Es werden heute erstaunlich viele Bücher über die Liebe geschrieben. Im Allgemeinen gehen sie davon aus, dass die Liebe es schwer hat, weil wir alle so viel Freiheit hinzugewonnen haben. Exemplarisch sei auf Sven Hillenkamp vewiesen, der die Thesen seines aktuellen Buches über „Das Ende der Liebe“ hier in einem Interview ausführlich erläutert.
Der Hauptfehler in der Argumentation, dass zu viel Freiheit die Liebe gefährde, liegt meiner Ansicht nach in einem falschen Begriff von Freiheit. Wenn man Freiheit als Autonomie und Unabhängigkeit versteht, als Freiwilligkeit, als Möglichkeit, unter einer Fülle vorgegebener Optionen auszuwählen – dann könnte die Diagnose stimmen. Darüber habe ich ja hier schon gebloggt.
Freiheit ist aber etwas anderes. Freiheit ist vielmehr die Möglichkeit, sich dem eigenen Begehren entsprechend aktiv an der Gestaltung der Welt zu beteiligen (siehe auch hier). Sie ist offen und nicht an das Vorhandensein möglichst vieler Auswahlmöglichkeiten geknüpft. Nicht alles, was ich freiwillig tue, ist eine Folge meiner Freiheit. Vielleicht ist es auch eine Folge meiner Mutlosigkeit, meiner Ängstlichkeit, meiner Phantasielosigkeit.
Daher denke ich: Liebe ist mit dem Freiheitsgewinn überhaupt erst möglich geworden. Freie Liebe gab es auch früher selten. Allerdings haben sich die Erzählungen über die Liebe den neuen Verhältnissen noch nicht angepasst. Ein Großteil der westlichen Liebesliteratur beschäftigt sich damit, dass Liebe gesellschaftliche Hindernisse überwinden muss – die legendären zwei Königskinder eben, Romeo und Julia, you name it.
Regalweise Romanliteratur haben wir voller Geschichten davon, wie zwei sich lieben, aber nicht zueinander finden. Anfangs waren es meistens äußerliche Hindernisse, verfeindete Familien, widrige Zeitumstände, soziale Unterschiede, die das Zusammenkommen der Liebenden verhindern wollten. Heute spielt all das – zumindest in den liberaleren Milieus – kaum noch eine Rolle, aber die Narrative sind gleichgeblieben. Die Hindernisse haben sich tendenziell verinnerlicht, die psychischen Befindlichkeiten oder egoistischen Lebensperspektiven verhindern das Zustandekommen des Paares (eine Erzählfigur, die gerne auch mal zum Bashing emanzipierter Frauen verwendet wurde, denen man „Liebesunfähigkeit“ unterstellt hat).
Ich denke, wir brauchen neue Narrative. Das Problem der Liebe stellt sich nicht mehr in Form von Hindernissen, seien sie nun äußerlich oder innerlich, die dem Paar im Wege stehen. Es stellt sich in Form einer gestiegenen Notwendigkeit.
Das Bedürfnis, über die Liebe nachzudenken, ist deshalb heute so groß, weil wir die Liebe viel nötiger haben als früher. Und zwar deshalb, weil es die einzige menschliche Beziehungsform ist, die noch verlässlich Zugehörigkeit schafft, einen Ort für die Individuen, in denen sie sich „zuhause“ fühlen, losgelöst von ihrer Funktionalität und Leistungsbereitschaft, ihrer Performance und Bewertbarkeit.
In früheren Zeiten waren die Menschen ganz automatisch in vielerlei Beziehungsgeflechte eingebunden. Sie gehörten zu ihrer Familie, zu ihrem Dorf, zu ihrer Firma, zu ihrem Verein. Man wurde in einen sozialen Kontext hineingeboren, und diese Zugehörigkeit zu einer definierten menschlichen Gemeinschaft war selbstverständlich. Man musste dafür nichts leisten. Nur die wenigsten – die an den extremen Rändern – fielen da hinaus: Die einen, mit großem Freiheitsdrang, die ausbrachen und auf eigene Faust „in die Welt zogen“ (und es wurde immer thematisiert, dass der Preis dafür die Einsamkeit war), und die anderen, die sozial Ausgestoßenen, die Verbannten, denen aus irgendeinem Grund die Zugehörigkeit verweigert wurde.
Aber beides waren Einzelfälle, die große Masse der Menschen gehörte einfach qua Geburt zu einer sozialen Bezugsgruppe dazu. Niemand musste großartige Liebesbeziehungen pflegen, um einen Ort zu haben, um irgendwo „hinzugehören“. Viele Ehepaare lebten nebeneinander her, ohne tiefschürfende Liebesemotionen, aber dennoch nicht einsam und allein, sondern sie hatten ein „Zuhause“.
Die Individualisierung moderner Gesellschaften, die an die Person gebundenen (und von den konkreten Beziehungsgeflechten gelösten) Rechtsansprüche, Mobilität und Flexibilität haben diese Zugehörigkeiten prekär gemacht. Die Notwendigkeiten, die Menschen früher an ihre Bezugsgewebe gebunden (oder eben auch gefesselt) haben, bestehen nicht mehr. Man ist ökonomisch selbstständig, hat sich mit Hilfe eines Therapeuten aus der Abhängigkeit von den Eltern befreit, sucht im Beruf nach neuen Herausforderungen, wenn sie sich bieten (und wird von der Firma entlassen, sobald der das in den Kram passt).
Und das alles funktioniert, weil wir auch ohne Beziehungsgefüge sozial abgesichert sind. Diese Abhängigkeiten wurden aufgelöst, aber all das hat mit Liebe nichts zu tun.
Die Liebe springt vielmehr genau an dieser Stelle in die Bresche: Sie ist heutzutage der einzige legitime und akzeptierte Grund, sich an andere Menschen zu binden. Es gibt keinen Grund mehr, die Beziehung zu den Eltern aufrechtzuerhalten, es sei denn, ich liebe sie. Es gibt keinen Grund (und fast schon auch keine Entschuldigung mehr) dafür, bei meinem Ehemann zu bleiben, es sei denn, ich kann glaubhaft vermitteln (mir selbst und anderen) dass ich ihn noch liebe. Einzige Ausnahme sind die Kinder, um die Eltern sich kümmern müssen – allerdings auch nur, bis sie erwachsen sind.
Und deshalb ist die Liebe so wichtig geworden, deshalb ist sie für viele Menschen unverzichtbar. Weil wir ohne Liebe keinen Grund mehr haben, uns an andere Menschen gebunden zu fühlen, und weil wir keine Zugehörigkeiten mehr kennen, die sich von selbst verstehen. Auch wenn wir persönlich es anders machen und „treu“ sein wollen, so müssen wir doch ständig damit rechnen, von den anderen verlassen zu werden, sogar von unseren Kindern, sogar von unseren Eltern, und sowieso von unseren Ehefrauen und Ehemännern. Alles, was uns mit anderen noch zusammenhält, ist die Liebe.
Und das ist natürlich eine ziemliche Bürde, die wir der Liebe da aufgehalst haben.
Denn das Wesen der Liebe ist nun einmal ihre Unverfügbarkeit. Liebe geschieht oder geschieht nicht, sie ist da oder sie ist nicht da. Man kann (und sollte) das Phänomen Liebe zwar kulturell begleiten, bewusst reflektieren und so weiter. Aber wie man es auch dreht und wendet: Die Liebe kann kein Patentrezept für die sozialen Vereinzelungstendenzen unserer Zeit sein.
Die Liebe hat für sich genommen kein Problem, es gibt heute so viel Liebe wie immer (und ich behaupte sogar, mehr), die Liebe funktioniert heute so gut wie immer (ich behaupte sogar, besser). Aber sie steht eben nicht immer Gewehr bei Fuß, wenn man sie braucht. Liebe lässt sich nicht instrumentalisieren. Man kann sie nicht herbeizwingen. Und das ist natürlich tragisch, wenn sie der einzige Weg ist, der uns vor Vereinsamung und Vereinzelung schützt, uns Zugehörigkeit und Verbindlichkeit erleben lässt.
Deshalb denke ich, dass wir neue Narrative brauchen. Wir brauchen nicht mehr dauernd über die angeblichen Probleme der Liebe sprechen und über die Hindernisse, die ihr im Weg stehen. Worüber wir aber dringend sprechen und nachdenken sollten, das sind die Schwierigkeiten eines Lebens in einer Gesellschaft ohne selbstverständliche Zugehörigkeiten. Menschen können ohne verlässliche Bindungen nicht existieren, jedenfalls die meisten nicht. Wenn wir nun aber die alten Beziehungsgewebe mit ihrer Herrschaft, ihrer Ausbeutung, ihren Ungerechtigkeiten und der Ausnutzung von Abhängigkeiten nicht mehr wollen – wie gestalten wir Zugehörigkeit dann?
Jedenfalls nicht, in dem wir einfach: „Die Liebe ist die Lösung“ rufen. Sondern es geht darum, über Freiheit in Bezogenheit nachzudenken.
Die Liebe kommt und geht wie sie will, sie ist unverfügbar, ein Geschenk, etwas Unvorhergesehenes, Unerwartetes, etwas, das über den Horizont des Machbaren hinausweist. Das bedeutet aber auch: Sie ist nicht unbedingt da, wenn man sie braucht. Sie kann deshalb das Problem der fehlenden Zugehörigkeit nicht lösen.
Und insofern hat sie lediglich ein Sekundärproblem – das der Überlastung durch übersteigerte Erwartungen, die heute an sie gestellt werden.