Pietismus und Revolution

Berühmtes pietistisches Poster: Links der breite Weg des Vergnügens, des Luxus und der Verschwendung, der uns in die Hölle führt, rechts der schmale und steile Weg, an dessen Ende uns paradiesische Zustände erwarten.

Als aufrechte Linke fühlt man sich ja von fundamentalistischer Engstirnigkeit gerne ganz weit weg. Was haben wir, die aufgeklärten und säkularen Menschen, mit diesen Frömmler_innen zu tun?

Die Distanz ist womöglich weniger groß als gefühlt. In ihrem Buch „Lebenslänglich besser“ untersucht Dorothee Markert den Einfluss des Pietismus auf die politische Kultur in Deutschland. Dieser Einfluss sei sehr viel größer gewesen als wir heute wahrhaben wollen, so ihre These. Damit widerspricht sie einer gängigen Vorstellung, wonach unsere heutige (und vor allem die linke) Kultur sich vor allem aus der Aufklärung herleite.

Der Pietismus war eine sehr einflussreiche Strömung im deutschen Protestantismus, die im 17. Jahrhundert entstand und vor allem im 18. und 19. Jahrhundert kulturell vorherrschend war. Heute hat er eher marginale Bedeutung, lediglich die „evangelikalen“ (und in der Regel sehr konservativen) christlichen Gruppierungen leiten sich noch aus dieser Tradition her.

Aber ist damit der Pietismus nur ein historisches Phänomen? Markert zeigt, dass der Einfuss dieser Weltanschauung weit über die eigene „Szene“ hinausreichte. Speziell im Sozialismus sind viele Lebenseinstellungen und Ansichten aufgenommen worden, die ihren Ursprung im deutschen Pietismus haben: zum Beispiel, dass man nicht verschwenderisch oder faul sein darf, dass man sich unermüdlich dafür einsetzen muss, die Welt zu verbessern, dass persönliche Befindlichkeiten (kleinbürgerliche Schwäche) hinten anzustehen haben. Solche Parallelen zeichnet Markert so überzeugend nach, dass es wirklich merkwürdig ist, dass sie bisher kaum untersucht worden sind.

Markerts Ausgangspunkt sind neben historischen Quellen Interviews, die sie mit Frauen und Männern geführt hat, die in pietistischen Familien aufgewachsen sind, sich aber überwiegend später davon distanziert haben. Vieles von dem, was sie erzählen, erinnerte sie an ihre eigene Zeit in der Studentenbewegung – vom großen moralischen Druck, der dort ausgeübt wurde, über die Vorstellung von „Rechtgläubigkeit“ bis hin zum Zwang zu unscheinbarer, pragmatischer und „züchtiger“ Kleidung.

Eine weitere Parallele zwischen Pietismus und Revolution ist der schmale Grat, der aufrechtes Engagement für „die Sache“ vom Fundamentalismus scheidet. Dabei geht es Markert nicht darum, die pietistische Haltung pauschal zu kritisieren, sondern sie arbeitet sehr gut heraus, wie eng hier die positiven wie die negativen Aspekte beieinander liegen – genau wie in der radikalen Linken auch.

Diese „Doppelsichtigkeit“ (ein Ausdruck, den sie bei Beauvoir entlehnt) spiegelt sich auch in den Interviews, in denen klar wird, dass die Befragten bei aller Kritik an der Enge der pietistischen Weltanschauung auch positive Aspekte darin finden: Etwa dass der Pietismus auch eine soziale Bewegung war, die Egoismus nicht duldete und die Anliegen der Allgemeinheit über die eigenen Wünsche stellte. Das heißt, die Angelegenheit ist nicht einfach gut oder schlecht, sondern heikel. Unser „verdrängtes pietistisches Erbe“, wie es im Untertitel heißt, ans Tageslicht zu holen, ist jedenfalls sinnvoll, auch im Hinblick auf viele gegenwärtige Debatten.

Dorothee Markert: Lebenslänglich besser. Unser verdrängtes pietistisches Erbe. BOD 2010, 216 Seiten, 16,90 Euro.

Weitere Rezensionen des Buches von Juliane Brumberg und von Jutta Piveckova.

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Ich bin Journalistin und Politologin, Jahrgang 1964, und lebe in Frankfurt am Main.

4 Gedanken zu “Pietismus und Revolution

  1. Also ich meine das hier wirklich und ehrlich nicht „gegen“ Linke Haltungen oder gar gegen „aufrechte“ und noch weniger gegen „aufrechte linke“ Haltungen, aber „aufrechte xy“-Haltungen habe ich schon immer (sozusagen engstirnig ;-)) in der gefährlichen Nähe von engstirnigen Fundamentalismus angesehen. Deswegen musste ich bei Deinem Eingangssatz gleich etwas schmunzeln. Natürlich, weil ich mich da selbst „ganz weit weg“ von vermute. *zwinkert selbstironisch*

    Diese Aufrechte Haltungen haben in Deutschland eine gewisse Tradition und man könnte fast vermuten, das es auch einen Grund geben könnte, warum gerade in unseren Breiten eben auch der Pietismus so Fuß fassen konnte. Es also „VorPietismus-Gründe“ gibt. Die ich allerdings mangels Sozialgeschichtskenntnise nicht kenne. Nur so eine Haltung entsteht ja auch nicht über Nacht, nur weil ein Mann einen Zettel an eine Tür nagelte.

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