Wie gehen wir als Feministinnen mit den patriarchalen Traditionen und Kulturen um, in denen wir (fast alle) aufgewachsen sind? Diese Frage stellt sich immer wieder mal. Mir wurde sie explizit bei einer Veranstaltung kürzlich gestellt, bei der es um Geschlechtergerechtigkeit in Christentum und Buddhismus ging, wobei ich den christlichen Part auf dem Podium übernommen hatte.

Vermutlich weil ich recht harsch über die frauenfeindlichen Anteile meiner Religion gesprochen hatte, fragte mich der Moderator an einer Stelle, warum ich denn überhaupt christlich sei, und spontan antwortete ich mit zwei Bedingungen, die dafür entscheidend sind.
Im Nachhinein glaube ich, dass es tatsächlich die zwei entscheidenden Bedingungen dafür sind, wie man sich als Feministin in einer patriarchalen Tradition verorten kann, das heißt, ihre positiven und inspirierenden Anteile aufgreifen ohne ihre frauenverachtenden Anteile kleinzureden oder zu verharmlosen.
Bedingung 1: Ich brauche weibliche „Zeuginnen“, das heißt, ich orientiere mich bei meiner Annäherung an anderen Frauen, an der Art und Weise, wie sie sie verstanden, ausgelegt und ausgelebt haben. Konkret: Wenn nur Männer das Christentum verteidigen würden, wäre es für mich uninteressant. Da es aber auch sehr viele Frauen gibt und gab – angefangen von den ersten Auferstehungszeuginnen über die vielen Theologinnen durch die Jahrhunderte hinweg bis zu interessanten Christinnen heute – denke ich mal, dass nicht alles am Christentum schlecht sein kann. (Aus ähnlichen Gründen beachte ich auch rein männlich besetzte Podien oder Veranstaltungen nicht. Mir fehlt die weibliche Zeuginnenschaft dafür, dass es sich lohnt, ihnen Aufmerksamkeit zu schenken).
Bedingung 2: Die weibliche Freiheit zählt mehr als Loyalität zur Religion. Das heißt, meine Bereitschaft, mich für die Antworten einer Religion oder Philosophie zu interessieren und mich ernsthaft mit ihnen auseinander zu setzen, auch und gerade meiner eigenen, endet da, wo sie die Freiheit der Frauen negiert. Wenn religiöse Regeln/Thesen auf der einen Seite und die Freiheit der Frauen miteinander in Konflikt kommen, dann zählt für mich die weibliche Freiheit mehr. Bei der Veranstaltung sagte ich das so: „Ich glaube an Jesus Christus, wenn das mit der Freiheit der Frauen vereinbar ist. Wenn nicht, dann glaube ich nicht an ihn.“
Das Gute an diesem Perspektivenwechsel ist, dass ich mich mit Argumenten wie: „Aber die Frauen müssen das und das, das steht doch in der Bibel“ nicht mehr beschäftigen muss, denn im Zweifelsfall ist eben das, was in der Bibel steht, falsch. Was nicht heißt, dass ich nicht drüber nachdenken würde, zumal wenn es Frauen gibt, die das, was da in der Bibel steht, verteidigen und gut finden. Aber falls ich zu dem Schluss komme, dass es mit der weiblichen Freiheit nicht vereinbar ist, sticht dieses Argument eben das andere.
Gleichzeitig bin ich von der Verpflichtung befreit, mich im Detail und intensiv mit den männlichen Texten dieser Tradition zu beschäftigen. Ich kann, wenn ich will, aber es ist nicht wichtig. Wichtig ist, dass ich die Frauen lese. Ich muss mir auch nicht überlegen oder die Frage beantworten, ob das, was ich dann daraus mache, nun noch „christlich“ ist oder nicht. Das ist mir nämlich egal. Das ist eine ziemlich befreiende und im übrigen auch kreative und fruchtbare Herangehensweise an eine Tradition, jedenfalls ist das meine Erfahrung.
Zufälligerweise habe ich parallel zu diesen Überlegungen und aus ganz anderen Gründen zwei Bücher gelesen, die sich ebenfalls mit stark patriarchalen Weltanschauungen auseinandersetzen, und zwar Sineb El Masrar: „Emanzipation im Islam – eine Abrechnung mit ihren Feinden“ sowie Michael Schuman: „Konfuzius. Der Mann und die Welt, die er schuf“.
Beide gehen mit den frauenfeindlichen Anteilen der von ihnen analysierten Weltanschauungen sehr unterschiedlich, fast entgegengesetzt um: Sineb El Masrar argumentiert, dass der Islam nicht zu gebrauchen ist, solange es in ihm frauenfeindliche Anteile gibt, weshalb es ihrer Ansicht nach die Hauptaufgabe von Muslimen und vor allem Musliminnen sein muss, seine frauenfeindlichen Anteile zu bekämpfen. Michael Schuman will hingegen den Nachweis erbringen, dass die inhärente Frauenfeindlichkeit im Konfuzianismus (der er, immerhin, ein eigenes Kapitel widmet) eigentlich nebensächlich ist angesichts des vielen Guten und Nützlichen, das diese Weltanschauung zu bieten hat.
Entsprechend selektiv gehen beide mit den Quellen und den Äußerungen konfuzianischer beziehungsweise islamischer Denker um. Man könnte etwas vereinfachend sagen, dass El Masrar frauenfeindliche Aussagen und Textpassagen dramatisiert, während Schuman sie bagatellisiert.
Es ist klar, dass ich für El Masrars Vorgehen mehr Sympathie habe als für Schumans. Ich habe früher auch mit großem Genuss und vor allem mit großer Empörung meine eigene Tradition – nicht nur das Christentum, sondern auch den Humanismus und die europäischen Philosophen generell – nach ihren „frauenfeindlichen Stellen“ durchforstet. Ich fand es wichtig, zu beweisen und zu belegen, wo sie überall schlecht über Frauen geschrieben haben, wo sie ihre männliche Überlegenheit behaupteten und all das – und genau solch eine Empörung über die ganzen unsäglichen Stellen und Aussagen islamischer Theologen spricht auch aus El Masrars Buch.
Inzwischen langweilt mich das aber, es kommt mir ein bisschen wie vergeudete Energie vor. Ich habe keine Lust, den Nachweis führen zu sollen, ob und inwiefern Religion X und Weltanschauung Y patriarchal sind, weil mich Leute, die das tatsächlich immer noch bestreiten, schlicht nicht interessieren. Gleichzeitig ist es aber nicht so, dass eine Weltanschauung, die auch frauenfeindlich ist, gar nichts Interessantes und Nützliches mehr enthalten würde. Ich sehe es nicht (mehr) als meine Aufgabe an, das Christentum zum Beispiel von frauenfeindlichen Anteilen zu reinigen – das sollen bitte schön diejenigen machen, die es offiziell vertreten wollen.
Eine Schwäche beider Bücher ist, finde ich, dass sie der weltanschaulichen Analyse eine viel zu große Bedeutung geben. Sicher werden sowohl islamische als auch konfuzianische Versatzstücke heute benutzt, um Politik zu machen, und im Fall des Islam leider auch oft eine krass frauenfeindliche Politik. Aber ich glaube nicht, dass man diesen Entwicklungen mit einer ideengeschichtlichen Analyse beikommt. Wer Frauen unterdrücken will, findet dafür immer irgendwelche Argumente, es ist fast schon zu viel der Ehre, diese Argumente auch nur zu widerlegen.
Weltanschauungen, die so alt und so weit verbreitet sind (der Islam ist fast 1500, das Christentum 2000, der Konfuzianismus sogar 2500 Jahre alt) lassen sich sowieso nicht auf einen Nenner bringen. Dass Islam, Konfuzianismus, Christentum und alle anderen auch frauenfeindlich sind, ist klar. In allen gab gibt und wird es geben Strömungen und Positionen, die meinem Anliegen, der Beförderung der Freiheit der Frauen, zuträglich sind, und andere, die ihm entgegen wirken. Es interessiert mich nicht, zu beurteilen, welche Weltanschauung in Punkto weiblicher Freiheit besser oder schlechter ist als die andere. Und deshalb bringt es auch nichts, die einschlägigen „Stellen“ herauszusuchen und als Belege wahlweise pro und kontra Frauenfeindlichkeit aneinander zu reihen.
Denn bei aller Unterschiedlichkeit im Detail ist jede Kultur und Weltanschauung, die wir kennen, sowieso Lichtjahre von dem entfernt, was ich mit weiblicher Freiheit meine. Ob sie sich dabei zwei Kilometer mehr oder weniger geben, ist wirklich total egal. Wir müssen es schlicht akzeptieren, dass auch die Kultur, die Religion, die Weltanschauung, die auch uns geprägt hat, patriarchal ist. Da gibt es weder was zu beweisen noch was zu rechtfertigen.
Viel sinnvoller ist, von dieser Diagnose ausgehend weiterzudenken, was wir nun tun wollen. Und dabei könnten wir uns eben an den beiden oben genannten Kriterien orientieren, und daraus ableiten, wie wir uns in einer konkreten Situation oder einer konkreten Person gegenüber verhalten: Wir schenken vor allem dem Aufmerksamkeit, was Frauen über diese Religion bzw. Weltanschauung sagen und denken (und zwar auch dann, wenn es mit unserer eigenen Ansicht nicht übereinstimmt), und wir sehen zweitens unsere Loyalitäten klar auf Seiten der weiblichen Freiheit.
Sineb El Masrar: Emanzipation im Islam – eine Abrechnung mit ihren Feinden. Herder 2016, 24,99 Euro.
Michael Schuman: Konfuzius. Der Mann und die Welt, die er schuf. Kösel 2016, 24,99 Euro.
Meine Einstellung zu diesen Fragen ist ein bisschen anders. Ich fühle mich für die Tradition insofern verantwortlich, weil ich ein Produkt dieser Tradition bin. So verdanke ich dieser Tradition eine ganze Menge. Und ich bin dankbar für alles Gute, Konstruktive, Lebensbejahende, das ich mit auf den Weg bekommen habe. Das versuche ich – ähnlich wie Du – in meinen Ahninnen zu finden. Auf diesem Fundament stehend wende ich mich dann aber der Zukunft zu. Tradition ist ja nicht nur Vergangenheit, sondern ebenso Zukunft. So wie ich Tradition überliefert bekam, bin ich Produzentin von Tradition hier und heute. Ist das nicht die Geburtlichkeit? Auch ich gestalte hier und heute Tradition, katholische Tradition, abendländische Tradition, feministische Tradition, die ich hier und heute weitergebe an alle die, die nach mir kommen und die hoffentlich darin Lebensbejahendes, Befreiendes für sich finden. Warum soll ich mein Erbe nicht antreten? Und zwar sehr selbstbewußt. Ich bin keine Nachlassverwalterin, sondern sehe mich dazu berufen, meine von der Tradition erhaltenen Ressourcen dafür einzusetzen, damit Alle das Leben haben und es in Fülle haben. Wie unsere Tradition verheißt.
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@Elfriede – Wo ist die Differenz zwischen dem, was du schreibst, und dem, was ich schreibe? Mit „Verantwortlichkeit“ gegenüber der Tradition habe ich ja kein Problem, auch wenn sie bei mir etwas geringer ausgeprägt ist als bei dir. Mir geht es um die Loyalität. Man muss, das wäre meine These, bereit sein, den Bruch mit der Tradition in Kauf zu nehmen, wenn es hart auf hart kommt.
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„…..den Bruch mit der Tradition in Kauf zu nehmen, wenn es hart auf hart kommt.“
Was müsste passieren, um den Bruch der Tradition in Kauf zu nehmen?
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@Corvusalbusberlin – Das kommt halt auf die konkrete Situation und Beziehung an, je nachdem, wer wen unter Druck setzen kann. Es muss ein Konflikt da sein, der darauf hinausläuft, dass du entweder der weiblichen Freiheit oder der Weltanschauung_Tradition treu bleibst. Ich finde es jetzt schwer, sich das theoretisch vorzustellen, weil es für eine „einfache Gläubige“ natürlich anders ist als für jemand, die irgendwo eine offizielle Position zum Beispiel in der Kirchenhierarchie hat.
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