Die Rundreise

Dieses Buch hat mich sehr berührt und reingezogen: Die Lebenserinnerungen der tschechischen Jüdin Franci Rabinek Epstein, die die Nazis in Prag, Teresienstadt, Auschwitz, als Zwangsarbeiterin in Hamburg und schließlich in Bergen Belsen überlebt hat. Eine Geschichte über Verfolgung, aber mehr noch über Widerstand und Überleben.

Die europäische Moderne und die Shoah

Gestern Abend war ich in Bern für einen Abend über die deutsch-jüdische Philosophin und politische Denkerin Margarete Susman. Es gibt für mich immer noch Neues über sie zu entdecken. Gestern kam mir noch eine Idee: Eine ihrer Hauptthesen war ja, dass das Judentum sehr viel (und mehr als allen bewusst ist) zur Herausbildung der europäischen Moderne beigetragen hat. Nun ist dieses Beitragen mit dem Holocaust weitreichend beendet worden. Die jüdische Differenz wurde ausgemerzt. Was bedeutet das für Europa? Ist die europäische Idee, ihre Vorstellung von individueller Freiheit, von universellen Menschenrechten, von Wertschätzung für Pluralität vielleicht auch deshalb so am Arsch, weil ihr jüdischer Anteil seither fehlte? Es würde einen gewissen Sinn ergeben, wenn man den Niedergang dieser Idee mit der Entfesselung des verantwortungslosen Zerstörungskapitalismus in den 1980ern verortet, oder auch vielleicht in der Unfähigkeit der „europäischen Idee“, nach dem Zusammenbruch des Sowjet-Imperialismus eine attraktive Alternative darzustellen. Spätestens jetzt mit dem Starkwerden erneuter faschistischer Bewegungen ist die Zukunft von „Europa“ mehr

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Verschenkte Gelegenheit: Gescheiterter Versuch, Lucy Parsons zu verstehen

Lucy Parsons war eine wichtige Aktivistin des US-Amerikanischen Anarchismus über sieben (!) Jahrzehnte hinweg, und ich bin froh, dass Edition Nautilus dieses Buch herausgebracht hat. Denn es ist wirklich überfällig, dass Parsons auch in Deutschland etwas bekannter wird. Aber leider, leider ist das Buch wirklich schlecht. Die Autorin findet überhaupt keinen Zugang zu ihrer Protagonistin und nimmt sie nicht ernst. Schon auf den ersten Seiten der Einleitung urteilt sie, dass Parsons sich „täuschte“, wenn sie der Meinung war, die Öffentlichkeit habe kein Auskunftsrecht über ihr Privatleben, dass sie Dinge „nicht verstand“, wichtige Fakten „ignorierte“, dass sie zu „Einschüchterung und Drohung“ praktizierte, nennt sie „schrill“, weist ihr (vermeintliche) Widersprüchlichkeiten nach, rügt sie dafür, ihre Mutter verlassen und ihre Kinder instrumentalisiert zu haben. Das alles schon auf den ersten drei (!) Seiten. Ich bin nicht der Meinung, dass man der eigenen Protagonistin nicht kritisch begegnen darf, aber ich habe noch nie eine Biografie gelesen, wo die Autorin so urteilend und wertend mit

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Jubiläumsjahr zu Margarete Susman – ein Rückblick mit Links

Die jüdische Religionsphilosophin und politische Autorin Margarete Susman war eine so vielseitige Denkerin, dass es kaum möglich ist, sie auf den Punkt zu bringen. Sie war Lyrikerin und Dichterin, anarchistische Sozialistin und Revolutionärin, Feministin und Differenzdenkerin, Vermittlerin im christlich-jüdischen Dialog, Vordenkerin der jüdischen Renaissance, Protagonistin der europäischen Idee, Überlebende und Interpretin der Shoah. Es stimmt, was sie als Titel für ihre 1964 erschienene Autobiografie gewählt hat: »Ich habe viele Leben gelebt.« Ihr 150. Geburtstag in diesem Jahr war für mich der Anlass (schon in der Vorbereitung), mich intensiv mit ihr zu befassen. Jetzt geht das Jahr zu Ende, und ich möchte hier kurz den Sack vorläufig zubinden, inklusive Linkliste. Besonders empfehlen möchte ich euch ein halbstündiges Gespräch mit Catherine Newmark bei Deutschlandfunk Kultur. Wir sprachen über Susmans Differenzdenken und heutige Identitätsdebatten. Ebenso einen Text, den ich für Publik Forum geschrieben habe (Ihr müsst euch mit Daten anmelden, um ihn als Probeabo lesen zu können): Margarete Susman – Anders denken. Von

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Zum 80. Geburtstag von Alice Schwarzer

Nachdem es jetzt rum ist, auch noch meine 3 Cent zu Alice Schwarzer. Die Erzählung ging ja hauptsächlich darum, ob man ihr dankbar sein soll oder nicht. Die einen sagen aus bekannten Gründen Ja, die anderen aus ebenso bekannten Gründen nein. Oder, als Kompromiss: Was sie früher gemacht hat, war gut, dann wurde es schlecht. Oder, wenn man eine Kontinuität sucht: Sie war eine persönlich schwierige Frau, man konnte schwer mit ihr zusammenarbeiten. Ich würde es ja besser gefunden haben, wenn man sich inhaltlich mit ihren Positionen auseinandergesetzt hätte. Denn die Frage ist doch nicht, ob man ihr dankbar ist oder nicht, sondern ob – wo und wo nicht – man mit ihr übereinstimmt. Für mich kann ich sagen, dass ich als junge Frau am Anfang meiner feministischen Politisierung (mit Anfang 20, also Mitte der 1980er) von Alice Schwarzer gelernt habe, die krasse patriarchale Struktur unserer Kultur zu sehen. Das Ausmaß zu erkennen, in dem die Welt männlich dominiert ist,

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Spanien: Anarchismus nach der Diktatur

Als 1975 der spanische Diktator Francisco Franco starb, bedeutete das das Ende einer langen Ära, in der jegliche linke Opposition illegal gewesen war. Folterungen, politische Morde und Repression hatten vier Jahrzehnte lange nicht nur jede politische Kritik, sondern auch jeden Ausdruck persönlicher Freiheit, Feminismus, Homosexualität, Queerness jeder Art unmöglich gemacht. Ein Dokumentarfilm von Luis E. Herrero zeigt jetzt die Aufbruchstimmung jener ersten Jahre. Im Mittelpunkt steht dabei die anarchistische Gewerkschaft CNT (Confederacion Nacional del Trabajo), die für eine kurze Zeit lang „in Mode“ kam und Hunderttausende hinter sich versammelte. Zu sehen sind Originalaufnahmen ihrer Kongresse und Treffen und Interviews mit damaligen Aktivist*innen. Dabei wird spürbar, wie schwierig es war, zwei verschiedene Gruppierungen miteinander ins Gespräch zu bringen: Die alten Kämpferinnen, die noch den spanischen Bürgerkrieg erlebt hatten, und eine neue Generation junger Menschen, die von den Ideen und Ausdrucksformen der Flower-Power und Studentinnenbewegungen der „68er“ inspiriert waren. Ich fand allerdings beim Anschauen des Films, dass gerade diese Kombination einen gewissen

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Gab es in der Steinzeit schon Frauen und Männer?

Heute sah ich diese interessante Arte-Dokumentation mit dem etwas merkwürdigen Titel „Geschlechterkonflikt – Frauenbilder der Geschichte“: Sehr empfehlenswert, schaut sie euch dieser Tage an, sie ist nur noch bis zum 5. April in der Mediathek verfügbar! Es geht dabei um neue archäologische Erkenntnisse über die Geschlechterverhältnisse in der Steinzeit und im Neolithikum. Im 19. Jahrhundert haben ja bekanntlich bürgerliche männliche Forscher aus Europa mehr oder weniger alle Funde aus früheren Jahrhunderten und Jahrtausenden (Höhlenmalereien, Grabbeigaben, Figurinen und so weiter) durch die Brille ihrer eigenen normativen Geschlechterordnung interpretiert. Ein Skelett mit Waffe im Grab musste männlich sein, weil Frauen tragen ja keine Waffen. Feministische Kritikerinnen haben schon seit den 1970er Jahren diesen unwissenschaftlichen Blick kritisiert, und inzwischen lässt auch wissenschaftlich beweisen, dass die Wahrheit ganz anders aussah: Die Person in dem prächtigen Wikingergrab war eine Frau, viele Höhlenmalereien stammen von Frauen und so weiter. Generell scheint in der Steinzeit „Geschlechteregalität“ geherrscht zu haben: Frauen und Männer haben dasselbe gegessen, wurden in

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Rue Virginie Barbet in Genf

Aus Genf wurde mir gerade folgendes Foto zugeschickt: Dort gibt es jetzt eine Rue Virginie Barbet! – Die Benennung erfolgte im Rahmen der Aktion 100elles.ch, bei der 100 Straßen in Genf nach Frauen benannt wurden! Virginie Barbet war eine der vier Frauen in der Ersten Internationale, über die ich 1999 meine Dissertation geschrieben habe. Das Kapitel über sie wurde später von einem kleinen anarchistischen Verlag ins Französische übersetzt und als Büchlein herausgebracht, und dieses wiederum wird jetzt in dem Begleittext zur Aktion 100elles.ch als Quelle angegeben. Nun sage noch jemand, wissenschaftliches Arbeiten wäre „nur akademisch“, ha! Update: Gerade ruft mir auf Twitter jemand zu, dass die Aktion nur temporär ist und die Schilder im Juni 2020 wieder ab kommen. Wie blöd ist das denn! Virginie Barbet auf der Seite 100elles Ein Text von mir über Virginie Barbet