
Der letzte Blogpost von Felix Neumann, in dem er sich über die repräsentative Funktion des Bundespräsidenten Gedanken macht (und zu dem Schluss kommt, dass man dieses Amt doch niemandem zumuten könne) diskutierte heute Nacht in meinem Kopf mit einem Aufsatz von Chiara Zamboni, den ich am Tag davor gelesen hatte, und in dem sie unter anderem über den schiitischen Mystiker und Philosophen Ibn Sina schreibt, der im Westen unter dem Namen Avicenna bekannt ist.
Herausgekommen ist folgende Idee.
Felix Neumanns Unbehagen an einem repräsentativen Verständnis von Politik kann ich gut nachvollziehen, es ist auch ein klassisches feministisches Thema. Die Frauenbewegung hat sich ja nie in Form von repräsentativen Institutionen organisiert, im Unterschied zu anderen sozialen Bewegungen: Weder hat sie Parteien hervorgebracht (wie die Arbeiterbewegung) noch große Lobbyverbände (wie die Umweltbewegung). Sie hat auch kein einheitliches Programm zustande gebracht, und sich von Anfang an geweigert, Repräsentantinnen zu akzeptieren.
Kleine Randbemerkung: Das „Alice-Schwarzer-Phänomen“ – also der Versuch der Medien (und vielleicht auch von ihr selbst), dennoch eine solche Repräsentantin „des Feminismus“ zu konstruieren – zeigt gut die Schwierigkeiten, die sich für den öffentlichen Diskurs daraus ergeben. Schwarzer stand nie für „die Frauenbewegung“ – und deshalb sind Feministinnen, die die 1970er-Jahre miterlebt haben, mitunter auch etwas amüsiert, wenn jüngere Feministinnen sich später von Schwarzer distanziert haben und meinten, das sei etwas Originelles.
Innerhalb der Frauenbewegung ist die Abneigung gegen eine Politik der Repräsentation viel diskutiert und analysiert worden. Zum Beispiel unter der Fragestellung, was eigentlich Macht und Einfluss bedeuten: Je repräsentativer das Amt, desto weniger kann ich meine eigene Meinung sagen. In der Logik der repräsentativen Politik sprechen Funktionsträger „für andere“, woraus resultiert, dass sie nicht mehr sagen können, was sie selbst wirklich denken (aktuelles Beispiel: CDU-Abgeordnete müssen Wulff statt Gauck wählen, auch wenn sie Gauck vielleicht besser fänden). Macht bekommen ist daher nicht deckungsgleich mit Einflussreich werden.
Viele Frauen bevorzugen deshalb Wirkungsorte, wo sie „in erster Person“ handeln können – also ohne, dass sie andere repräsentieren müssen, aber auch ohne von anderen repräsentiert zu werden (vgl. dazu auch den Artikel von Dorothee Markert über den Unterschied zwischen „primärer“ und „sekundärer“ Politik.)
Die Idee, die mir nun heute Nacht zu all dem kam, war folgende: Vielleicht liegt das Problem nicht nur in den repräsentativen politischen Institutionen, wie sie sich im Lauf der (westlichen?) Kulturgeschichte herausgebildet haben, sondern noch tiefer in der abendländischen Philosophie verankert.
In besagtem Aufsatz beschäftigt sich Chiara Zamboni mit dem Verhältnis von Realem und Irrealem (aus: Diotima: Immaginazione e Politica, Neapel 2009). Dabei geht sie davon aus, dass die Realität, wie wir sie vorfinden, nicht einfach ein Faktum ist, das wie ein Objekt analysiert und seziert werden kann, wohingegen alles, was sich nicht eins zu eins mit der Realität deckt, irreal und phantasiert ist. Vielmehr haben die Menschen in Form von Sprache und Kultur die Fähigkeit, das Reale „hinter“ oder „neben“ dem bloß Faktischen zu erkunden und erforschen – eine Fähigkeit, die allerdings durchaus in Gefahr steht, ins Irreale und Illusorische abzudriften.
Dies ist ein breites Thema, an dieser Stelle interessiert mich vor allem ein Vergleich, den Zamboni in diesem Zusammenhang nur kurz streift, und zwar der zwischen Platon und Avicenna. Beide haben eine jeweils unterschiedliche Vorstellung davon entwickelt, in welchem Zusammenhang die gegebene, konkrete „Realität“ und das dahinter stehende „Reale“ zueinander stehen. Und meine Idee ist: Unsere Vorstellung von repräsentativer Politik geht letztlich auf Platon zurück. Eventuell würde aber die Philosophie Avicennas andere Perspektiven ermöglichen.
Platon geht ja davon aus, dass hinter den konkreten Dingen, die uns in der Realität begegnen, eine „Idee“ steht, die wir aber nicht direkt sehen können. Im so genannten „Höhlengleichnis“ macht er das anschaulich: Wir leben in einer Höhle und sehen, reflektiert von einer Feuerstelle, nur die Schatten der Dinge an den Höhlenwänden, nicht aber die Dinge selbst. Philosophie muss daher immer über die gegebenen Dinge hinausdenken, versuchen, ihr eigentliches Wesen, die „Idee“ dahinter, zu verstehen.
Bis heute lernen Philosophiestudierende das im ersten Semester. In Platons Vorstellung ist die Verbindung zwischen der Realität und dem dahinter stehenden Realen vor allem wegen der eingeschränkten menschlichen Erkenntnisfähigkeit problematisch: Wir sitzen im Dunkeln und können daher nicht sehen, wie es „in Wirklichkeit“ ist. Zweite Grundannahme: Die Dinge, die im Konkreten jeweils unterschiedlich aussehen können (weil die Schatten, die das Feuer in der Höhle wirft, mal so oder so flackern), haben einen „eigentlichen“ Wesenskern, den wir, wenn wir nur aus der Höhle hinauskletterten und lernten, im Sonnenlicht zu schauen, auch zweifelsfrei erkennen würden. Nicht schwer zu erahnen ist, dass hier auch der Ansatz für jenes Konzept der Normsetzungen liegt, das, da die Geschlechterdifferenz sich der Normierung widersetzt, dann auch zum Patriarchat, also zur Sich-zur-Normsetzung des Männlichen führte.
Und: In dieser platonischen Vorstellung von der Beziehung zwischen „eigentlichem“, ideelen Wesenskern und den vielen unterschiedlichen (zufälligen, kontingenten) Erscheinungsformen einer Sache sehe ich auch ein Modell für repräsentative Politik: Der Funktionsträger wird verstanden als Repräsentant des bunt gemischten Volkes und verkörpert so gewissermaßen die „Idee“, ist also „gereinigt“ von alle Zufälligkeiten und Individualitäten – wie zum Beispiel seiner persönlichen Meinung.
Welche andere Vorstellung hat nun Avicenna (ein persischer Arzt, Philosoph und Mystiker aus dem 11. Jahrhundert) entwickelt – übrigens von Platons Beispiel ausgehend und dieses weiterdenkend? Da ich Avicenna (bisher) noch nicht gelesen habe, beziehe ich mich hier auf die Darstellung Zambonis.
Laut Avicenna gibt es eine mittlere, vermittelnde Welt zwischen der konkreten, materiellen, empirischen Welt und der idealen, geistigen Welt der Ideen und Bedeutungen, und zwar die Welt der „Immagination“. Das ist der kulturelle und sprachliche Bereich menschlichen Lebens und menschlicher Auseinandersetzungen. Das heißt, laut Avicenna existieren die Ideen und Bedeutungen, die hinter einer konkreten, materiellen Realität stehen, nicht objektiv und für sich, sondern sie werden erst durch die Immagination der Menschen lebendig und relevant, die via Sprache und Kultur eine Verbindung schaffen zwischen der Realität und dem dahinter stehenden Realen.
Zamboni schreibt: „In dieser Welt der Immagination treffen wir Formen an, die von der aktiven Immagination geschaffen wurden, und zwar in der Beziehung zu einzelnen Dingen. Das bedeutet, dass wir mit unserer Erfahrung in einem Objekt nicht nur seine materielle Daseinsweise wahrnehmen, sondern gleichzeitig auch Anhaltspunkte und Bedeutungen von Anderem.“
Das „Andere“, das „Reale“ hinter einem gegebenen Ding zu sehen, besteht also nicht, wie bei Platon, darin, dass ich mich bemühe, sein abstraktes Wesen zu erfassen, die „Norm“ auf dem es beruht. Sondern im Gegenteil muss ich seine Besonderheit erkennen, also gerade das, was dieses Ding einzigartig macht, Genau darin liegt nämlich das Potenzial zu anderem, zu dem, was es sein könnte.
Erkenntnis bedeutet also gerade nicht, wenn ich in einer bestimmten Situation mit einer konkreten Sache konfrontiert bin (einem Ding, einem Menschen, einer Situation), dann das Allgemeingültige, die Norm, die Idee dahinter zu suchen. Denn gerade die unverwechselbare und unwiederholbare Einzigartigkeit dieser Sache (des Dings, des Menschen, der Situation) bietet Anknüpfungspunkte für meine Immagination. Nicht die Abstraktion, sondern nur die Kontingenz (die eben nicht das niedere, unwichtigere Zufällige, sondern das eigentlich Interessante ist) eröffnet die Möglichkeit, hinter das „Normale“ zu schauen und das Reale hinter der Realität aufzuspüren. Und dieses Andere können Menschen dann mit Hilfe von Sprache und Kultur in die Existenz rufen – zum Beispiel in der Politik, also wenn sie miteinander über die Regeln des Zusammenlebens verhandeln.
Repräsentative Formen von Politik (wie auch die üblichen Formen von Wissenschaft) erschweren dies jedoch enorm, weil sie versuchen, diese Vielfalt in Form von Parteien, Programmen und Theorien – quasi in platonischer Tradition – zu verdichten. Sie verwandeln Menschen aus Individuen in all ihrer einzigartigen Potenzialität in Funktionsträger, in „Linke“ und „Rechte“, in Anhänger von Partei X und Interessensverband Y. Und sie verwandeln konkrete Situationen in Strategien und Taktiken, in Siege und Niederlagen.
Dass die Frauenbewegung sich diesen Formen verweigert hat, wäre, so gesehen keine Schwäche, wie oft vermutet wurde, sondern gerade ihre Stärke.
PS: Noch ein kleiner Nachtrag – Beim nochmaligen Durchlesen finde ich jetzt, dass Platon etwas schlecht wegkommt. Diese ideengeschichtliche Entwicklung, die ich hier kritisiere, hat viele Quellen und Platon war dafür sicher nicht allein verantwortlich. Es lag auch daran, wie Platons Gedanken aufgegriffen und weiter entwickelt worden sind.
Ach. Ich dachte immer nur Männer würden einen heiden-abstrakten Aufwand betreiben, um Einfaches kompliziert zu machen. Und das ist das Erste, was mich stutzen lässt: dieses gleich in 2 Richtungen ganz weit hoch in die dünne Luft der idealistischen Philosophie ausgeworfene Lasso, um etwas zu erklären, was hier unten auf der Erde stattfindet.
Das zweite was mir auffällt: Kein Menschen wählt „Durchschnittsmeinung“ oder „Durchschnittsempfinden“. Man wählt Interessensverteter. Also z.B. eine Erscheinung wie Westerwelle, wenn man das Interesse hat, dass die Steuern gesenkt werden. Oder die Linke, wenn man das Interesse hat, das die Sozialausgaben erhöht werden. Das ist auch der Grund, warum die Wähler aller Parteien sich immer nach den starken Charaktern „mit Ecken und Kanten“ sehnen – sie wirken durchsetzungsstärker. Ein Parteiführer ist auch nie die „Idealverkörperung“, sondern der es geschickt versteht, sich eine Mehrheit zu erkämpfen und integrieren.
Repräsentative Demokratie ist ein Entscheidungssystem, das Kompromissbereitschaft voraussetzt. Oder anderes gesagt: Man muss auch verlieren können, man muss aushandeln, Teile seiner Interesse durchsetzen und andere zurückstellen. Das fällt Radikalen und Idealisten per se schwer.
Dass die Frauenbewegung sich nie institutionalisiert hat, hängt – vermutlich – nicht damit zusammen, dass Avicenna einen zutreffenderen, nämlich anti-abstrakten Realitätsbegriff hatte und Frauen nun instinktiv (?) auf dieser zutreffenderen Linie lägen. Die Frauen sind zwei Wege parallel gegangen – für das Thema „persönliche Emanzipation“ diffus und sozusagen jede für sich und außer-institutionell, für das Thema der politischen Durchsetzung den Weg durch die repräsentative Demokratie im Rahmen der bestehenden Entscheidungs- und Durchsetzungswege. Auf diesem klassischen Weg haben die Frauen viel erreicht und erreichen Jahr für Jahr mehr – mehr Teilhabe, mehr Berücksichtigung ihrer Interessen und Sichtweisen, mehr Einfluss auf sämtliche politischen Felder. Next step: eine Verteidigungsministerin.
Noch eins: Die „mittlere, vermittelnde Welt zwischen der konkreten, materiellen, empirischen Welt und der idealen, geistigen Welt“, also zwischen uns hier unten und denen da oben im Parlament, das sind eigentlich die Parteien mit ihren Orstverbänden, Kreisveränden, Landesverbänden etc. Die Parlamentarier müssen sich ja immer wieder der Kritik auf Orstebene stellen, herabsteigen aus dem Olymp des Reichstag in das Hinterzimmer vom Gasthof „Zur alten Post“. Da kann jeder und jede mitmachen. Aber die Leute chillen ja lieber und gucken TV bis sie blöd sind. Oder gehen Schühchen kaufen.
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@Brett – ähem, ich verstehe nicht, inwiefern das, was du schreibst, sich auf meinen Post bezieht. Aber jedenfalls ist die mittlere Welt der Imagination nicht zwischen „uns hier unten“ und „denen da oben im Parlament“ angesiedelt, sondern zwischen der (materiellen) Realtät und dem (dahinter/darüber stehenden) Ideelen, also nicht sichtbaren. Von daher hat gerade dein letzter Absatz nichts mit dem zu tun, was ich geschrieben habe.
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Die Ablehnung von Repräsentation ist ja nun aber deutlich älter als die Frauenbewegung, oder? Und es gibt ja auch andere soziale Bewegungen in denen das üblich ist.
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@Benni – ja, natürlich (mindestens so alt wie Avicenna, haha) – ich meinte das hier auch überhaupt nicht als exklusiv (a la die Frauenbewegung ist die tollste) sondern nur als illustrierend (weil ich denke, dass viele, die den Blog hier lesen, sich zur Frauenbewegung dazurechnen würden). Anarchismus ist ja auch so ein Beispiel. Weshalb mir der ja auch gefällt.
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Das tut mir leid, dass ich dich missverstanden habe.
Ich dachte, deine Gedanken spitzen sich auf diesen Punkt zu: „Repräsentative Formen von Politik … versuchen, diese Vielfalt in Form von Parteien, Programmen und Theorien – quasi in platonischer Tradition – zu verdichten.“ Das hat mir nicht eingeleuchtet, jedenfalls nicht in seiner ideengeschichtlichen Logik. Dass Gesetze immer eine Vielzahl von konkreten Fällen abdecken und regulieren, kommt jedenfalls direkt aus einer anderen Tradition, nämlich aus der römischen Rechtspraxis. Und für diese Rechtspraxis kann man, gerade im Vergleich mit allen anderen Rechtssystemen, nur dankbar sein. Auf der abstrakten Logik des römischen Rechts bauen dann später auch die Anfänge der Frauenbewegung auf.
Es kann ansonsten durchaus sein, dass für die Frauenbewegung nicht die „abstrakten“, repräsentierbaren Ziele im Vordergrund standen. Das ist ein interessanter Gedanke. Es gab bestimmte Punkte, die per Gesetz umgesetzt werden mussten (z.B. Vergewaltigung in der Ehe) und soche Ziele waren auch im Rahemn der bestehenden Parteien zu erreichen. Aber im Kern ging und geht es der Frauenbewegung um eine Art kultureller Veränderung.
Aber um diese Dinge zu diskutieren, braucht man dafür Plato und Avicenna?
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@Brett – Ja, das römische Recht baut ja gerade auch auf diesem Prinzip der Normsetzung, bei der abstrakte Ideen auf eine konkrete Situation „angewendet“ werden, auch wenn sie u.U. dem nicht gerecht werden, auf. Es ist richtig, dass sich Teile der Frauenbewegung (die Frauenrechtlerinnen eben) darauf beziehen. Aber natürlich vor allem deshalb, weil es ziemlich nachteilig ist, einem Rechtssystem unterworfen zu sein, ohne selber Rechte zu haben. Aber ich würde das eben schon vom Prinzip her durchaus hinterfragen: Ist das wirklich das Gelbe vom Ei? Oder nur eine schlechte unter noch schlechteren Möglichkeiten? Daher so weit zurück, bis Platon. Auch die Grenzen des Rechts sind ja in der Antike schon diskutiert worden, vor allem in der Antigone-Geschichte. Auch hier ist es interessanterweise eine Frau, die das Gesetz bricht, weil sie sich in der konkreten Situation nicht daran halten kann (sie beerdigt ihren Bruder, obwohl das verboten ist).
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@Antje: Hallo Anarcha 🙂
Mich fasziniert die Idee der Anarchie sehr. Wobei Anarchie einer sehr schwierige, wenn nicht sogar die schwierigste Form der Gesellschaft ist. Spannend dazu ist das Buch „Freiheit pur“ von Horst Stowasser, das einen Überblick über die anarchistische „Bewegung“, die Bedeutung und die Verwirklungsmöglichkeiten dieser Form gibt. Empfehlenswerte Lektüre für alle, die´s noch nicht kennen.
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Ich freue mich, dass der Name Ibn Sina genannt wird. Aber Ibn Sina hat nicht über Imaginationen geredet, sondern über Dinge, die durch Vernunft, Verstand und Logik nicht erfassbar sind. Es geht über die Metaphysik hinaus, sie ist nicht mit dem Begriff der Imagination zu vergleichen. Hierzu empfehle ich Abhandlungen folgender arabischer Philosophen:
Al-Ghazali
Ibn Rushd
Ibn Arabi
Dazu das Mathnawi von Rumi und Die Konferenz der Vögel von Attar,
vielleicht wird einem dann klar, was Ibn Sina wirklich meinte.
Als der Vogel das Ziel erreicht zu haben glaubte,
da wurde ihm klar, dass Gott woanders zu suchen ist
Attar
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