Er hält sich hartnäckig, der Mythos von der Eigenverantwortlichkeit. Nicht nur neoliberale Leistunsträger-Ideologie, sondern auch die linke Kritik an sozialer Ungleichheit setzt immer noch auf den autonomen Selbstversorger-Mann/Mensch als Modell für das, was wir uns unter gelungenem Menschsein vorzustellen haben. „Menschen müssen von ihrer Arbeit leben können“ heißt es zum Beispiel in einer kirchlichen Stellungnahme oder, wie in einem taz-Kommentar: „Die Entstigmatisierung von Hartz IV als normale Sozialleistung und nicht als Fürsorge ist der einzig positive Aspekt des Bürgergeld-Vorschlags der FDP.“
Aber diese Gegenüberstellung von „Fürsorge“ und „normale Sozialleistung“ ist Unsinn. Eher andersrum wird ein Schuh draus: Nur wenn wir Bedürftigkeit und Fürsorge als „normalen“ menschlichen Zustand begreifen, werden wir auch das Rechts- und Sozialsystem so einrichten, dass niemand dabei auf der Strecke bleibt.
Kein Mensch kann von seiner Arbeit leben. Auch nicht die Starken und die Leistungsträger. Das angeblich so unabhängige und für sich selbst sorgende „Ich“ der männlichen Philosophie haben Feministinnen schon lange problematisiert und hinterfragt. Dabei gab es verschiedene Ausgangspunkte: Etwa die Kritik daran, dass die Frauen oder das Weibliche in dieser Logik tendenziell das Objekt, das Andere sind, dem Subjektivität abgesprochen wurde oder auch, konkreter und simpler, die banale Tatsache, dass die in so einer Perspektive ins Abseits gedrängten Care- und Fürsorgearbeit dann von den Frauen geleistet wurden und werden (mit den bekannten Problematiken). Doch dieser genderspezifische Blick ist nur der Ausgangspunkt. Worum es vor allem geht ist, dass wir den sozialen Herausforderungen mit diesem Menschenbild niemals gerecht werden.
Dem autonomen, individuellen Subjekt stellen viele feministische Theoretikerinnen die Relativität, die Beziehung gegenüber. Sie haben in ganz vielen Publikationen bereits gezeigt, dass Menschen nur in Beziehungen leben und überleben können (besonders wichtig für mich sind hier Hannah Arendt und ihr Bild vom „Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten“ aus der Vita Activa zu nennen sowie Martha Finemans Auseinandersetzung mit „The Autonomy Myth“ – um nur zwei Literaturtipps von vielen anzuführen).
In einem Sammelband, dem wir den Untertitel „Zu einer Weltsicht der Freiheit in Bezogenheit“ gaben, entwickelten wir die Idee weiter, dass es eigentlich nicht nur um die Pflege und Aufmerksamkeit für Beziehungen geht – die ja letztlich das autonome Subjekt nicht wirklich hinterfragen, sondern erstmal nur in einen neuen Kontext stellen – sondern um Bezogenheit, also eine Seinsweise, die das Menschsein generell betrifft, auch unabhängig von den konkreten Beziehungen, die in einer gegebenen Situation tatsächlich gepflegt werden: Beziehungen können wir uns bis zu einem gewissen Grad verweigern, die Tatsache der Bezogenheit hingegen ist nicht hintergehbar.
Michaela Moser, eine der Autorinnen dieses Buches und Vizepräsidentin des Europäischen Armutsnetzwerks, geht noch einen Schritt weiter. Wo wir von „Bezogenheit“ sprechen, spricht sie von „Bedürftigkeit“, verlagert also die Aufmerksamkeit noch einmal auf einen Punkt, der dem vermeintlich „autonomen“ Subjekt vollends gegen den Strich gehen muss. Klingt „Bezogenheit“ noch akzeptabel, weil gegenseitig, als Geben und Nehmen, legt der Hinweis auf unser aller Bedürftigkeit den Finger genau in die Wunde.
Als sie kürzlich bei mir zu Besuch war, habe ich mit Michaela Moser ein kleines Interview geführt, in dem sie das genauer erklärt:
Dr. Michaela Moser ist Mitarbeiterin der Dachorganisation der Schuldnerberatungen und der Armutskonferenz und Vizepräsidentin des Europäischen Armutsnetzwerks EAPN. Ihre Dissertation schrieb sie 2008 zum Thema „A good life for all. Feminist ethical reflections on women, poverty and the possibilities of creating a change“.
Hier noch einige Links zum Weiterlesen:
* Michaela Moser: Banken, Betteln, Bedürftigkeit. Anmerkungen zur Finanzkrise, SozialschmarotzerInnen und einem notwendigen Perspektivenwechsel (in „Apfel“, Zeitschrift des österreichischen Frauenforums Feministische Theologie. Zum Downloaden auf Heft 88 gehen).
* www.attac.at – u.a. div Thesenpapiere zur Finanzkrise
* www.bzw-weiterdenken.de – ein Internetforum für Philosophie und Politik
* www.armutskonferez.at – u.a. ein Aktionsplan mit konkreten Maßnahmen für eine Politik des Sozialen
Weitere Literaturtipps:
*Attac (Hg.), Crash statt Cash. Warum wir die globalen Finanzmärkte bändigen müssen, Wien: ÖGB-Verlag 2008.
* Ina Praetorius (Hg.): Sich in Beziehung setzen. Zur Weltsicht der Freiheit in Bezogenheit, Königstein/Taunus: Ulrike Helmer Verlag 2005.
3 Gedanken zu “Auch unter Linken ist die Bedürftigkeit der Menschen ein Tabuthema”