Die Überraschung und der Zwischenraum

Vor 25 Jahren erschien in Frankreich unter dem Titel „Ethik der sexuellen Differenz“ eine Sammlung von Vorlesungen der Philosophin und Psychoanalytikerin Luce Irigaray. Auf dieses Jubiläum hat mich Ina Praetorius hingewiesen, die aus diesem Anlass eine wunderbare Würdigung geschrieben hat. Ich kann mich ihr nur voll anschließen, wenn sie schreibt: „Ich weiß nicht, wer und wo ich heute wäre, gäbe es Luce Irigarays geheimnisvoll zukunftsschwangere Texte nicht.“

LUCE IRIGARAY
Foto: Rino Bianchi

Ich kann mich noch ziemlich genau daran erinnern, wo ich die „Ethik“ zum ersten Mal gelesen habe: Es war bei einem Strandurlaub, mit viel Zeit. Und diese Zeit braucht es, um sich durch die durchaus schwierigen, weil so ungewohnten Gedankengänge zu arbeiten. Weil zur Bedeutung Irigarays für die Frauenbewegung und zur Aktualität ihres Denken Ina Praetorius schon das Wesentlich gesagt hat (lest ihren Text!) möchte ich an dieser Stelle nur eines meiner Lieblingszitate posten. Ich mag es so, weil es genau auf den Punkt bringt, dass die Tatsache der sexuellen Differenz (und die betrifft NICHT Klischees von Männern und Frauen, sondern die Tatsache der nicht-Reduzierbarkeit des Anderen auf das Selbe) – einfach schön, belebend und notwendig ist. Irigaray schreibt also:

„Bleibt die Tatsache, dass der andere – er oder sie – uns betrachten kann. Und dass wir uns über ihn verwundern können, auch wenn er uns betrachtet. Dass wir über den Anblick, das Sichtbare hinausgehen, dass wir uns einen Ort zum Wohnen herstellen, dass die Verwunderung uns Anlass und Möglichkeit zur Bewegung gibt, Mittel ist, um innezuhalten, weiterzugehen oder zu uns zurückzukehren. Diese erste Leidenschaft ist unerlässlich für das Leben, aber auch und noch mehr für die Herausbildung einer Ehtik, insbesondere einer Ethik der sexuellen Differenz und durch diese. Dieser (oder diese) andere müsste uns wieder und wieder überraschen, uns als neu erscheinen, sehr verschieden von dem, was wir kannten, oder von dem, was wir vermuteten, dass er (oder sie) sein sollte. Das bewirkt, dass wir ihn (oder sie) anschauen, innehalten, um ihn anzuschauen, uns fragen, uns fragend nähern. Wer bist du? Ich bin und ich werde dank dieser Frage. Verwunderung, die über das, was uns angenehm ist oder nicht, hinausgeht. Der andere ist uns niemals einfach angenehm. Würde er uns ganz und gar zusagen, hätten wir ihn uns auf irgendeine Weise angeglichen. Aber etwas geht darüber hinaus und widersetzt sich: seine Existenz und sein Werden als Ort, der das Bündnis möglich macht, das Bündnis und/durch die Resistenz gegen die Assimilation oder die Reduktion auf das Selbe.“ (Seite 90f).

Ich bin Journalistin und Politologin, Jahrgang 1964, und lebe in Frankfurt am Main.

4 Gedanken zu “Die Überraschung und der Zwischenraum

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