Die einen haben einen Uterus, die anderen ein Gehirn

Hier gibt es einen interessanten Artikel des Historikers Philipp Sarasin zum Thema 250 Jahre Sexualität. Wie ich drüben auf piqd schon geschrieben habe, vertritt er die Ansicht, dass „Sexualität“ als Konzept erst vor rund 250 Jahren, nämlich mit Beginn der bürgerlichen Moderne, entstanden ist. Galt vorher der Geschlechtsakt in christlicher Tradition als etwas, von dem sich Menschen möglichst fernhalten sollten, als etwas tierisch-problematisches, das nur zum Zweck der Fortpflanzung in Kauf zu nehmen sei, bekam „die Sexualität“, wie das Phänomen nun genannt wurde, ab dem späten 18. Jahrhundert eine gesellschaftlich-kulturelle Bedeutung zuerkannt. Diese Entwicklung diente allerdings nicht nur zur Befreiung von kirchlichen Zwängen, sondern auch zur Zementierung von Geschlechterstereotypen, insofern Erotik, Lust und Sextrieb als etwas galten, wodurch sich Frauen und Männer wesentlich unterscheiden. Im 20. Jahrhundert dann rückte Sexualität, ausgehend von Freud, noch weiter ins Zentrum des Menschseins vor, bis sie dann schließlich sogar zum Dreh- und Angelpunkt menschlicher Befreiung und Freiheit wurde. Heute widerum könnte das Zeitalter der Sexualität vielleicht seinem Ende entgegen gehen. Denn die klassischen Binaritäten, die dafür zentral waren, lösen sich auf, ebenso wie Körper, Lust und Identitäten sich wieder mehr voneinander lösen.

Hier möchte ich aber noch eine andere interessante Anekdote aus dem Text festhalten, die leider zu spät kommt, um noch einen Platz in meinem Buch über das Schwangerwerdenkönnen zu bekommen, obwohl sie da gut reingepasst hätte. Ich zitiere:

Seit dem Ende des 18. Jahr­hun­derts, etwa in Pierre Rous­sels Système physique et moral de la femme von 1775, wurde die Geschlech­ter­dif­fe­renz weniger im offen­sicht­li­chen, wenn auch nur ober­fläch­li­chen Unter­schied der Geschlechts­or­gane fest­ge­macht, sondern an der „tiefen“ Diffe­renz von Gehirn und Nerven: Demnach galt das Gehirn als das Organ, das beim Mann größer ausge­bildet und damit „stärker“ sei, um die Nerven und sich selbst zu kontrol­lieren, während die Frau ganz von den Sinnes­ein­drü­cken und Empfin­dungen beherrscht werde, die sie über ihre Nerven empfange, aber mit ihrem Gehirn nicht kontrol­lieren könne; denn ihr zentrales Organ sei nicht das Gehirn, sondern der Uterus.

Das finde ich in Zusammenhang mit meinen Überlegungen zur reproduktiven Differenz deshalb interessant, weil ich in meinem Buch ja eine Unterscheidung treffe zwischen Menschen mit und ohne Uterus, also solchen, die schwanger werden können, und solchen, die es nicht können. Der Uterus, so habe ich bei meiner Beschäftigung mit der Biologie der menschlichen Reproduktion gelernt, ist das einzige Organ, das wirklich „binär“ ist, also sich in Form eines „ja/ist vorhanden“ oder „nein/ist nicht vorhanden“ äußert. Ich kopier die Stelle kurz hierhin:

Die Hoden entsprechen den Eierstöcken, der Penis der Klitoris, der Hodensack den Schamlippen und so weiter. Bei all diesen Organen handelt es sich letzten Endes um unterschiedliche Variationen von ein- und derselben Sache, weshalb es auch Übergangs- und Zwischenformen gibt. Einzige Ausnahme ist die Gebärmutter. Für sie existiert kein Pendant. Bei Embryonen, die sich gebärmutterlos entwickeln, sorgt ein Hormon (das „Anti-Müller-Hormon“) dafür, dass die Anlage zur Gebärmutter abstirbt. Der Uterus ist also das einzige Organ, bei dem es sich nicht um ein „so oder so“ handelt, sondern um „einen klaren Fall von Entweder-oder, Haben oder Nichthaben“, wie die Wissenschaftsjournalistin Natalie Angier schreibt. Die Gebärmutter ist (gemeinsam mit der nur im Fall einer Schwangerschaft entstehenden Plazenta) also ein wirklich „binäres“ Organ des menschlichen Körpers; entweder man hat eine oder nicht.

Diese Einseitigkeit war Pierre Roussel und anderen offenbar ein Dorn im Auge, und so kamen sie auf die somewhat genial-dreiste Idee, dem Uterus der einen das GEHIRN der anderen komplementär gegenüber zu stellen. Lustigerweise in dem Versuch, die Geschlechtsbestimmung von so oberflächlichen Kriterien wie dem Aussehen der Genitalien auf das eigentlich tiefere Wesen der Menschen zurückzuführen. Also auf den Uterus, beziehungsweise, bei Nichtvorhandensein, auf das Gehirn.

Mensch Mensch auf so eine Idee muss man ja auch erst einmal kommen.

PS: Ich habe gerade mal gegoogelt, allerdings ist bei Wikipedia der einzige Pierre Roussel, der 1775 gelebt hat, ein Kunsttischler. Ob er zusätzlich zu diesem Handwerk auch philosophisch-biologische Traktate verfasst hat, steht da nicht, vielleicht war es auch irgend ein anderer Pierre Roussel, der für Wikipedia nicht berühmt genug ist. Von daher müsste man jetzt erstmal recherchieren, ob der Autor dieser Theorien wirklich ein ernstzunehmender (also bei seinen Zeitgenoss*innen ernst genommener) Mensch war oder nur ein skurriler Kautz, dessen Schrift es zufällig bis heute überlebt hat, den aber schon in seiner Zeit alle ausgelacht haben.

Also falls jemand hierzu irgendwas weiß, ich freue mich über Hinweise in den Kommentaren. Auch wenn ihr von anderen Leuten wisst, die damals solche Theorien vertreten haben.

Update: Zu Herrn Roussel gibt es doch einen Wiki-Eintrag (warum hab ich den erstmal nicht gefunden? Mystery…), sein Buch wurde sogar ins Deutsche übersetzt!

Ich bin Journalistin und Politologin, Jahrgang 1964, und lebe in Frankfurt am Main.

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