Kürzlich hatte ich einen kurzen Austausch mit einer Person, nennen wir sie hier X, die ich zunächst aufgrund ihres Ausehens und ihres Namens für eine Frau hielt. Ich hatte einen Vortrag von ihr gehört, wir hatten uns danach kurz unterhalten, ich hatte ein paar kritische Anmerkungen dazu. Ein paar Wochen später schrieb sie mir eine Mail, die sich auf dieses Gespräch bezog, ich antwortete ihr. Dabei übersah ich, dass sie im „Kleingedruckten“ (in der Signatur) darauf hinwies, dass sie sich außerhalb der binären Geschlechterordnung verortet. Deshalb benutzte ich versehentlich die weibliche Anrede „Liebe X“. Sie antwortete und wies mich auf den Fehler hin. Ich entschuldigte mich.
So weit, so banal. Bis ich allerdings bemerkte, dass ich zusammen mit der Infomation, dass X keine Frau ist, auch das Interesse an dem politischen Austausch mit X verloren hatte. Xs Ansichten zu dem betreffenden Thema, die ich nicht teile, hatten mich interessiert, weil ich glaubte, eine Frau würde diese Ansichten vertreten, und das hatte mich motiviert, mich damit auseinanderzusetzen. Hingegen wüsste ich nicht, warum ich mich mit anderen Geschlechtern über dieses Thema austauschen soll, das mich (als Thema selbst) nämlich gar nicht besonders interessiert.
Ich habe versucht, diese Intuition, dieses spontane Gefühl von Desinteresse, das ich spürte, nachdem ich realisiert hatte, dass X keine Frau ist, genauer zu verstehen. Es scheint mir wichtig zu sein, weil es mein Verhältnis zu nicht-weiblichen Genders betrifft und damit die Frage nach feministischen Koalitionen oder Allies, und weil es vielleicht einen differenzierteren Blick auf das Verhältnis von Frauenbewegung und Männern ermöglicht, was ja auch ein Dauerbrennerthema ist.
Der derzeitige Stand meiner Überlegungen ist folgender: Für mein politisches Denken sind drei Geschlechter von Bedeutung – Frauen, Dudes und Sonstige. Frauen sind mir wichtig, Dudes sind politische Gegner, bei den Sonstigen kommt es drauf an.
Frauen – also alle Menschen, die sich als Frauen verstehen – sind meine ersten und wichtigsten Gegenüber in Bezug auf mein politisches Anliegen, nämlich die weibliche Freiheit zu vergrößern. Ohne Frauen gibt es auch keine freien Frauen, und Vorbilder und Verbündete darin, eine freie Frau zu sein, können nur andere Frauen sein. Weil, als ich das Thema gestern kurz in den sozialen Netzwerken postete, sofort die Frage aufkam, ob das auch für so reizende Exemplare wie Birgit Kelle und Erika Steinbach gilt: Selbstverständlich. Ja, das sind auch Frauen, und was sie tun, ist wichtig für meinen politischen Kampf. Denn sie gestalten aktiv die Bedeutung von „Frausein“ mit. Es ist wichtig, was sie tun, ich kann es nicht ignorieren oder mir egal sein lassen. Ich muss mich damit auseinander setzen. Auch diese Frauen stehen für das weibliche Begehren, das nämlich nicht immer lieb und gut ist, sondern (unter Umständen, die es eben zu analyieren gilt), auch destruktiv und gefährlich sein kann.
Dudes (oder, weil manchen wegen Big Lebowski der Begriff hier nicht gefiel, kann man auch Bros oder Typen sagen) – das sind Männer, die die herrschende hierarchische Geschlechterordnung nicht in Frage stellen, sondern entweder ignorieren, dass die veränderungsbedürftig ist („Postgender!“) oder gar aktiv auf ihren Privilegien beharren beziehungsweise der Ansicht sind, dass sie ihnen zustehen. Insofern sind sie politische Gegner, weil sie aktiv dazu beitragen, die Freiheit von Frauen zu beschneiden, oder zumindest ihrer Vergrößerung im Weg stehen. Mit Dudes muss mich natürlich auseinandersetzen, sie sind ein Teil der Welt und sie haben ja oft auch Macht. Vielleicht ist es möglich, sie zum Nachdenken zu bringen oder gar davon zu überzeugen, dass die Freiheit der Frauen doch was zählt. Aber abgesehen von solchen strategischen Überlegungen interessiert mich nicht, was sie tun. Dudes können auch völlig harmlos sein, viel harmloser als „böse“ Frauen.
Sonstige – das sind alle anderen Geschlechter, also vor allem feministische Männer oder nicht-weibliche Queers. Also X zum Beispiel. Bei ihnen kommt es darauf an, ob sie etwas zu sagen haben, das auf meine Fragen und mein Begehren, die weibliche Freiheit zu vergrößern, antwortet. Feministische Männer zum Beispiel können mir so manche Aspekte einer männlichen Kultur erklären, zu denen ich keinen Zugang habe. Nicht-weibliche Queers haben mehr Erfahrungen mit nonkonformistischen Gender-Performances und den Konflikten, die sich daraus ergeben. Es gibt hier also viele potenzielle Möglichkeiten, sich füreinander zu interessieren. Aber das ist nicht notwendigerweise so. Wenn diese „Sonstigen“ Themen verfolgen oder Positionen vertreten, die mich nicht interessieren oder die ich sogar falsch und gefährlich finde, dann sind sie mir genauso unwichtig wie die Dudes.
Mich interessiert eure Meinung dazu. Wie gesagt, das sind eher neue Überlegungen und vielleicht noch nicht ausgegoren.
Update:
Weil es offenbar Missverständnisse gab diesbezüglich: Was ich hier schreibe, bezieht sich auf feministisches Engagement, also politischen Aktivismus mit dem Ziel, Geschlechterverhältnisse herrschaftsfrei zu gestalten und die weibliche Freiheit zu vergrößern. Es bezieht sich nicht auf alles Mögliche im Leben. Wenn ich jemanden zum Squash spielen suche oder zum Chinesisch Lernen oder zum Geburtstagfeiern, dann spielen Geschlechterdifferenzen dabei normalerweise keine Rolle für mich.
Aber dieses Missverständnis ist auch wieder interessant, weil es zeigt, wie eng vermischt Politik und Soziales oft gedacht wird. Oder ist das nur in Bezug auf feministische Politik so? Aber da wäre nun wieder ein anderes Thema.
Update 2:
Interessante Debatten zu diesem Thema auch in diesem Thread bei Facebook.
Muss da selber mal in mich gehen und überprüfen, ob
ich eher Gespräche mit Frauen als mit Männern ‘bevorzuge’?
Auf den ersten Blick, ist die Anzahl von Gesprächsinteressen
mit Frauen eine größere als mit Männern.
Warum? Weil mir die Lebenswelten von Frauen (Generation 60plus) vertrauter, aber oft auch interessanter, vielfältiger, fließender erscheinen.
Das verändert sich gerade, auch durch meine erwachsenen Kinder.
Mich interessiert so ziemlich gleichermaßen wie junge Männer und Frauen denken und handeln und was ihre Lebenswünsche und Sehnsüchte sind.
Mit ‚bösen Frauen‘ suche ich so wenig, bis gar nicht, das Gespräch
wie mit ‚bösen Männern‘. Meine ich mal, so auf die Schnelle: 😉
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@Ute – Es geht ja nicht darum, mit wem ich mich lieber unterhalte oder gar darum, wen ich netter finde, sondern wer wichtig (und in welcher Weise wichtig) für mein feministisches politisches Engagement ist. Der soziale Kontext, mit wem ich zusammen Filme schaue oder Squash spiele oder Eis esse hängt ja von ganz anderen Dingen ab.
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Antje, nochmal zum besseren Verständnis:
Du machst die Erfahrung, dass du mit einer Person, die du als
Frau ansiehst, ins Gespräch kommst über deren Vortrag, zu dem
du einige kritische Anmerkungen hast und mit deren Ansichten du
nicht einverstanden bist. Du bist trotzdem an einem weiteren (Schreib) Austausch interessiert , weil diese konträren Ansichten
von einer Frau kommen. Als du erfährst, dass dieselbe Person sich
nicht als Frau betrachtet, erlischt dein Interesse an einem weiteren Austausch.
Meine Fragen: Wenn diese Person dir von Anfang an als Nichtfrau begegnet wäre, hättest du dann den weiteren Austausch erst gar nicht gewollt? War vor allem die Annahme, dass du es mit einer
Frau zu tun hast, ausschlaggebend für dein Interesse am weiteren Austausch?
Spielt vielleicht bei dieser Erfahrung mit hinein, dass du dich ‚getäuscht‘ fühltest?
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Hallo!
„Auch diese Frauen stehen für das weibliche Begehren, das nämlich nicht immer lieb und gut ist, sondern (unter Umständen, die es eben zu analyieren gilt), auch destruktiv und gefährlich sein kann.“
Mal eine Frage dazu, weil das einige Punkte betrifft, die mich immer etwas irritieren. Unter welchen Umständen könnte denn „das [nicht-explizit-feministische] weibliche Begehren grundsätzliche Fragen auslösen, die über die Erkenntnis „destruktiv und gefährlich“ (für die eigene Position) hinausgingen?
Also als Extrembeispiel: wenn 96% aller Frauen auf die Straße gehen würden und gegen „feministische Bevormundung“ und für die Prügelstrafe durch ihre Ehemänner demonstrieren würden, selbst dann würde das doch die Grundstruktur feministischer Argumentation nicht wirklich berühren, dann hätten eben 96% aller Frauen einen im Patriarchat erlernten schlechten Gechmack.
Die Einordnung der Realität ergibt sich doch aus – je nach Position – Vorurteil oder Erkenntnis/Erleuchtung, und die empirische Haltung anderer hat dabei doch notwendig eben keinen tatsächlichen Einfluß auf den Anspruch auch für diese – in ihrer Unterdrückung sprachlosen – zu sprechen.
Warum ist die Position anderer Frauen also relevanter als die anderer Geschlechter?
Zu den „Dudes“ übrigens…
https://antjeschrupp.com/2014/09/22/manner-und-feminismus/
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@ts – Der Unterschied zwischen uns ist, dass ich mir den Bereich des Politischen nicht so vorstelle wie den Bereich der Wissenschaften, dass neämlich „Die Einordnung der REalität sich aus Vorurteil oder Erkenntnis/Erleuchtung“ ergibt. Im Bereich der Wissenschaft gibt es wahr und falsch, und die Positionierung der betrachtenden Person ist dabei egal. Im Bereich der Politik gibt es aber nicht wahre und falsche Lösungen oder Regelungen, sondern nur solche, zu denen wir kommen oder eben nicht kommen. Wenn mein Ziel des politischen Engagements die Freiheit der Frauen ist, also ich die Welt so beeinflussen will, dass sie der Freiheit der Frauen entspricht, dann muss mich interessieren, was die Frauen wollen, was ihr Begehren ist. Ich kann nicht hingehen und sagen: So, das hier ist mein ideales Modell, so machen wird as (das ist es, was der ideologische Feminismus macht, den ich falsch finde). Auch wenn eine Frau Sachen macht und will, die ich blöde und doof und falsch und gefährlich finde, kann ich von ihr dennoch etwas über das weibliche Begehren lernen.
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@Ute Plass – Ja und nein: Ja, hätte ich von Anfang an realisiert, dass X keine Frau ist, wäre ich vermutlich nach dem Vortrag gar nicht erst hingegangen, um mit X zu sprechen, weil das Thema als solches mich nicht besonders interessiert hat und ich Xs Thesen auch nicht er erhellend fand. Mich hat interessiert, dass und warum eine Frau solche Thesen vertritt. Und Nein: Getäuscht gefühlt habe ich mich nicht, es war ja mein Fehler, X. aufgrund von Äußerlichkeiten als Frau einzusortieren. X hat an keiner Stelle Weiblichkeit „vorgetäuscht“; das war einfach ein Missverständnis.
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„Wenn mein Ziel des politischen Engagements die Freiheit der Frauen ist, also ich die Welt so beeinflussen will, dass sie der Freiheit der Frauen entspricht, dann muss mich interessieren, was die Frauen wollen, was ihr Begehren ist.“
Sehe ich auch so, wobei ich mich frage, ob die Freiheit von Frauen ohne die Freiheit von Männern gedacht werden kann, es also auch
das Interesse für das braucht, was Männer ‚heute‘ wollen und begehren?
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Ja klar. Die Freiheit der Männer ist aber aus dem Diskurs auch sowieso nicht ausgeschlossen. Es ist das weibliche Begehren, dessen Existenzberechtigung in Frage gestellt wird.
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„So, das hier ist mein ideales Modell, so machen wird as (das ist es, was der ideologische Feminismus macht, den ich falsch finde).“
Ok, das finde ich so auch sinnvoll. Aber andererseits macht so ein Empirismus den Aktivismus doch auch nicht einfacher – wenn man am Ende nicht doch wieder die Unterschiede zwischen Realität und Ideal mit ideologischen Axiomen erklären will.
„Wenn mein Ziel des politischen Engagements die Freiheit der Frauen ist, also ich die Welt so beeinflussen will, dass sie der Freiheit der Frauen entspricht, dann muss mich interessieren, was die Frauen wollen, was ihr Begehren ist.“
Ich frage mich, was Begehren für Sie konkret bedeutet, denn der ganze aktuelle Gender-Diskurs ist doch (auch aus ideologischen Gründen) weitgehend entsexualisiert und läuft entlang verdreht marxistischer soziologischer Kategorien („Macht“), die man immer beliebig drehen kann, bis jede Beobachtung ins Weltbild passt. Weibliches (heterosexuelles) Begehren (Frauen, die Männern gefallen wollen) wird doch auf feministischer Seite fast nie als unabhägige Variable gesehen (auch nicht im Hinblick darauf, wie weibliches Begehren männliches Verhalten beeinflussen könnte), sondern immer als sozialisierter „schlechter Geschmack.“ Vielleicht wird das heute nicht mehr so radikal ausgesprochen wie vor 40 Jahren, als (notwendig erfolglos) immer wieder politischer Lesbianismus gefordert wurde, weil das halt auch gegen den Empowerment-Zeitgeist spricht, aber die Annahmen scheinen sich da doch kaum geändert zu haben. Nehme ich zumindest so wahr.
Bzgl. (generalisierten empirischen) weiblichen Begehrens findet man meiner Meinung nach in „Literotica“ vermutlich deutlich mehr Hinweise als in 95% aller feministischen Blogs (mit Ausnahmen, aber das sind meist eher Sexblogs, die feministisch in der Praxis, aber weniger in der Theorie sind).
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„Es ist das weibliche Begehren, dessen Existenzberechtigung in Frage gestellt wird“.
Denkst du dabei an bestimmte Gruppierungen/Institutionen in der Gesellschaft?
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Den Begriff „Frauen“ einzig darüber zu bestimmen, dass alle, die sich als Frauen verstehen, Frauen sind, halte ich für eine ziemliche (postmoderne) Beliebigkeit.
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Kannst du etwas genauer erklären, warum? Es gehört ja schon was dazu, das zu tun. Welche anderen Kriterien findest du wichtig? Und bestünde realistischerweise die Gefahr, dass zu viele Leute sich Frauen nennen würden, obwohl sie es nach diesem Kriterien nicht sind?
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Hallo,
„Es ist das weibliche Begehren, dessen Existenzberechtigung in Frage gestellt wird.“
Wird nicht das Begehren aller Menschen, die nicht (Cis-)Männer sind, in Frage gestellt? Und wäre es demnach nicht sinnvoll, sich mit dem Begehren von Frauen und anderen Nicht-Männern zu beschäftigen? Sollte es nur darum gehen, die weibliche Freiheit zu vergrößern oder die Freiheit all jener Menschen, die nicht von der (patriarchalen) Geschlechterordnung / männlichen Privilegien profitieren?
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@Hannah – Das muss sich ja nicht ausschließen. Aber gegenüber den Frauen bestand schon immer (nicht überall, aber weit verbreitet) die zweifelhafte Einladung, ihr Geschlecht quasi abzulegen und zu „vermännlichen“, als Preis dafür, „mitmachen“ zu dürfen. „Nicht-Cis-Mann“ ist angesichts dieser Geschichte mir zu harmlos, sondern es geht nur über die Sichtbarmachung und das Reclaimen von „Weiblich“. Das heißt, es ist wichtig, deutlich zu machen, dass es nicht darum geht, dass wir auch begehren dürfen „wie ein Mann“, sondern darum, zu „begehren wie eine Frau“. Es ist eine Frage der symbolischen Ordnung. Dass wir zusätzlich zum Kampf für die weibliche Freiheit noch für viele andere Dinge kämpfen (können und sollen) steht dem ja nicht entgegen. Ich glaube ja, dass die prinzipielle Anerkennung der weiblichen Differenz (also die Zurückweisung der Idee, dass der größte Wunsch von Frauen wäre, genauso sein zu dürfen wie Männer), der erste Schritt ist für die Anerkennung von Differenz überhaupt, die dann auch andere Geschlechter umfassen kann.
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