Gestern Abend war ich in Bern für einen Abend über die deutsch-jüdische Philosophin und politische Denkerin Margarete Susman. Es gibt für mich immer noch Neues über sie zu entdecken.
Gestern kam mir noch eine Idee: Eine ihrer Hauptthesen war ja, dass das Judentum sehr viel (und mehr als allen bewusst ist) zur Herausbildung der europäischen Moderne beigetragen hat. Nun ist dieses Beitragen mit dem Holocaust weitreichend beendet worden. Die jüdische Differenz wurde ausgemerzt. Was bedeutet das für Europa? Ist die europäische Idee, ihre Vorstellung von individueller Freiheit, von universellen Menschenrechten, von Wertschätzung für Pluralität vielleicht auch deshalb so am Arsch, weil ihr jüdischer Anteil seither fehlte?
Es würde einen gewissen Sinn ergeben, wenn man den Niedergang dieser Idee mit der Entfesselung des verantwortungslosen Zerstörungskapitalismus in den 1980ern verortet, oder auch vielleicht in der Unfähigkeit der „europäischen Idee“, nach dem Zusammenbruch des Sowjet-Imperialismus eine attraktive Alternative darzustellen. Spätestens jetzt mit dem Starkwerden erneuter faschistischer Bewegungen ist die Zukunft von „Europa“ mehr als fraglich.
Es wäre ein weiteres Beispiel dafür, wie Veränderungen sich nicht unmittelbar, sondern erst mit ein, zwei, drei Generationen Verzögerung in ihrer vollen Wirkung zeigen. Die Shoah hat mit den jüdischen Impulsen vielleicht der europäischen Idee eine lebenswichtige Wurzel ausgerissen, und jetzt droht das ganze Gebilde abzusterben.
PS: Meinen Vortrag zu Susmans Leben könnt ihr nachlesen (diese Gedanken sind da aber noch nicht drin) https://antjeschrupp.de/margarete-susman-wege-zur-freiheit
Drüben auf Mastodon kam dazu folgender Einwand:
Das ist quasi eine Verschwörungstheorie, auch wenn sie in eine untypische Richtung geht.
Während der jüdische Einfluss nicht zu unterschätzen ist, war er auch alles andere als einheitlich. Es gab nie eine einheitliche jüdische Strömung, die auf Europa einwirkte, sondern vielmehr sehr viele individuelle Menschen, alle mit ihren unterschiedlichen Zielen. Dementsprechend kann man auch nicht wirklich sagen, was an den „europäischen Werten“ nun jüdisch sei bzw. ohne Juden nie entstanden wäre.
Man kann ja als Gegenprobe in Richtung USA schauen. Der jüdische Einfluss ist dort weiterhin mehr als präsent. Dennoch schlagen die USA derzeit einen ähnlichen Weg ein wie Europa bzw. viele problematische Trends werden dort sogar gesetzt. Und Juden finden sich dort auf allen Seiten der Barrikaden, wie es schon immer war.
Edit: Tut mir Leid übrigens, dass ich das schöne Bild so zerpflücke. Aber die Rettung der Welt kann man halt nicht einer einzelnen Gruppe auferlegen.
Darauf antwortete ich wieder:
Zerpflücke gerne, ich kann ja zurück pflücken. Dein Denkfehler liegt darin, dass du unterstellst, dass eine „Gruppe“ nur dann eine Differenz in Welt, Gesellschaft, Kultur einbringen könnte, wenn sie „einheitlich“ wäre. Das ist auch ein Missverständnis, das gegen den Einfluss „der Frauen“ oft vorgebracht wird. Aber ist ist ein Irrtum, dass „die Frauen“ oder „die Jüdinnen und Juden“ nur dann etwas verändern könnten (im Sinn von „Make a difference“), wenn sie alle dasselbe machen würden, sie können es vielmehr genauso oder sogar noch besser, wenn sie untereinander sehr verschieden oder sogar gegensätzlich sind. Denn womöglich gruppieren sie sich um andere vermeintliche Selbstverständlichkeiten als die vorherrschende Kultur der christlichen (oder atheistischen) Männer. Das Judentum stellt andere Fragen, hat andere Themen, andere Perspektiven als das Christentum, auch wenn es sehr viele unterschiedliche jüdische Antworten oder Positionen dazu gibt. Das Christentum, ebenso wie das Männliche, hat sich selbst aber schon immer gerne in der Rolle gesehen, dass es die ganze Pluralität abbildet, mit dem Argument, dass die Christen oder die Männer doch untereinander so unterschiedlich sind, dass die Welt unmöglich noch irgend eine andere Differenz brauchen kann 🙂
Bedenkenswert finde ich deinen Hinweis auf die USA, allerdings würde ich sagen, dass die typisch „europäischen Werte“ dort nie wirklich gegolten haben, sie haben dort eigentlich keinen Universalismus, sondern eher ein Nebeneinander vieler Sekten, die aber jeweils davon überzeugt sind, dass genau nur sie die Wahrheit mit Löffeln gefressen haben, um es mal etwas plakativ zu sagen. Und dann würde ich sagen, dass der jüdische Einfluss auf die US-Amerikanische Kultur natürlich sehr von der post-Shoah-Situation geprägt ist. Ich würde sagen, dass das Judentum nicht in gleicher Weise eine Wurzel der US-Kultur ist, wie es eine Wurzel der europäischen Moderne ist.
Soweit in Kürze.