Die Politik der Frauen

In den vergangenen Wochen habe ich das neue Buch der italienischen Philosophin Chiara Zamboni gelesen, in dem es um das „Denken in Anwesenheit“ geht. Ihre These ist, dass Denkprozesse anders ablaufen, je nachdem, ob zwei oder mehr Menschen sich persönlich kennen (und körperlich anwesend sind), oder ob es ein einsamer Schreibprozess am Computer ist. Von dieser Lektüre war schon mein Blogeintrag „Ich weiß, was du gestern Abend getwittert hast“ inspiriert. Nun habe ich eine weitere Passage übersetzt, die ich interessant finde, und die sich mit der „Politik der Frauen“ beschäftigt.

Die Politik der Frauen verbreitet sich über Ansteckung und persönlichen Kontakt. Es ist kein Zufall, dass sich der Feminismus nicht in Parteien oder Organisationen strukturiert hat. Auch wenn er die Auseinandersetzung mit Frauen und Männern innerhalb repräsentativer Organen nicht zurückweist, hat er doch die eigene spezifische Kraft in den individuellen Verbindungen zwischen Frauen gefunden, die sich über persönliche Bekanntschaft verbreiten, in der die beiderseitige Anwesenheit zählt. Die Politik der Frauen wächst so von Beziehung zu Beziehung. Diese Bewegung des Kontaktes und der gemeinsamen Anwesenheit stützt sich auf ganz einfache Vermittlungen, wie sei zum Beispiel auch das Internet oder ein Zeitungsartikel sein können: Es genügt, dass diese nur einen ersten Schritt darstellen, um die Möglichkeit eines wahren Austausches daran anzuknüpfen.

Im Gegensatz dazu wird in der repräsentativen Demokratie und in den Parteien die gemeinsame Anwesenheit als zweitrangig betrachtet, als etwas Subjektives, während die Verbreitung abstrakteren Vermittlungen wie Organisationen, Regeln oder bestimmten Kommunikationsmitteln anvertraut wird. Authentische Beziehungen gibt es zwar auch in diesen Zusammenhängen, doch sie werden als zweitrangig betrachtet. Wo die Vermittlungen nur formale sind, stellt die persönliche Anwesenheit nur dann einen anerkannten Wert dar, wenn sie in der Masse auftritt, zum Beispiel bei einer Demonstration. Nur dann hat sie Gewicht. (…)

Doch es sind die Beziehungen in gegenseitiger Anwesenheit, die wirklich Veränderungen hervorbringen, wie wir aus unserer Erfahrung wissen. Natürlich kann man Bücher und Artikel lesen, die vom weiblichen Denken handeln, aber man stellt doch fest, dass sie nur dann ein wahrer Maßstab für das politische Handeln werden, wenn man persönlich Frauen kennt, die aus der eigenen Subjektivität in der Beziehung mit anderen einen Weg des politischen Lebens machen. Dann wandeln sich diese Texte, die ein Beitrag zur Kultur sind, in Orientierungen für eine lebendige Aktion. (…)

Wie Hannah Arendt in „Vita Activa“ geschrieben hat, liegt der Sinn des politischen Handelns in seinem radikalen und einfachen Aspekt darin, vor anderen in Erscheinung zu treten – in einer beiderseitigen Anwesenheit – und in den Worten, die wir verwenden, um unsere Handlungen zu begleiten, ohne dass es für diesen Vorgang formale Vermittlungen gibt. Von diesen Erzählungen der Erfahrungen in Anwesenheit kann, wenn es gelingt, etwas Wahres herausgeholt werden auch für Menschen, die ihre Erfahrungen in anderen Kontexten gemacht haben. (…)

Aus: Chiara Zamboni: Pensare in presenza. Conversazioni, luoghi, improvvisazioni. Liguori Editore, Napoli 2009, S. 166f

Ich bin Journalistin und Politologin, Jahrgang 1964, und lebe in Frankfurt am Main.

7 Gedanken zu “Die Politik der Frauen

  1. Hallo Antje,

    hier habe ich für dich eine künstlerische Antwort auf deinen Text. Es ist der Epilog aus meinem eben beendetem Roman (Herzensfleisch). Wenn du ihn nicht freischaltest habe ich vollstes Verständnis dafür, da er etwas krass ist…

    Der Polarkreis war erwacht, die Auroras hinweggeweht, der Himmel klar, das Eis darunter geschmolzen und einem wogendem Blütenmeer gewichen. Der neue Ort, das Leben, das Sein, am Ende der Welt, das jetzt ein Anfang und eine neugeborene Mitte war. Sie betraten ihn, Aida und die ihr nun sehr Vertraute, blickten sich in die Augen und verweilten. „Ich habe dich gehört, gefühlt, ich kenne dich mein Leben lang, spreche mit dir und höre dir zu und küsse dich endlos lange.“ „Ich sehe sie, höre sie, sie sind mir neu und ich mag ihre weiche Hauttextur, ich versinke in ihnen, ihren Armen und den Seelenleibern.“ Sie flüsterten, lachten, rannten hinweg und entkamen nicht. Körper neben Körper, Brust über Brust und Vulvenhügel an Vulvenhügel. Lebendig wogendes Blütengeflecht, die Köpfe der Sonne entgegengereckt und die Wurzelfüße umeinander verschlungen und bis in die feuchte Erdenmitte hineingetaucht und dort vom gurgelnden Milchgrund genährt. „Ich fühle sie und ich möchte sie und auch dich.“
    Sie umfassten sich und rieben sich an Blätterstauden, stöhnten laut und gaben feuchte Küsse weiter. Sie wandelten, wandten sich vor Lust, tauchten in purpurfarbene Kelche ein und saugten ihren honigsüßen Nektar aus. Haut an Haut und Leib an Leib, nebeneinander miteinander und in fremden Arme gefangen. Sie ließen ihre Finger kreisen und die Münder schmatzen, sie flüsterten, sie sangen, sie jubilierten und das eigene Fleisch war bebend weit geöffnet wie zu nass gewordene Blätterhöhlungen. Sie, sie, Sie …, sie versanken in ewigen AugenBlicken, pressten stöhnend und gebaren dann blutig duftend klebrige Rosensprosse. […]
    Körper an Körper und Leib über Leib, tief in das wogende Blütenmeer eingetaucht, lustvoll ineinander verschlungen, über-, neben, untereinander; und Aida, sie zählte die Sterne und die ihr Vertraute rechneten ihre Tangenten aus.

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  2. Ich denke, dass hier ein Kommukationskrieg zwischen Männern und Frauen stattfindet. Wer wird gewinnen? Ich hoffen die Frauen, endgültig.

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