Eigentlich mag ich keine Kriegsgeschichten. Egal ob Filme oder Bücher, sie sind mir entweder langweilig oder zu pathetisch und sowieso zu männerlastig. Wobei ich auch keinen wirklichen Unterschied zwischen Kriegsgeschichten und Antikriegsgeschichten erkennen kann. Der tausend-Seiten-Wälzer „Menschen im Krieg“ stand deshalb ein paar Jahre ungelesen bei mir im Regal. Ich hatte ihn irgendwann günstig bei Buchticket eingetauscht, und auch nur deshalb, weil er von Marge Piercy ist.
Piercy hat Anfang der 1970er Jahre das grandiose Buch „Die Frau am Abgrund der Zeit“ geschrieben, ein Meilenstein in der Abteilung Science Fiction (eins meiner Lieblingsthemen). Danach las ich von ihr „Er, Sie, Es“, ebenfalls ein SciFi, in dem es um die Frage von Beziehungen zwischen menschlichen und künstlichen Lebensformen geht. Und dann schrieb sie auch noch „Sex Wars“, einen Roman, in dem es um die Debatten über freie Liebe geht, die Victoria Woodhull in den USA im 19. Jahrhundert ausgelöst hat. Woodhull ist aber nun eine meiner historischen Lieblingsfrauen, ich habe ihre deutsche Biografie geschrieben, und es hat mich sehr gefreut, wie bis in die Details korrekt Piercy die damalige Geschichte nacherzählt hat. Also: Wenn überhaupt jemals ein Kriegsroman, dann von dieser Autorin. Ich nahm den Wälzer mit in den Urlaub und wurde nicht enttäuscht.
Piercy zeichnet den Zweiten Weltkrieg aus der Perspektive verschiedener Personen nach: Zum Beispiel Jacqueline, eine aufgeklärte Französin, die sich erst durch die Verfolgung als Jüdin identifiziert und Résistance-Kämpferin wird. Ihre jüngere Schwester Naomi, die als Zwölfjährige alleine in die USA geschickt wird, damit sie in Sicherheit ist. Jack, der eigentlich Maler ist, aber als amerikanischer Spion nach Frankreich geht. Seine Schwester Bernice, deren Leidenschaft das Fliegen ist, und für die der Krieg die berufliche Chance ihres Lebens bedeutet. Murray, der als Soldat im Pazifik kämpfen muss. Louise, eine amerikanische Bestsellerautorin, die Propagandaberaterin wird und schließlich als Kriegsberichterstatterin nach Europa geht. Ihr Ex-Mann Oscar, der eigentlich Wissenschaftler ist, aber jetzt kriegsrelevante Forschung betreibt. Und noch einige andere.
Die Geschichten geben vor allem Einblick in die alltägliche Kultur der damaligen amerikanischen Gesellschaft, die geprägt war von Frauenfeindlichkeit, Antisemitismus und Rassismus, aber gleichzeitig doch Möglichkeiten der Entfaltung und der persönlichen Freiheit eröffnete. Mir ist schleierhaft, wie Piercy das alles so lebendig und detailgetreu schildern konnte, obwohl sie doch gar nicht dabei war. Vieles, was unter Geschichtsunterrichts-Vokabeln eher abstrakt bekannt ist, wird hier plastisch vorstellbar, etwa das Leben in Frankreich unter der Besatzung oder das in London nach dem Blitzkrieg. Mir jedenfalls ging es so, dass ich beim Lesen oft Aha-Erlebnisse hatte – in dem Sinne, dass ich eigentlich jetzt erst richtig verstehe, was viele Sachen, die ich längst wusste, auch wirklich bedeuteten (oder zumindest bedeuten konnten).
Auch so manches interessante Hintergrundwissen schnappt man beim Lesen ganz beiläufig auf: Etwa, wie Frauen propagandistisch aufgefordert wurden, „Männerarbeit“ in der Kriegsindustrie zu leisten, nur um sie dann nach Kriegsende zurück an den Herd zu schicken. Oder die soziale Ausgrenzung jüdischer Menschen, die aber natürlich kein Vergleich mit dem Holocaust war. Die Kontrollfixiertheit der amerikanischen Militärmaschinerie, die kaum zur Zusammenarbeit mit örtlichen Widerstandsgruppen fähig und bereit war (nicht die einzige aktuelle Parallele, die sich aufdrängt). Die Fixiertheit auf ein bestimmtes Familienmodell, das in der Praxis aber kaum taugte. Die Unsichtbarkeit von Lesben. Die Allgegenwart sexueller Gewalt und ihre Tabuisierung. Und das alles wird erzählt mit einem sensiblen Blick auf die Geschlechterdifferenz und ohne pauschale Lösungen und Schuldzuweisungen.
Sehr, sehr lesenswert.
Vielen Dank für die Spende!
„Mir ist schleierhaft, wie Piercy das alles so lebendig und detailgetreu schildern konnte, obwohl sie doch gar nicht dabei war.“
Mit viel Fantasie? Die Wirklichkeit hat sie wohl nicht abgebildet – sie war ja nicht dabei…
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