Die Regeln der anderen

In meinem Kopf haben sich in den letzten Tagen zwei Themen vermischt, die sich auf einem kleinen sonnigen Spaziergang heute Nachmittag zu einer Idee verdichteten: die Guttenberg-Geschichte auf der einen Seite, und die diesjährige Fastenaktion der evangelischen Kirche „Sieben Wochen ohne Ausreden“, über die ich noch einen Artikel schreiben muss, auf der anderen Seite.

Ich hatte eigentlich geplant, den Artikel zum Thema „Ausreden“ von einer persönlichen Seite her aufzuziehen. Also mich selbst dabei zu beobachten, wo ich irgendwelche Ausreden vorschiebe, in so kleinen Alltagsdingen, und daraus eventuell irgendwelche Erkenntnisse über das Phänomen zu ziehen. Allein: Eine Woche lang beobachtete ich mich, aber mir sind meinerseits keine Ausreden untergekommen.

Als ich heute morgen in der Redaktionskonferenz davon berichtete, brachte ich das auf das spontane Resumee „Wahrscheinlich mache ich einfach nichts Böses.“ Woraufhin die übrige Redaktion verständlicherweise in schallendes Gelächter ausbrach.

Allerdings habe ich die Erfahrung gemacht, dass solch spontanen Sätze, die ich manchmal unüberlegt sage (was natürlich nur in einer vertrauensvollen Atmosphäre geht, also nicht in Parlamentsdebatten oder Pressekonferenzen zum Beispiel), meistens irgend einen wahren Kern enthalten, der in der Situation selbst noch nicht ganz zu erfassen ist.

Beim Nachdenken ist mir aufgefallen, dass meine Ausredenlosigkeit keineswegs immer schon so war. Als Jugendliche war ich eine Meisterin der Ausreden. Den Klassiker kennen wahrscheinlich alle: Man kommt später als von den Eltern erlaubt nach Hause und behauptet, das Auto wäre kaputt gegangen. Man vermasselt eine Klausur und gibt als Grund an, die gestellten Fragen wären im Unterricht ja nie durchgenommen worden. Solche Sachen.

Meine Idee ist nun Folgende: Ausreden sind kein moralisches Versagen, sondern ein Hinweis darauf, dass man in einem System lebt, dessen Regeln man nicht anerkennt, die man aber auch nicht ändern kann. Zum Beispiel die von den Eltern vorgegebene Regel, um eine bestimmte Uhrzeit nach Hause kommen zu müssen. Oder die Regel, zu einem gewissen Zeitpunkt eine bestimmte Anzahl von Vokabeln gelernt haben zu müssen.

In diesem Fall sind Ausreden sozusagen ein Mittel der Selbstverteidigung: Ich vermeide damit einen Konflikt, den ich eh nicht gewinnen kann, zum Beispiel, weil diejenigen, die die Regeln aufstellen, auch gegen meinen Willen von mir verlangen können, dass ich mich daran halte. Eltern zum Beispiel. Oder die Herrschenden. In einer solchen Situation habe ich nur zwei Möglichkeiten: Entweder mich den Regeln der anderen zu unterwerfen. Oder mich rausreden, damit ich trotz meiner Ohnmacht das tun kann, was ich tun will und für richtig halte.

Was ist aber, wenn Erwachsene Ausreden erfinden? Menschen, die durchaus einen gewissen Einfluss haben? Dann liegt der Fall anders. Sie müssen sich dann fragen, warum sie eigentlich weiterhin in dieser Heuchelei leben. Warum sie sich Reglements unterwerfen, deren Bedingungen sie selbst nicht einhalten können – was doch immer ein guter Hinweis darauf ist, dass mit den Reglements etwas nicht in Ordnung ist. Warum sie zu bequem sind, die damit verbundenen Konsequenzen zu tragen.

Eine naheliegende Antwort ist natürlich: Weil sie einfach ohne große Anstrengung bestimmte Vorteile für sich einheimsen wollen. Weil sie die Regeln, obwohl sie sie gar nicht teilen, trotzdem zu ihrem Vorteil nutzen wollen. Aber das ist der eher banale, wenn auch nicht seltene Fall.

Ich meine das aber eigentlich gar nicht moralisch. Ich denke schon, dass die Ausrede auch im Erwachsenenalter immer eine Option ist: Vielleicht ist mir die Sache nicht wichtig genug, um mich an diesem Punkt zu verkämpfen, oder ich habe wirklich so beschränkte Möglichkeiten, dass ein Kampf an dieser Stelle aussichtslos wäre, oder ich bin zu ängstlich. Alles Erklärungen, die durchaus in einer bestimmten Situation in Ordnung sein können. Wichtig ist nur, dass man sich diese Fragen stellt und eine ehrliche Antwort findet. Und zwar ist es nicht aus einem moralischen Grund wichtig, sondern vor allem im Hinblick auf das eigene Glück.

Ich glaube, mein persönlicher „Trick“, der mir ein weitgehend ausredenfreies Leben ermöglicht, liegt darin, dass ich einfach keine Regeln anerkenne, die ich falsch finde. Dass ich es im Zweifelsfall eher zu einem Konflikt kommen lasse, als mich in Lügen und Ausreden zu verstricken, was ja eine sehr anstrengende Angelegenheit ist (zum Beispiel muss man sich immer daran erinnern, was genau denn die Ausrede war, in die man sich geflüchtet hat, um sich nicht laufend in Widersprüche zu verstricken).

Das braucht allerdings ein paar Voraussetzungen. Die erste Voraussetzung ist, dass man bereit ist, die Konsequenzen zu tragen. Wenn ich etwa die Regeln, die in einem bestimmten System gelten, nicht akzeptiere, kann ich in diesem System keine maßgebliche Rolle spielen. Ich muss also zum Beispiel auf die Privilegien verzichten, die mit der Teilhabe an dem systemimmanenten Status verbunden sind. Die zweite Voraussetzung ist, dass man Konflikte auszutragen bereit ist und unter Umständen auch in Kauf nimmt, dass Beziehungen daran auseinander gehen.

Natürlich muss ich in einer komplexen Gesellschaft akzeptieren, dass es Regeln gibt, die ich für falsch halte, ohne dass ich sie ändern könnte oder die Möglichkeit hätte, meine Beziehung zu jenen, die diese Regeln aufgestellt haben, zu lösen. Ich kann ja nicht aus der Gesellschaft austreten.

Aber was immer eine Möglichkeit ist, ist das, was Luisa Muraro „symbolische Unabhängigkeit“ nennt: Ich weiß, dass die anderen um mich herum bestimmte Regeln aufgestellt haben, ich weiß aber auch, dass ich diese Regeln nicht teile, und dass ich darum drei Möglichkeiten habe – eben die Anpassung, den Konflikt oder die Ausrede. Symbolische Unabhängigkeit ist, wenn mir diese Möglichkeiten bewusst sind und ich sie mir klar mache.

Meine symbolische Unabhängigkeit als Frau, die in einer Gesellschaft lebt, in der das Patriarchat zwar nicht mehr fest im Sattel sitzt, aber doch noch so einige Ausläufer hinterlassen hat, verdanke ich zum Beispiel der Frauenbewegung. Das hört sich vielleicht theoretisch an, ist es aber nicht.

Ein sehr klares Beispiel ist Folgendes: Als Jugendliche hatte ich Angst, schwanger zu werden. Ich hatte ja schließlich gelernt, dass das die größte Katastrophe ist, die einer Frau passieren kann, dass dann mein ganzes Leben versaut wäre und ich eine ehrlose Schlampe und so weiter und so fort, und unweigerlich hatte ich jedes Mal richtig richtig Angst, wenn meine Tage mal ein paar Tage zu spät einsetzten.

Bis dann die Frauenbewegung kam, und ich ein paar Dinge lernte: Zum Beispiel, dass ich im Falle eines Falles ja abtreiben könnte. Oder dass es andere Frauen gibt, die mir in dann beistehen würden, praktisch und „symbolisch“, die mich nicht für eine Schlampe halten würden sondern weiter meine Freundinnen blieben. Indem ich lernte, dass so eine ungewollte Schwangerschaft zwar trotzdem eine blöde und ärgerliche Sache wäre, aber nichts Existenzielles, nichts, das man nicht überleben könnte, nichts, das meinen Wert als Menschen beeinträchtigen würde. Von dem Moment habe ich keine Angst mehr gehabt.

Diese Veränderung ist passiert, und sie war real, obwohl sich äußerlich, an den gesellschaftlichen Strukturen, noch gar nichts verändert hatte. Die hauptsächliche Veränderung war in meinem Kopf passiert, und in meinen konkreten Beziehungen. Die einen Leute und was sie sagten, waren für mich unwichtig geworden, sie hatten ihre Autorität verloren. Denn es waren andere Leute, die etwas anderes sagten, für mich wichtig geworden, sie waren es, denen ich nun Autorität zusprach. Ich hatte sozusagen die Regeln verändert, mich in eine andere „symbolische Ordnung“ einsortiert – mit der Folge, dass ich im Falle einer Schwangerschaft keine Ausrede mehr gebraucht hätte.

Auch dann bleiben natürlich die Konflikte, die Schwierigkeiten, die Ungerechtigkeiten, die Widrigkeiten. Aber sie sind nicht mehr mit Scham, mit Selbstzweifeln, mit Angst verbunden.

Das Interessante an den Ausreden ist daher meiner Ansicht nach nicht, ob sie eine moralische Verfehlung anzeigen. Sondern dass sie ein Hinweis darauf sind, dass diejenigen, die sie brauchen, nach den Regeln der anderen leben – und nicht nach den eigenen.

Und arm dran sind dann eben die, denen das nicht einmal klar ist.


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Vielen Dank für die Spende!

Ich bin Journalistin und Politologin, Jahrgang 1964, und lebe in Frankfurt am Main.

24 Gedanken zu “Die Regeln der anderen

  1. Was wären dass dann wohl für Regeln nach denen Gutti gerne leben würde? Vielleicht die Raubritterregeln seiner Vorfahren?

    Aber im Ernst: Deine symbolische Unabhängigkeit in Ehren, aber es gibt halt Sachen, da muss man sich dran halten oder droht halt komplett unter zu gehen (Geld verdienen oder haben zB). Da hilft mir symbolische Unabhängigkeit sicherlich ein Stück weit weiter.

    Keine Ahnung was fester im Sattel sitzt, der Kapitalismus oder das Patriarchat, aber bei ersterem bringt mir meine durchaus vorhandene symbolische Unabhängigkeit nur sehr bedingt etwas.

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  2. ich lese deine artikel immer sehr gern, und auch hier finde ich deine gedanken sehr schön. nur mit guttenberg haben sie nicht viel zu tun. bei dem ging es ja nicht um böse, von außen aufdoktrinierte regeln, an die er sich nicht halten möchte. sondern um im möchte mal behaupten ziemlich edle wichtige grundsätze – nämlich, dass man quellen kennzeichnet.
    außerdem wurde guttenberg diesen regeln auch nicht zwangsläufig unterworfen. du kannst dir die strenge deiner eltern nicht aussuchen, und wenn die gesellschaft um dich herum schwangere unverheiratete frauen als schlampen sieht, kannst du auch nichts dafür. aber wer sich in den wissenschaftsbetrieb begibt und an eine universität geht, der tut das freiwillig, und der lernt gleich zu beginn, was dort von ihm verlangt wird.
    deshalb verstehe ich auch meine mitstudenten nicht, die maulen, sie hätten keinen bock für klausuren zu lernen. natürlich ist ein studium sehr zeitintensiv und manchmal wächst es einem über den kopf. aber diejenigen, die dann jammern, warum sie diesen ganzen scheiß lernen müssen und wie es sie ankotzt, an die uni zu fahren, denen sag ich nur: das habt ihr euch aber selbst ausgesucht, dass ihr nach diesen regeln spielt. das ist hier keine schule, niemand zwingt euch dazu.
    aber das ist etwas, dass mich generell sehr nervt, deswegen schlage ich gerade wahrscheinlich für andere nicht nachvollziehbar den bogen dahin..

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  3. deine erfahrungen decken sich mit meinen. was mich noch interessiert: hast du es dir hart erkämpft, zu diesem bewusstsein zu gelangen? wie hast du das empfunden? war die angst jedes mal sofort weg, wenn dir deine symbolische unabhängigkeit bezüglich einer regel oder situation bewusst wurde? ich frage mich oft, ob ich es ohne die unterstützung von anderen menschen, frauen wie männern, an den punkt geschafft hätte, an dem ich bin. was heißt geschafft, es bleibt ein ständiger lernprozess. und ich glaube, es ist kaum möglich, wenn man nicht den ersten schritt wagt, andere autoritäten zuzulassen.

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  4. @Benni – Naja, auch der Kapitalismus beruht auf bestimmten symbolischen Voraussetzungen, und ich wette mal, ein Arbeitsloser, der sich in der Anti-Hartz IV- oder Grundeinkommensbewegung engagiert, weil er die Regeln des Systems nicht akzeptiert und sich mit Gleichgesinnten zusammentut, ist glücklicher, als einer, der die Regeln implizit akzeptiert und wegen seiner Arbeitslosigkeit ein schlechtes Gewissen hat oder sich als Versager fühlt. Das löst die materiellen Probleme nicht, aber es ist doch ein Unterschied. Aber da sind wir wieder bei unserem alten Thema Freiheit 🙂 _ ich behaupte, Leute mit so einer symbolischen Unabhängigkeit sind die Motoren für Veränderung, nicht andersrum.

    @1tba – ja, Guttenberg war nur der Auslöser für diesen Post, darum ging es dann nicht. Aber ich denke schon, dass Guttenberg – ohne damit jetzt seine Betrügereien rechtfertigen zu wollen – auch eine arme Socke ist. Sein Problem ist ja offenbar, dass er von Herkunft, Duktus etcetcetc quasi zu einer bestimmten gesellschaftlichen Performance prädestiniert und auch genötigt war, aber aufgrund seiner begrenzten Fähigkeiten eben überhaupt nicht in der Lage ist, diese Erwartungen zu erfüllen. Jedenfalls tut er mir auch ein bisschen leid. Ich glaube, er versteht tatsächlich nicht, was genau ihm da passiert ist, und ich glaube auch nicht, dass er glücklich ist (wie gesagt, damit will ich ihn nicht rechtfertigen).

    @poetin – Ja, es ist genau, wie du beschreibst. Ein permanenter Weg, der nie abgeschlossen ist, aber imho ist es auch nicht ein immer gleichmäßiger Weg, sondern es gibt quasi „Erkenntnissprünge“. Und es geht nie ohne die Unterstützung von anderen Leuten, das sehe ich genau wie du: Der Dreh- und Angelpunkt ist es, andere Autoritäten zu haben. Chiara Zamboni sagte mal (aus dem gedächtnis zitiert): Eine allein müsste glauben, dass sie verrückt ist. Man muss mindestens zu zweit sein, um symbolische Unabhängigkeit zu erreichen. (was immer nur im Bezug auf einen bestimmten Punkt geht, es ist kein absoluter Zustand).

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  5. Das mit dem Kapitalismus ist so eine Sache. Das wir da mitmachen, ist doch schon die größte Ausrede, wie ich seit ein paar Tagen zumindest schon einmal für mich eingestehen muss.
    Es gibt schon Mittel und Wege, nicht komplett mitzumachen. So könnte ich versuchen, ähnlich es die Mitglieder der Kommune Niederkaufungen gemacht haben, nach Personen zu suchen, die nicht grundkapitlistisch leben wollen.
    Oder man organisiere sich mit anderen in einer genossenschaftlich organisierten Firma.
    Man könnte sich auch komplett der Werbung widersetzen und nur die bezahlten Sender schauen.
    Man könnte auch die Discounter meiden und dort einkaufen, wo „ordentliche“ Warn angeboten werden.
    Aber wir finden überall Ausreden, zumindest ich immer wieder.
    Ziemlich gut bringt das Thema Ausreden übrigens Richard David Precht in seinem letzten Buch rüber. Er diskutiert dies an dem krassen Bespiel einer Gruppe von Soldaten, die in einem polnischen Dorf alle Einwohner, überweigend Frauen und Kinder umbringen mussten. Da es im Grunde alles Herzensgute Menschen waren und laut Befehl gegen Ihre eigene Überzeugung agieren mussten, wenn sie nicht selbst getötet werden wollten, dann haben sie in der Art und Weise des Tötens sich herausgeredet. Das ist dann ein Schutz, um nicht das Selbstvertrauen in sich zu zerstören.
    Unsere Ausreden sind zum Glück viel unkritischer.
    Was mir aber sehr zu denken gibt ist, wie leicht wir doch wegschauen, wenn uns die Politker wieder eine Kröte zu schlucken geben, für die wir sie nicht gewählt haben. Nur wenige von uns werden laut.
    Nur bei Gutti haben nun viele den Mund aufgemacht. Aber sonst schauen wir geflissentlich mit der Ausrede weg, man könne doch sowieso nichts tun.
    Können wir wirklich nicht?
    Viele Grüße, Martin

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  6. @antje – danke für deine einschätzung. das schwierigste finde ich inzwischen gar nicht mehr den eigenen weg, sondern andere menschen in ihrem selbst gewählten scheuklappendasein zu lassen. ich versuche, andere zu dieser symbolischen unabhängigkeit zu ermuntern, so wie auch ich ermuntert wurde. mich macht es immer traurig, mitansehen zu müssen, wie jemand zu viel angst hat (oft als desinteresse oder zufriedenheit mit den regeln kaschiert), andere autoritäten zuzulassen. aber auch das ist freiheit und ich muss diese respektieren. da braucht es vertrauen, dass sich dennoch viel verändern kann. weil das ermuntern ein winziger schubser sein kann für einen erkenntnissprung.

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  7. Ich finde, es gibt Regelsysteme, die sinnvoll sind, und solche, die eben nur da sind, damit sie da sind. Das ist aber schwierig, nicht alles ist für alle gleich einzusehen. Die Straßenverkehrsordnung sehen wir gerne als Regelsystem, an das wir uns halten, weil es einfach für ein Funktionieren des Verkehrs notwendig ist. (Und zugleich stellen wir uns selbst laufend darüber, wenn wir denken, dass wir in der Baustelle schneller fahren können als erlaubt, oder beim Parken, oder beim Drogenkonsum, und so weiter.)

    Andere Regeln hingegen sind irgendwie nicht sinnvoll, werden aber trotzdem gerne eingehalten und verfolgt. Zum Beispiel dass man im Schwabenländle am Samstag die Kehrwoche macht und das Auto wäscht. Der Rasen wird Freitag Mittag oder Samstag morgen gemäht, und wer die Regel auch mit einem nahezu lautlosen Elektrorasenmäher verletzt wird echt schräg angekuckt.

    Diese „unechten“ Regeln sind ohne Ausreden gut zu ignorieren, wie Du es schön in Deinem Artikel beschreibst. Mäh ich halt den Rasen am Montag, oder gar nicht, ist ja mein Rasen, macht doch Theater wie ihr wollt. Am Ende dreht sich die Welt genau so weiter und abgesehen von der unnützen Aufregung hat niemand Schaden genommen.

    Anders aber bei den „echten“ Regeln, also denen, die Systeme am Funktionieren halten. Wie zum Beispiel das System Wissenschaft. Da müssen dann die Ausreden her. Nur selten haben die Leute die Größe, einfach hinzustehen und zu sagen: OK, Ich hab’s verbockt.

    Aber auch vor den echten Regeln gibt es ein Entkommen: Man muss nicht bei allen Systemen mitmachen. Man muss nicht Auto fahren. Und man muss auch nicht promovieren. Und dann manchmal (oft?) muss man leider doch: Denn wir wollen alle was essen und ein Dach über dem Kopf.

    Noch ein interessanter Punkt in der Gutti-Debatte: Nach obiger Klassifikation zeigt sich, dass tausende Uni-Angehörige die von Gutti verletzten Regeln als richtig und notwendig für ein System ansehen – tausende Gutti-Anhänger sie aber eher in die Kategorie „Rasenmähen am Montag“ stecken. Das ist wohl der Kern der Auseinandersetzung.

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  8. Liebe Antje: wieder mal sehr klug und inspirierend!
    Nur eine Frage hätt ich: Benutzen wir nicht auch dann Ausreden, wenn wir mit den Regeln übereinstimmen, aber nicht in der Lage sind / stark genug sind, sie einzuhalten?
    Ganz banales Beispiel: natürlich finde ich es richtig, meine Freundschaften zu pflegen. Aber dann arbeite ich so viel, dass ich lieber den freien Nachmittag für mich ganz alleine will. Anstatt das der Freundin zu sagen, finde ich eine Ausrede, um sie nicht zu verletzen.
    Eigentlich meine ich: Niemand sollte so viel arbeiten, dass für Freundinnen keine Kraft mehr ist. Trotzdem unterwerfe ich mich hier dem calivinistisch-kapitalistischen Arbeitsethos und finde da keine Ausrede.

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  9. @Frau Auge – Ja, schon, aber auch dann ist es vielleicht sinnvoller, die Regeln zu überdenken. Muss man natürlich im Einzelfall sehen, aber bei mir ist es schon so, dass ich z.B. für bestimmte Leute (etwa wenn ich verliebt bin) auch Zeit habe, wenn es die einzige freie Stunde im ganzen Monat ist. Und für andere nicht. Oder anders: Es hat schon vielleicht einen Grund, dass du diese Freundin nicht sehen willst, wer sagt, in welcher Frequenz man Leute sehen muss, usw. Und, klar, auch wieviel du arbeitest ist dann eine Regel, die hinterfragt werden muss. Wie gesagt, ich finde, man darf das nicht moralisch sehen. Dann sind Regeln nicht nur neu zu verhandeln, wenn ich sie falsch finde, sondern auch, wenn es mir oder einigen Leuten unmöglich ist, sich dran zu halten.

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  10. Genauso interessant, wenn nicht interessanter, als die Ausreden, die man benutzt, um sich den Regeln anderer zu entziehen, finde ich die Ausreden, die man benutzt, um die eigenen Regeln anderen, die diese Regeln partout nicht wollen, aufzuzwingen.

    Charakterlich geht übrigens der Wunsch, Regeln zu brechen, oft einher mit dem Wunsch, anderen die eigenen Regeln aufzuzwängen, so meine Beobachtung.

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  11. „Die Straßenverkehrsordnung sehen wir gerne als Regelsystem, an das wir uns halten, weil es einfach für ein Funktionieren des Verkehrs notwendig ist.“

    Ein Vorurteil, dessen man sich schnell entledigt, wenn man mal in dem chaotischen und trotzdem fast unfallfreien Verkehr einige ostasiatischer Länder unterwegs war.

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  12. Zitat von Andreas
    „Ein Vorurteil, dessen man sich schnell entledigt, wenn man mal in dem chaotischen und trotzdem fast unfallfreien Verkehr einige ostasiatischer Länder unterwegs war“

    Das bestätige ich. In Jaipur die Straße überqueren, ein Erlebnis. Achtsamkeit ersetzt Ampel. Und macht sehr nachdenklich über unser Miteinander.

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  13. @Martin: Das sind alles Alternativen _innerhalb_ des Kapitalismus, die Du da aufzählst. Als ersten Schritt sich von diesem zu lösen, sollte man deshalb verstehen, was diesen eigentlich ausmacht. Nämlich die getrennte Privatproduktion und ihre Vermittlung über den Markt. Das kratzen alle Deine Beispiele nicht wirklich an.

    @Antje: Das gilt auch für Deine Beispiele der Tätigkeit in der Anti-Hartz-IV- oder Grundeinkommensbewegung. Beides sind Alternativen _innerhalb_ des Kapitalismus. Nicht, dass das schlecht sein muss, man muss sich das nur zumindest ehrlich eingestehen. Manches davon kann vielleicht sogar auf Umwegen der Anfang zu mehr sein. Mit einer symbolischen Distanz zum Kapitalismus hat das alles aber nur wenig zu tun.

    Wichtiger als symbolische Unabhängigkeit, finde ich deshalb zum einen grundsätzliche und radikale Kritik des Bestehenden und zum anderen konkrete erste _materielle_ Schritte.

    Die symbolische Unabhängigkeit ist auch wichtig aber nicht so sehr auf dieser systemischen Ebene. Die ist wichtig um sich von einem komplett irren Alltag nicht wahnsinnig machen zu lassen um überhaupt fähig zu bleiben zu irgendwas.

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  14. @Benni – Im Prinzip d’accord. Ich habe aber meine Probleme mit der „grundsätzlichen und radikalen Kritik des Bestehenden“, die ich nicht so schätze wie du. Denn die Gefahr dabei ist, dass man nicht wirklich anderswo ist, sondern sich durch die Abgrenzung von Etwas eben doch wieder nur im Bezug auf dieses Etwas befindet. Wie es Ursula Le Guin schrieb (im Roman „Winterplanet“): „Gegen etwas opponieren, bedeutet, es zu erhalten. Man sagt hier: „Alle Wege führen nach Mishnory“. Doch wenn man Mishnory den Rücken kehrt und es verlässt, ist man ganz eindeutig immer noch auf dem Weg nach Mishnory. Gegen Vulgarität opponieren bedeutet unvermeidlich, selbst vulgär zu sein. Nein, man muss woanders hingehen; man muss sich ein anderes Ziel setzen. Dann beschreitet man einen anderen Weg.“ – Und das ist, was ich mit „symbolische Unabhängigkeit“ meine: Unabhängigkeit von einem symbolischen System ist etwas anderes als Gegnerschaft dazu. Und von dieser Haltung hängt es dann auch ab, welche konkreten materiellen Schritte man geht. Das Gegebene ist dann zwar noch als äußere Realität da, aber nicht mehr als symbolischer Bezugsrahmen.

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  15. @Antje: Diese Gefahr besteht nur, wenn die Kritik alleine steht – ohne die konkreten Schritte. Kritik um der selbst willen ist tatsächlich manchmal etwas schwierig. Es gibt diese Form von Kritik, die sich ausserhalb des bestehenden imaginiert (böse Zungen nennen das übrigens transzendent[e|ale?] Kritik – um den Bogen zu einer anderen Diskussion zu schlagen), die ist tatsächlich schwierig bis schädlich.

    Das entbindet uns aber nicht von der Notwendigkeit radikaler Kritik, sie muss halt nur immanent bleiben und das kann sie nur, wenn sie sich mit konkreten materiellen Schritten verbindet und nicht mit bloß symbolischen.

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  16. Es sind aber nicht alle Systeme rein symbolischer Natur – ich kann z.B. zwar dagegen sein, dass man sich an harten Körpern stößt oder gegen die Gravitation sein, aber nicht sinnigerweise mir es als Ziel setzen, dort zu leben, wo harte Körper nicht stoßen oder es keine Gravitation gibt.

    „Der Kapitalismus“ ist ebenfalls ein nicht-symbolisches System, genauso wie etwa die Ausprägung der Tierwelt nach männlich-weiblich inkl. der „Verhandlungspositionen von männlich versus weiblich“ usw. usf.

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  17. @Andreas: sagt Dir das Wort „Realabstraktion“ was? Darum gehts hier. Also um etwas, das zwar nicht real ist, wie die Gravitation, aber eben auch nicht bloß Symbol, sondern wirkmächtig, weil sich alle (mehr oder weniger gezwungenermaßen) danach richten.

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  18. @Benni – Ich weiß nicht genau, was du mit „immanenter“ Kritik meinst. Aber die Gegenüberstellung von „materiellen“ und „bloß symbolischen“ Schritten überzeugt mich auch nicht. Meiner Erfahrung nach ist eine bloß symbolische Veränderung gar nicht möglich, denn wenn ich etwas anders denke und andere Maßstäbe finde, verändert sich automatisch und zwangsläufig auch mein Handeln (und wenn nicht, habe ich offenbar noch nicht zu Ende gedacht). Jedenfalls ist der Zusammenhang nicht, dass ich erst etwas „nur denke“ und anschließend das Gedachte dann im materiellen Leben „anwende“, sondern das Denken betrifft immer das Materielle, das Materielle ist die Grundlage des Denkens, und das Gedachte wirkt unmittelbar auf das Materielle zurück, wobei ich (mit meinem Sprechen und Handeln) der „Durchgang“ dafür bin, dass Gedanken in die Welt kommen, also die Realität verändern. Und deshalb ist es imho durchaus problematisch, wenn das Denken sich vorwiegend „gegen“ etwas richtet, aus den oben genannten Gründen und weil es eben auch Auswirkungen auf mich hat und das was ich tue. Ich bin überzeugt, wenn schlechtes Handeln rauskommt, war auch schon das Denken falsch und nicht nur falsch „angewendet“.

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  19. @Benni:

    Ja, nun, wenn Du denkst, dass Dinge wie „Kapitalismus“ „wirkmächtig“ sind, weil sich alle „mehr oder weniger gezwungenermaßen“ danach richten, dann würde ich sagen, das sind die falschen Begriffe – wahrscheinlich siehst Du z.B. Planwirtschaft oder irgendetwas anderes als Gegensatz zum Kapitalismus, ich würde sagen, Planwirtschaft ist ein ganz hervorragende Beispiel für denselben – nämlich für die Tatsache, dass die Soziologie des Wirtschaftens als exakte Wissenschaft gerade eben zu Tage bringt, dass deren Gesetze die kapitalistischen Gesetze sind.

    Kapitalismus – das ist sozusagen das Gravitationsgesetz des Wirtschaftens. Man kann Maschinen bauen, die vereinbar mit diesem Gesetz sind, wie z.B. eine Planwirtschaft oder eine Marktwirtschaft und einige Maschinen funktionieren besser als andere, wobei es einsehbar ist, dass eine funktionierende Marktwirtschaft eine der Maschinen ist, die einen definierbaren optimalen Wirkungsgrad haben.

    Man kann aber nicht „nicht kapitalistisch“ sein – wer das glaubt, hat in meinen Augen ein paar Dinge nicht verstanden.

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  20. @Andreas: Nein, Planwirtschaft ist nicht Gegensatz zum Kapitalismus, sondern seine Bedingung. Es ist nur eine Frage wie groß die Plan-Einheiten sind. Mal ist es die Ich-AG, eine Genossenschaft, dann eine Firma, ein Weltkonzern oder eben ein irrealsozialistischer Staat. Alle betreiben sie Planwirtschaft am kapitalistischen Markt.
    Das Gegenteil zum Kapitalismus ist die Commons basierte Peer Produktion. Siehe http://www.keimform.de/2011/spw/

    @Antje: Immanennte Kritik ist eine, die sich ihrer eigenen Verortung _in_ der Welt bewusst ist und sich nicht auf einen äußeren Standpunkt imaginiert. Ansonsten stimme ich Dir zu, Denken und Welt beeinflussen sich gegenseitig. Ich hatte Dich halt so verstanden, dass Du meinst, _erst_ bräuchte es symbolische Unabhängigkeit. Für mich gibt es kein Denken, dass _vorher_ ist und _dann_ handelt man danach. Das ist alles immer in gegenseitiger Beeinflussung. Darauf können wir uns ja vielleicht einigen? Sonst betonst Du das ja z.B. auch immer, wenn Du sagst man soll da sein Engagement rein richten, wo für einen selbst „Strom drauf ist“. Das ist für mich noch keine „symbolische Unabhängigkeit“. Die kommt später. Und vorher passiert halt schon eine ganze Menge.

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  21. @Benni:
    Ich würde noch ein paar mehr Unterschiede zwischen Markt – und Planwirtschaft sehen, aber geschenkt. Ob „Commons basierte Peer Production“ tatsächlich ein anderes Paradigma ist – na, ich weiss nicht so recht, aber man muss es ja auch nicht entscheiden:

    Bzgl. der Softwareproduktion, die immer als Paradebeispiel herhalten muss, sieht es mittlerweile eigentlich so aus, dass die von den Angestelltenkontingents großer Firmen getragen wird, die mit dieser Software strategische Interessen oder eben Gewinnabsichten verfolgen. Die unbezahlte Begeisterung einzelner, die sich von ihrem Freizeithobby nicht ernähren können, wird da gerne mitgenommen, zum Ausgleich gibt es Belohnung : man darf sich als Insider oder Geek fühlen etc., manche erklimmen geradezu den Rang eines Popstars … immerhin sind diese Produkte manchmal näher an dem, was sich der Benutzer derselben wünscht, manche aber auch ziemlich abstrus.

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  22. @Benni:

    Übrigens stellen viele Benutzer solcher „Peer Products“ fest, dass umsonst keineswegs dasselbe ist wie kostenlos 😉 …

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