„Überall, wo es nach Aufruhr und Pulver riecht, müssen wir mit dabei sein. … Jede Volksbewegung birgt die Keime eines revolutionären Sozialismus in sich: Wir müssen also an ihr teilnehmen, um sie weiterzuführen. Denn das Volk ist die lebendige Revolution, und wir müssen mit ihm kämpfen und sterben.“ (S. 24)
Dieser Aufruf des italienischen Anarchisten Carlo Cafiero aus dem Jahr 1880 liest sich heute, in einer Welt, in der Flüchtlingsunterkünfte brennen, Attentate auf Abtreibungskliniken verübt werden und liberale Autorinnen Morddrohungen bekommen, ziemlich beängstigend. Der Terror, so wissen wir inzwischen, ist nicht nur eine linke und freiheitliche Angelegenheit, er ist vielleicht fast mehr noch eine rechte und faschistoide Angelegenheit. Und das „Volk“ und seine Wünsche sind ein wenig verlässlicher Indikator für die Richtung, die wir einschlagen müssen, um zu mehr Freiheit, mehr Toleranz, mehr gutem Leben für alle zu kommen.
Umso interessanter ist es, die in diesem Buch zusammengestellten Originaltexte derer zu lesen, die in den Jahrzehnten vor und nach 1900 in Europa die „Propaganda der Tat“ betrieben und als politische Strategie entwickelten. Mit großer Sorgfalt hat Philippe Kellermann diese Quellen ausgewählt und ausführlich und kenntnisreich mit Anmerkungen versehen, sodass die jeweiligen Kontexte und Hintergründe auch dann nachvollziehbar sind, wenn man sich mit der Geschichte Europas vor dem Ersten Weltkrieg nicht näher auskennt.
Es fällt vor allem auf, wie aktuell die Argumentationen heute noch sind, wo Terroranschläge ja immer noch (oder erneut) die politischen Debatten prägen. Deutlich wird jedenfalls, wie eng das Phänomen „Bomben und Attentate“ mit der europäischen politischen Kultur verknüpft ist, auch wenn heute viele so tun, als würden Bombenanschläge und Attentate von außen, von Fremden, Barbaren, Muslimen in unser für sich genommen doch so zivilisiertes Europa hereingebracht.
Nein, die „Propaganda durch die Tat“, also die Idee, dass „die Massen“ nicht durch politische Texte und Reden, sondern nur durch Ereignisse erreicht werden könnten, ist ganz eng verknüpft mit der Entstehung der westlichen Formen von Parteiendemokratie. Ende des 19. Jahrhunderts war nämlich die Konsolidierung des republikanischen politischen Systems soweit fortgeschritten, dass seine Charakteristik deutlich wurde: Verfahrensweisen, die den legitimen politischen Diskurs auf die Institutionen von Presse, Parteien und Gewerkschaften beschränken (geregelter Streik ist erlaubt, Generalstreik nicht) und das als „demokratisch“ definieren, obgleich die allermeisten Menschen mit ihren Wünschen und Bedürfnissen in diesem Rahmen kein Gehör finden und aufgrund vielfältiger Umstände und Ausschlüsse auch nicht finden können.
Das Attentat, der Bombenanschlag, ist – das wird in diesen Texten deutlich – in erster Linie eine Reaktion darauf. Es ist eine mögliche Reaktion derjenigen, die sich nicht damit abfinden wollen, dass dieses politische System sich in Form der Sozialdemokratie nun auch die Arbeiterbewegung einverleibt hat und es also keinen anderen legitimen Ort mehr geben soll, keine Möglichkeit für grundsätzlichen Protest oder für Aktionen, die außerhalb dieses parlamentarisch-demokratischen Grundkonsens liegen. Während eben gleichzeitig von Seiten der Regierenden Interessenspolitik für Reiche und Privilegierte nicht mehr nur betrieben wird (wie im Feudalismus oder Absolutismus), sondern jetzt als „demokratisch“ gilt. Was den Benachteiligten zumutet, ihre eigene Benachteiligung als legitimes Ergebnis politischer Prozesse hinzunehmen.
Das soll die Logik der Gewalt nicht entschuldigen, aber verstehbar machen. Interessant zu lesen sind auch die Texte von prominenten Anarchist_innen wie Emma Goldman oder Gustav Landauer, die sich genötigt sahen, eine Position zu den oft ja von Einzelpersonen begangenen Attentaten zu beziehen. Sich also öffentlich von ihnen zu distanzieren oder aber die Verantwortung dafür im Namen „des Anarchismus“ zu übernehmen, ganz genauso wie heute Muslim_innen zu einer Standortbeziehung genötigt werden und das Verhältnis „des Islam“ zu den Attentaten debattiert wird.
Und damals wie heute dient dieser Diskurs dazu, das eigentlich der terroristischen Gewalt zugrunde liegende Problem zu ignorieren und zu verschleiern: nämlich die Unfähigkeit der repräsentativen Demokratie, eine wirkliche Beteiligung aller Menschen zu organisieren, obwohl sie doch genau das behauptet, sowie die Anfälligkeit ihrer Institutionen dafür, von reichen und mächtigen Gruppen vor den eigenen Karren gespannt zu werden. Doch damit muss man sich ja nicht beschäftigen, wenn das Problem schlicht „der Anarchismus“ bzw. „der Islam“ heißt.
Jedenfalls ist das ein wichtiges Quellenbuch, das eben, wenn man ein bisschen Transfer leistet, nicht nur von historischer Bedeutung ist, sondern ziemlich aktuell.
Philippe Kellermann (Hg): Propaganda der Tat. Standpunkte und Debatten. Reihe „Klassiker der Sozialrevolte“, Bd. 26, Unrast-Verlag Münster 2016, 288 Seiten, 16 Euro.
An der Unfähigkeit der repräsentativen Demokratie, eine wirkliche Beteiligung aller Menschen zu organisieren, ist ja bereits die Piraten-Partei gescheitert. Im Digitalzeitalter sollte jedoch bei noch zu garantierender „Hacker-Sicherheit“ eine direktere Demokratie (Referenden per mouse click) möglich sein.
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Aktionen und Praxis sind ja Ausdrucksformen des Menschen. Schreibt Kellermann oder jemand anderes darüber, wie „männlich“ die soziale Handlung „Terrorismus“ ist? Und auch, ob es eine Theorie des Terrorismus gibt, jenseits des Bekanntmachens oder Durchsetzens subjektiver-partikularistischer Ansprüche und Ansätze?
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@kosinsky – Dieser sehr interessante Aspekt kommt in dem Buch nicht vor, da es ja eine Sammlung historischer Quellentexte ist. Aber es wäre mal eine interessante Fragestellung, inwiefern Terrorismus mit „Männlichkeit“ konnotiert ist. Meiner eher gefühlter als belegbarer Eindruck ist, dass der Frauenanteil unter „Bombenlegern und Attentätern“ relativ hoch ist im Vergleich mit so manchen anderen rein männlich geprägten Formen des politischen Handelns. Schon im 19. Jahrhundert gab es ja Attentäterinnen (v.a. in Russland), und bei der RAF waren sie auch einige, und auch beim IS sind Frauen aktiv. Immer sehr in der Minderheit, aber eben nicht so wenige, wie man meinen könnte, wenn man „Gewalt“ mit „Männlichkeit“ assoziiert. Meiner Vermutung nach hängt das damit zusammen, dass es unter Frauen ein relativ großes Bedürfnis nach „existenziellem Einsatz“ der ganzen Person gibt, also der völligen kompromisslosen Hingabe an eine Sache. Also vielleicht steht ein ähnlicher Wunsch dahinter wie beim Wunsch, in ein Kloster zu gehen, oder alles aufzugeben um einem geliebten Menschen in den fernten Winkel der Welt zu folgen…
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„das eigentlich der terroristischen Gewalt zugrunde liegende Problem zu ignorieren und zu verschleiern: nämlich die Unfähigkeit der repräsentativen Demokratie, eine wirkliche Beteiligung aller Menschen zu organisieren“
ist das eigentliche Problem nicht eher gerade der Unwille, sich in einem demokratischen System zu engagieren? Rechtsextremismus, Linksextremismus und Islamismus kommen ja alle aus einer antiaufklärerischen Richtung. Alle lehnen das Individuum als geschichtliches und politisches Subjekt ab und fassen das Individuum nur als Teil/Diener des eigentlichen Subjektes auf, nämlich des Volkes oder der Klasse. Im Islamismus ist dann gleich Gott Souverän im Sinne der Bekämpfung jeder menschlichen Herrschaft (mit Betonung auf menschlich).
Allen gemeinsam ist, dass diese Größe feststeht und als unverrückbar gesetzt gilt, somit nicht für den Einzelnen hinterfragbar ist. Diese Kampfansage an das „sapere aude“ ist die Grundlage dieser Ideologien. Mit diesen Leuten wird keine Demokratie in welcher Form auch immer zu machen sein.
Dann spielt da denke ich noch der Glaube an das Recht des Stärkeren rein.
Bezüglich der weiblichen Attentäterinnen habe ich auch eher trostlose Vermutungen: Die Islamistinnen sind oft sehr sehr jung und die Sprengsätze werden zuweilen auch ferngezündet. Am Schalter sitzt – man ahnt es – ein Mann, der zu ihr in einem einschlägigen patriarchalem Verhältnis steht. (In Einzelfällen habe ich auch von Drogen oder sexueller Gewalt gelesen.) Die rein „praktischen“ Vorteile einer Täterin sollten dabei auch nicht vergessen werden.
Bei der RAF mag das anders ausgesehen haben, aber die waren ja auch in irgendeiner Form eigenständig politisch denkend (wenn auch irrend). Angesichts oben genannter Umstände würde ich das nicht unbedingt für die Islamistinnen annehmen. Überhaupt scheint mir der Ansatz dieses Werkes sehr über verschiedene Zeiten und Phänomenbereiche hinüberzugreifen, was ich methodisch für fragwürdig halte.
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@Wilhelm – Was den Linksextremismus jedenfalls in seinen Ursprüngen berifft, so gilt das nicht, denn gerade im Anarchismus ging es eher um die individuelle Freiheit als um ein Kollektiv. Richtig ist allerdings, dass das „Recht des Stärkeren“ bei allen mitspielt. Und natürlich stimmt, dass ich hier (weniger das Buch selber) Zeiten und Phänomene übergreifend analysieren, aber ja nicht, um sie gleichzusetzen, sondern um parallele Punkte und Ähnlichkeiten aufzuzeigen. Das finde ich methodisch nicht fragwürdig. Was den „Unwillen“ betrifft, sich zu engagieren – ich glaube schon, dass da ein gewisser Frust darüber dabei ist, dass das Engagement nicht unbedingt etwas bringt, sondern eher Energie bündelt. In den politischen Institutionen sind eben auch viele Motive unterwegs, die nichts mit Politik zu tun haben (also mit der Suche nach einem guten Leben und Regeln dafür), sondern mit Machtwille, partikularen Interessen, Eitelkeit usw. Und es ist dort ein bestimmter Habitus verbreitet (männlich, bürgerlich, weiß, akademisch gebildet), der natürlich andere Menschen nach wie vor faktisch, wenn auch nicht mehr formal ausschließt oder ihnen eine Teilnahme zumindest erschwert. Sonst wären die Parlamente ja nicht so homogen zusammengesetzt, sondern würden die demografische Vielfalt der Bevölkerung widerspiegeln.
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A.S.: „Sonst wären die Parlamente ja nicht so homogen zusammengesetzt, sondern würden die demografische Vielfalt der Bevölkerung widerspiegeln.“
Was aber ja auch an einem für mich verständlichen Desinteresse am speziellen sozialen Spiel der formalen Positions- und Ämter-Politik liegen kann.
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A. S.: „Meiner Vermutung nach hängt das damit zusammen, dass es unter Frauen ein relativ großes Bedürfnis nach „existenziellem Einsatz“ der ganzen Person gibt, also der völligen kompromisslosen Hingabe an eine Sache. Also vielleicht steht ein ähnlicher Wunsch dahinter wie beim Wunsch, in ein Kloster zu gehen, oder alles aufzugeben um einem geliebten Menschen in den fernten Winkel der Welt zu folgen…“
„Romantischen“, „einseitig-intensiven“ etc. Idealismus würde ich in den sozialen Erzählungen eher bei Männern verortet einschätzen.
Vielleicht ist die eher weibliche Romantik (statistisch oder als sozial-konstruktives Artefakt) ganzheitlicher, weniger konkretisiert, Hingabe der Hingabe wegen.
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