradition von Frauen gibt, die dem schon immer widersprochen haben. Freiheit ist nicht Autonomie, sondern die freie und bewusste und menschenfreundliche Gestaltung der menschlichen Abhängigkeit. (Das erklären zum Beispiel Michaela Moser in diesem Video über Bedürftigkeit und Caroline Krüger in diesem Video über Abhängigkeit).
Auch das Augenmerk der Frauenbewegung in den 1970er und 1980er Jahren lag keineswegs in erster Line auf der Forderung nach gleichen Rechten und mehr Unabhängigkeit für die Frauen (auch wenn es Teilströmungen in diese Richtung gegeben hat), sondern ihre Praxis war die Neuordnung von Beziehungen, und insofern auch der Liebe, unter den Bedingungen ihrer – also der weiblichen – Freiheit. Eine wesentliche Praxis der frauenbewegten Frauen in den 1970er und 1980er Jahren bestand nämlich darin, die bestehenden Beziehungen gerade im Hinblick auf ihre Qualität auf den Prüfstand zu stellen, konkret: schlechte Beziehungen zu beenden – aber gerade nicht, um danach keine Beziehungen mehr zu haben, sondern um Raum zu schaffen für bessere Beziehungen.
Ein blinder Fleck in den kursierenden Wehklagen über angebliche heutige Liebeskatastrophen ist ja zum Beispiel die wie selbstverständliche Fokussierung auf heterosexuelle Paarbeziehungen. Dass die frauenbewegte Kritik an der klassischen Ehe überhaupt erst Freiräume geschaffen hat für die Möglichkeit andererLiebesbeziehungen, zum Beispiel der Liebe zwischen zwei Frauen oder zwei Männern, wird nicht gesehen. Dabei ging es nicht nur darum, homosexuelle Liebe der klassischen heterosexuellen Norm anzugleichen, sondern es wurde ein viel weiterer Horizont geschaffen, zum Beispiel ging es auch darum, private wie politische Freundschaften unter Frauen gegen die Alleinansprüche eines Ehemannes oder Geliebten auf die Zeit und Zuwendung „ihrer“ Frauen zu stärken.
Dass diese positiven Veränderungen nicht gesehen werden, nicht zum kulturellen Repertoire gehören, liegt zum einen daran, dass der von männlicher Denktradition geprägte Mainstream weiterhin Freiheit mit Autonomie und Wahlfreiheit verwechselt. Zum anderen liegt es daran, dass wir zwar umgeben sind von Diskursen über die Probleme der Liebe, aber selten die Rede ist von gelingender Liebe. Filme und Romane zeigen uns, wie schwierig es ist, zusammen zu kommen, welche Hürden und Hindernisse da zu überwinden sind, aber darüber, wie es nach dem Happy End weitergeht, erzählen sie nichts. Oder sie zeigen uns, was passiert, wenn zwei im Konflikt miteinander liegen, der allzu oft nicht gelöst werden kann.
Insofern hat Iris Radisch mit ihrer Klage über das Fehlen von Vorbildern gelingender Liebe sogar Recht – nur dass der Grund für dieses Fehlen nicht darin liegt, dass es diese gelingende Liebe nicht gäbe, sondern darin, dass sie nicht in die kulturelle Produktion eingeht. Dahinter steht ein klassisches Missverständnis, für das Tolstoi den treffendsten und berühmtesten Beleg geliefert hat, und zwar mit dem Anfangssatz seines Romans Anna Karenina, in dem er behauptet: „Alle glücklichen Familien gleichen einander. Jede unglückliche Familie ist auf ihre Weise unglücklich.“ Nein, so ist es nicht, es gibt viele, unterschiedliche, ja gegensätzliche Wege, um glückliche und gelingende Beziehungen zu führen. Es wäre ein eigenes (nicht soziologisches, sondern kulturelles!) Forschungsthema.
Mir wurde das bewusst bei einer Veranstaltung in einem Frauenzentrum, bei dem wir über die Bilanzen des Feminismus diskutierten. Dabei klagten viele der anwesenden Frauen darüber, dass „die Männer“ die Errungenschaften und Anliegen des Feminismus nicht beachten würden, dass es deshalb so schwer wäre, mit Männern zusammen zu arbeiten. Das Klischee, der Feminismus habe die Beziehungen zwischen Frauen und Männern geschädigt, hält sich hartnäckig, nicht nur auf Seiten der Konservativen, sondern auch unter feministischen Frauen. Der Unterschied ist nur, dass die Konservativen meinen, man müsse das rückgängig machen, um der „wahren Liebe“ wieder einen Platz einzuräumen, während viele Feministinnen meinen, das sei eben der Preis, der für die Freiheit zu zahlen ist. (Dass es im Zuge der Frauenbewegung durchaus zu Traumatisierungen im Verhältnis von Frauen und Männern gekommen ist, wie Dorothee Markert analysiert hat, ist gleichwohl richtig, aber dies betrifft meiner Ansicht nach eher den Bereich der politischen Debatte, nicht so sehr den persönlicher Liebesbeziehungen.)
Ich habe dann einfach mal in die Runde gefragt, wie es denn mit den eigenen Liebesbeziehungen aussehe – und siehe da, die meisten der anwesenden heterosexuellen Feministinnen lebten in glücklichen, teilweise langjährigen Beziehungen zu Männern, von denen viele ihr politisches Engagement auch aktiv unterstützen. Ich glaube eigentlich, dass Feministinnen tendenziell eher bessere Liebesbeziehungen haben als Nicht-Feministinnen, und zwar auch, vorausgesetzt, sie sind Heteras, zu Männern: eben weil sie in der Frauenbewegung gelernt und geübt haben, bei Beziehungen auf die Qualität zu achten, diese einzufordern (inklusive der dazu gehörigen Konflikte), und weil sie generell weniger tolerant gegenüber schlechten Beziehungen sind und diese gegebenenfalls auch beenden. Weil sie gelernt haben, dass Freiheit und Liebe sich nicht ausschließen, sondern gegenseitig bedingen. Jedenfalls ist das für die allermeisten Frauen so (und ich glaube, dass auch immer mehr Männer das so sehen, jedenfalls würde es mich freuen).
Die Diagnose vom „Verfall“ der Liebe in der westlichen Welt ist meiner Ansicht nach falsch. Wir lieben anders als früher, aber sicher nicht weniger und schlechter. Eher besser.