Immer wenn irgendetwas angeblich „kein Geschlecht“ kennt, fühle ich mich unbehaglich. Denn in Wirklichkeit kennt ALLES ein Geschlecht, nicht nur Männer und Frauen, sondern auch die Politik, die Mathematik, die Verkehrsplanung und das geputzte oder ungeputzte Klo.
Unsere gesamte Kultur ist durchzogen mit der Geschlechterdifferenz, es gibt kein Thema, bei dem das keine Rolle spielt. Der Grund dafür ist, dass die Geschlechterdifferenz – nicht von ihrem eigenen Prinzip her, sondern aufgrund der Art und Weise, wie sie historisch verhandelt wurde – zum Paradigma für die Differenz generell geworden ist. Das Weibliche steht stellvertretend für das Andere schlechthin in einer Kultur, in der sich das Männliche zur Norm gesetzt hat.
Und nun erst die Liebe!
Dass die Liebe mit der Geschlechterdifferenz eng verknüpft ist, hängt nicht in erster Linie an den heterosexuellen Grundvoraussetzungen der menschlichen Fortpflanzung. Es hängt damit zusammen, dass die Liebe von ihrem Wesen her eine Beziehung zum Anderen ist, die Beziehung zu einer anderen Person, die mir nicht gleicht, die mir nicht nützlich ist, die ich nicht vollständig verstehe, die ich nicht kontrollieren kann – wobei das alles auch in Liebesbeziehungen vorkommen mag, aber es ist nicht ihr Wesentliches. Denn eine Beziehung zu jemandem, der oder die mir gleicht, mir nützt und so weiter kann ich auch ohne Liebe haben. Das Wort „Liebe“ zeigt an, dass solche Gründe nicht alles abbilden.
Nun hat die Frauenbewegung schon lange gegen diese Zumutung protestiert, dass die Frauen das „Andere“ für die Männer repräsentieren sollten. Denn der Preis dafür war ihre Unfreiheit, und das konnte nicht so bleiben. Das Andere kann eine Frau auch in einer anderen Frau finden, das war die großartige Erkenntnis – und die Praxis – des Feminismus. Oder, um es mit der nüchternen Franziska zu Reventlow zu sagen: „Von Frauen weiß man überhaupt sehr wenig, wenn man selber eine ist.“ (Von Paul zu Pedro, S. 43)
Die Aufkündigung des alten Geschlechtervertrags (ein Begriff, den Carol Pateman prägte) von Seiten der Frauen hatte zur Folge, dass es notwendig wurde, anders über alles zu schreiben, die Komplexität der Verhältnisse und die Subjektivität der Frauen einzukalkulieren. Kein leichtes Unterfangen, wenn die kulturellen Codes weiterhin bestehen.
Deshalb flüchteten sich viele, deutlich mehr Männer als Frauen, in eine geschlechterneutrale Darstellung. Während die Geschlechterdifferenz in fast allen Veröffentlichungen von Frauen zu dem Thema durchaus im Blick ist, schreiben die Männer neuerdings über die Liebe, als wäre es völlig egal, ob ein Mann eine Frau liebt oder eine Frau einen Mann oder ein Mann einen Mann oder eine Frau eine Frau. Ein schönes Beispiel (aber beileibe nicht das einzige) ist Niklas Luhmann, der bekanntlich – wie so viele – auch ein Buch über die Liebe geschrieben hat. Aber man könnte auch Erich Fromm anführen.
Diese Kehrtwende um 180 Grad könnte man fast lustig finden, wäre sie nicht eigentlich ignorant (gegenüber der Realität, aber auch gegenüber den Schriften und Erkenntnissen der Frauen). Denn schließlich haben wir Bibliotheken voller Bücher geerbt, in denen männliche Philosophen lang und breit erklärt haben, warum die Liebe einer Frau und die Liebe eines Mannes grundsätzlich prinzipiell und wesentlich etwas völlig Unterschiedliches sind, entsprechende Anweisungen inklusive.
Kant zum Beispiel wertete die Liebe des Mannes höher als die der Frau, sie sei weniger wollüstig und zärtlicher, sie wolle dem Gegenstand der Liebe gefallen und jenen nicht nur besitzen (vgl. Agnes Neumeyer, Kritik der Gefühle, S. 277) – eine Idee, die natürlich auch schon lange vor Kant vertreten wurde. Etwa von den alten Griechen, die, wenn sie über die Liebe schrieben, sowieso nur die Liebe zwischen Männern meinten. Überhaupt galten früher prinzipiell die Männer als die besseren Liebenden. Heute ist es lustigerweise genau andersrum (und genauso falsch), was wohl damit zusammenhängt, dass die Liebe mit der Verbürgerlichung ins „Private“ geschoben wurden, also in den weiblichen Aufgabenbereich.
Wie auch immer: Eine Aussage wie „Liebe kennt kein Geschlecht“ kann nicht als Beschreibung der Realität genommen werden, sondern sie ist vielmehr eine Vision, eine Proklamation: „Liebe soll kein Geschlecht mehr kennen!“ Eine Proklamation, die ich unterschreibe, wenn sie in der Bedeutung verstanden wird: „Wir wollen in der Liebe (im Nachdenken darüber wie in ihrem Praktizieren) uns nicht mehr an den alten Klischees über Geschlechterrollen und Heteronormativität orientieren.“
Aber woran dann? Wenn man bedenkt, dass wir nicht viel mehr in unserem kulturellen Fundus haben?
Ein naheliegender Schritt ist es, sich mehr dafür zu interessieren, was Frauen über die Liebe geschrieben haben. Ich lasse daher hier einfach nochmal Franziska zu Reventlow zu Wort kommen, die es 1912 so schrieb:
„Ach, mein Gott, wenn alles immer Liebe oder auch nur etwas Ähnliches sein sollte, wo käme man da hin? Jedes Mal Seligkeit, wenn es anfängt, „Konflikte“, während es dauert, und große Tragik, wenn es zu Ende geht – so etwa schienen diese Gerechten es sich vorzustellen -, nein, das möchte wirklich zu weit führen. Die Frau wolle doch wenigstens die Illusion haben, dass sie liebt, wenn sie einem Manne angehört – meinte jemand, und die anderen stimmten ihm bei. Das ist hart, sehr hart. Schon das diktatorische: die Frau, der Mann. Wer sind diese Frau und dieser Mann? Warum wohl überhaupt diese Sucht, diese schöne Vielfältigkeit des Lebens und seiner Möglichkeiten abzuleugnen oder wenigstens nach Kräften einzuschränken? … „Man“ tut doch schließlich in erster Linie, was einen freut, und weil es einen freut. Und das ist natürlich jedes Mal etwas anderes. Das kann wohl manchmal Liebe und „große Leidenschaft“ sein, aber ein andermal – viele, viele andere Mal ist es nur Pläsir, Abenteuer, Situation, Höflichkeit – Moment – Langeweile und alles Mögliche. … Es kommt „der Frau“ auch gar nicht in den Sinn, sich immer einzureden, dass es Liebe ist, im Gegenteil, das wäre ja manchmal nur peinlich, und sie ist recht froh, dass es sich anders verhält. Man braucht doch auch Erholung vom Ernst des Lebens.“ (S. 13f).