Postkoloniale Politikwissenschaft oder: Was ich im Studium nicht gelernt habe.

Als ich in den späten 1980ern, frühen 1990ern Politikwissenschaft studierte, war darin von „Postkolonialismus“ noch keine Spur zu finden. Deshalb habe ich mich über einen neuen Sammelband gefreut, der die verschiedenen Auswirkungen und Einwirkungen von „Postkolonialismus“ auf das Fach umreißt.

Bei Sammelbänden ist es immer schwierig, Rezensionen zu schreiben, weil die einzelnen Beiträge natürlich sehr unterschiedlich sind. Daher notiere ich hier nur einige Stichpunkte, in denen ich festhalte, was für mich neu und überlegenswert war.

postkolDie mehrfachen Verweise auf die Haitianische Revolution von 1790 und die damals formulierte Verfassung, die die neben der amerikanischen und französischen die dritte Erklärung in diesen Jahren war, die versucht hat, universale Menschenrechte zu formulieren. Nur im Unterschied zu diesen beiden anderen unter Einbeziehung der Freiheit von ehemals Versklavten. Es ist tatsächlich der Hammer: Im Politikstudium habe ich von der Haitianischen Revolution NICHTS erfahren, während die amerikanische und französische natürlich rauf und runter genudelt wurden.

Etwas klarer geworden ist mir das antagonistische Verhältnis zwischen Postcolonial und After-Shoah-Studies, also letztlich die Frage nach der Singularität des Holocaust und wie sie sich zu den Völkermorden und Versklavungen der Kolonialgewalt verhält. Lässt sich da die Rede vom Holocaust als „Zivilisationsbruch“ noch aufrecht erhalten? Oder muss man nicht vielmehr sagen, dass der Holocaust diesen westlichen Weg der Versklavung und Vernichtung als „anderer“ markierter Menschengruppen, der eben schon lange vorher begann und dem westlichen Freiheitsdenken inhärent ist, lediglich auf die Spitze getrieben hat?

Interessant fand ich die Neuinterpretation von Frantz Fanon, der mir im Studium als Theoretiker der Gewalt natürlich begegnet ist, aber ich habe nie realisiert, dass er aus einer Schwarzen Perspektive schreibt. Ich meine, ich wusste zwar irgendwie, welche Hautfarbe er hat, aber ich gab dem keine Bedeutung.

Hiflreich auch die Überlegungen zur Frage, wie postkoloniale Theorie helfen kann, den gegenwärtigen „Islamdiskurs“ zu verstehen und vielleicht in fruchtbarere Dimensionen zu geleiten: Dies übrigens auch ein Beispiel für die Fähigkeit zur Selbstkritik, denn hier wird die Frage gestellt, inwiefern eine berechtigte postkoloniale Kritik an der Stereotypisierung „des Islam“ andererseits nicht auch als Legitimation patriarchaler Gewalt herhalten kann, wenn sie diese nicht gleichzeitig anprangert.

Ich könnte hier jetzt noch lange weitermachen, es gibt interessante Einzelstudien, zum Beispiel eine postkoloniale Analyse der Aufarbeitung des NSU-Komplexes, Studien zu Indien, Afghanistan, Bolivien, Ruanda, Ghana, und so weiter.

Sehr aufgefallen ist mir in allen Beiträgen die enge Verbindung zwischen feministischer und postkolonialer Analyse, die ja auch auf der Hand liegt, weil es beides Mal darum geht, die Sich-zur-Norm-Setzung des weißen Mannes zu durchbrechen und sich zwischen Egalität und Abgrenzung eine eigene Subjektperspektive zu erobern. Es ist deshalb auch kein Wunder, dass die postkoloniale Politikwissenschaft weiblich dominiert ist: Unter den Beitragenden des Sammelbandes sind 14 Frauen (davon 6 of Color) und 6 Männer (davon 4 of Color) – jedenfalls nach einer schnellen auf den Namen basierten Recherche, im Einzelfall kann ich mich bei der Einschätzung irren, sicher aber nicht im generellen Verhältnis. Diese Verbindung hätte ich mir noch ein bisschen expliziter herausgearbeitet gewünscht.

Ansonsten ist das Ganze natürlich ein akademisches Buch, nichts, was man so nebenbei mal vorm Einschlafen liest, aber wirklich empfehlenswert, wenn man sich mal einen Einstieg in dieses Thema verschaffen möchte. Für Politikwissenschaftler_innen, die sich mit Postkolonialismus nicht besonders gut auskennen, ist es aus meiner Sicht ein Muss.

Aram Ziai (Hg): Postkoloniale Politikwissenschaft. Theoretische und empirische Zugänge. Transcript, Bielefeld 2016, 401 Seiten, 29,99 Euro.

 

Ich bin Journalistin und Politologin, Jahrgang 1964, und lebe in Frankfurt am Main.

6 Gedanken zu “Postkoloniale Politikwissenschaft oder: Was ich im Studium nicht gelernt habe.

  1. ist zwar nur ein Nebenaspekt, aber da vom westlichen Weg bzw. westlichen Freiheitsgedanken die Rede war: so etwas wie „westliches Freiheitsdenken“ gibt es nicht. Also, das Freiheitsdenken gibt es, aber es ist nicht westlich. Den Gedanken der Freiheit des Individuums, des eigenen Verstandes, und des „behandle andere, wie du selbst behandelt werden möchtest“ gab es in Ansätzen immer wieder in der Geschichte – im antiken Griechenland, in der arabischen Welt im Mittelalter oder im Konfuzianismus, um nur einige Beispiele zu nennen.

    Es hat sich halt ergeben, dass diese Ideen in unserer Zeit im Westen aufgetaucht sind und sich stark entfaltet haben, aber das ist ein geschichtlicher und geographischer Zufall. Eigentlich sind es universelle Ideen, die immer wieder auftauchen.

    Genauso wie Sklaverei und Imperialismus übrigens ein universelles Phänomen ist, das sich ebenfalls durch die gesamte Geschichte zieht. Auch hier war der arabische Raum im Mittelalter und die europäische Antike stark präsent.

    Allerdings nimmt das ab, je konsequenter die „westlichen“ Ideen der Freiheit verstanden werden und je stärker die Religiosität zurückgeht. Die Sklavenhalter in den USA, wie auch die Philosophen Kant etc. waren ja alle gläubige Christen und das Christentum war eine wichtige Legitimation von Sklaverei und Imperialismus. Daneben gab es aber auch deutlich radikalere Positionen der Aufklärung, die sich heute durchgesetzt haben, auch wenn ihre Protagonisten nicht so namhaft sind.

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  2. @Wilhelm – also ich finde nicht, dass die westlichen Freiheitsideen universell sind, zumindest waren sie es früher nicht, denn sie galten explizit nicht für Frauen und „unzivilisierte Wilde“. Das jetzt nur auf den christlichen Einfluss zurückzuführen, halte ich für gewagt. Die Beschränkung der Freiheitsideale auf bestimmte Menschen (freie Männer) war dabei aber nicht nur ein Zufall, sondern hängt direkt mit der Art, wie das westliche Verständnis von Freiheit konzipiert wurde zusammen: Freiheit als Autonomie, das Recht auf Selbstgesetzgebung und die Abwesenheit von Zwang und Verpflichtungen. Da dieses Modell nicht mit der Tatsache zusammenpasst, dass Menschen nun einmal nicht autonom und frei von Zwang und Verpflichtungen sind (weil sie körperliche und bedürftige Wesen sind), brauchte dieses Verständnis von Freiheit die Gegenseite von unfreien Menschen, die den Freien Männern diese Verpflichtungen abnehmen, also Frauen und Sklav_innen.

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  3. Mit universell meine ich zunächst, dass diese Freiheitsideen nicht speziell westlich sind, sondern auch in anderen Teilen der Welt und zu anderen Zeiten unabhängig voneinander in Ansätzen auftauchten. Das Streben nach Freiheit ist eine menschliche Konstante, die punktuell immer wieder mal aufgetaucht ist.

    Um Sklaverei zu erklären, bedarf es aber nicht des Westens und des Freiheitsgedankens. Sklaven gab es über Jahrtausende immer und überall. Den Grund liegt darin, dass die meisten Arbeiten unangenehm sind und der Mensch ist so gepolt, dass er Unangenehmes vermeiden möchte. Daher die Sklaverei. Und zwar ohne dass es hinterfragt wurde. Das war im Westen tatsächlich anders. Es gab dort immer Kritiker der Sklaverei, die den Widerspruch zum Freiheitsgedanken aller erkannt haben. In anderen Epochen war es völlig normal, besiegte Feinde zu versklaven oder öffentlich hinzurichten.

    Dass da eigene Freiheit auf Kosten der Freiheit anderer ausgeübt wird, mag sein, aber andererseits ist das Streben nach eigener Freiheit auch Voraussetzung, um das Unrecht in der Unfreiheit anderer zu erkennen – zum Beispiel Sklaverei. Erst wenn ich selber ein Konzept von Freiheit habe, kann ich die Unfreiheit anderer erkennen und erst wenn ich selber Freiheit verlange oder genieße, kann ich Empathie für das Freiheitsstreben anderer entwickeln. Mal zugespitzt: wenn du das „westliche Freiheitsdenken“ ohnehin ablehnst (?), was ist dann überhaupt das Problem an Sklaverei? Ohne Recht auf Freiheit gibt es auch kein Unrecht durch Unfreiheit.

    Mit der Erkenntnis, dass die eigene Freiheit nicht auf Kosten anderer ausgelebt werden kann, kann man dann Alternativen suchen, um die Zwänge des Lebens zu meistern. Zum Beispiel durch h Handel oder technischen Fortschritt. Fakt ist, es gibt in Europa keine Sklaverei und wir haben die Abhängigkeiten von körperlichen Bedürfnissen eingeengt wie selten in der Geschichte. Es gibt Waschmaschinen, Nahrung im Überfluss und leistungsfähige Kloputzmittel. Die meiste Zeit unseres Lebens sind wir doch schon sehr autonom, was Lebensgestaltung, Berufswahl usw. angeht, und das sind doch eher die entscheidenden Punkte.

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  4. Nach langem Mitlesen wage ich mich hier nun auch einmal an einen Post.

    Geht es nun darum, ob der westliche Freiheitsbegriff universale Gültigkeit beansprucht oder ob er in dem Sinne universal ist, dass er unzusammenhängend in verschiedenen historischen Kontexten auftaucht? Ersteres würde ich durchaus bejahen, allerdings mit der Einschränkung, dass er nicht universal für alle Menschen gelten wollte, sondern für alle Gesellschaften (in denen es aber eben auch immer Unfreie geben sollte).

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  5. @Marsmensch – ich würde so fragen: was am „westlichen“ Freiheitsbegriff ist universal – und was nicht? Das lässt sich am besten in vergleichenden Diskussionen mit dem Freiheitsbegriff anderer Kulturen herausfinden.

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  6. Als Fachfremder ist das Buch nicht ganz ohne. Wenn man nicht in den fachspezifischen Diskussionen drinsteckt, ist es schwer zu verstehen warum bestimmte Frage und Ansätze relevant sind. Ein Problem mit der Politikwissenschaft im allgemeinen ist, dass mir die Quellenrückbindung doch etwas schwach vorkommt (so etwa Grovoguis Beitrag zur Haitianischen Revolution).

    Aus ganzem Herzen zustimmen kann ich der Kritik an der Vorstellung von „neuen Kriegen“ und „gescheiterten Staaten“. Das hat mich schon bei der populären Rezeption von Münkler&Co aufgeregt.
    Das gleiche gilt für die eurozentrische liberale Modernisierungserzählung. Allerdings kann es nicht bei der Kritik am Eurozentrismus verbleiben, man muss im nächsten Schritt dann auch neue Narrative anbieten. Das kann natürlich nicht der Anspruch eines solchen Sammelbandes sein, es hat mich aber schon gewundert, dass mit keinem Wort die Globalgeschichte erwähnt wurde. In deren Rahmen sind in den letzten Jahren große Gesamtdarstellungen entstanden, die z.B die Haitianische Revolution einbeziehen.
    Wenig plausibel finde ich die im Text vorausgesetzte, aber nicht diskutierte Vorstellung vom Globalen Süden/Norden. Diese erscheint geradezu als Reproduktion des Eurozentrismus.

    Wie von mehreren Autoren erwähnt wurde ist Wissensbildung nie apolitisch. Da sich der postkoloniale Wissenschaftsansatz doch deutlich mit bestimmten Aktivismen verbindet, beeinflusst die Verwendung postkolonialer Begriffe als Kampfbegriffe meine Haltung ihnen gegenüber. So mag die Erweiterung des Gewaltbegriffs wie von Brunner dargestellt interessante neue Erkenntnisse zu liefern. Mir aber ist die „strukturelle Gewalt“ bisher hauptsächlich als Rechtfertigung für „Gegengewalt“ untergekommen. Diese war komischerweise dann immer ganz klassisch.

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