Die Ideologien der so genannten „Lebensschützer_innen“

Eike Sanders, Kirsten Achtelik, Ulli Jentsch: Kulturkampf und Gewissen. Medizinethische Strategien der „Lebensschutz“-Bewegung. Verbrecher Verlag 2018, 159 Seiten, 15 Euro. Keine schöne, aber sehr informative Lektüre ist dieses Buch, das die ideologischen, organisatorischen und weltanschaulichen Hintergründe der so genannten „Lebensschützer_innen“ aufdröselt, die derzeit in Deutschland, aber auch international versuchen, die von der Frauenbewegung erkämpften Möglichkeiten der reproduktiven Selbstbestimmunge wieder zurückzudrehen. Interessant fand ich dabei vor allem, wie geschickt die Argumentationen versuchen, freiheitliche Debatten und Aspekte aufzunehmen und in ihrem Sinn zu drehen: Die Kritik an behindertenfeindlichen „Optimierungsversuchen“ in der modernen Reproduktionsmedizin und andererseits Ansätze zur Betonung der Selbstbestimmung von Frauen. Kern des Arguments ist die Behauptung, dass Abtreibung in aller Regel gegen den Willen der Schwangeren vorgenommen wird, weil entweder die Gesellschaft die Geburt von Kindern mit Behinderungen vermeiden will oder aber die Familie oder der Ehemann/Partner der Frau keine Kinder will. Ich finde das Thema sehr wichtig, und es besorgt mich ein bisschen, dass die Aufregung und der feministische Aktivismus

read more Die Ideologien der so genannten „Lebensschützer_innen“

Care-Krise gelöst: Wir sind alle psychisch krank

Beim Nachdenken über die Art und Weise, wie wir heutzutage die eugenische Selektion von nicht erwünschten Föten praktizieren (über 90 Prozent der Wunsch-Kinder werden abgetrieben, wenn sie laut Pränataldiagnostik Trisomie21 haben), während man gleichzeitig so tut, als gäbe es keine eugenische Selektion (offiziell ist nicht die befürchtete Normabweichung der Föten der Grund für diese Abtreibungen, sondern die psychische Befindlichkeit der Schwangeren), kam mir heute eine Idee, wie man das eigentlich noch zugespitzter analysieren müsste. Zunächst dachte ich, dass hier eine allgemeingesellschaftliche Heuchelei auf dem Rücken von Frauen betrieben wird: Einerseits wird ein moralischer Standard hochgehalten („Nein, bei uns gibt es keine eugenische Selektion!“), gleichzeitig kommt er faktisch aber nicht mal in jedem zehnten Fall zur Anwendung. Und anstatt das offen zuzugeben und als Gesellschaft zu den eigenen Prioritätensetzungen zu stehen („Kinder mit Behinderungen werden bei uns nur ausnahmsweise ausgetragen, sozusagen als Privathobby der beteiligen Eltern, normal finden wir das aber nicht“) werden Schwangere quasi per Default zu psychisch Kranken erklärt:

read more Care-Krise gelöst: Wir sind alle psychisch krank

Was macht eigentlich…. das Abtreibungsthema?

Neulich hat sich Katha Pollit in einem Artikel damit beschäftigt, dass die gesellschaftliche Akzeptanz gleichgeschlechtlicher Ehen in den vergangenen Jahrzehnten deutlich Aufschwung bekommen hat, während in Punkto Abtreibung die Tendenz wieder in Richtung auf mehr Restriktionen gegen Schwangere zu weisen scheint. Ihre Analyse bezieht sich auf die USA, aber auch in Deutschland lässt sich wohl so etwas Ähnliches beobachten. Ein von Ulrike Busch und Daphne Hahn herausgegebener Sammelband will die Diskussion auch hierzulande wieder ein bisschen in die Gänge bringen, und das ist gut so. Das Buch versammelt Rück- und Überblicke über die Lage und den Diskurs. Dabei wird deutlich, dass die Diskussion letztlich mit dem letzten „Abtreibungsgesetz“ 1990 zum Erliegen gekommen ist. Einerseits vielleicht verständlich: Zwar ist Abtreibung weiterhin im Prinzip nicht Entscheidung der Schwangeren selbst, sondern gilt als Unrecht, aber sie wird nicht strafrechtlich verfolgt und gilt bei Einhaltung bestimmter Verfahren oder bei vorliegenden Indikationen auch nicht mehr als gesetzwidrig. Konkret heißt das: Rein theoretisch ist zwar das Ziel der Frauenbewegung, nämlich das

read more Was macht eigentlich…. das Abtreibungsthema?

Warum Mehrheitsentscheidungen oft undemokratisch sind

Vielleicht habt ihr auch von dem Ansinnen der AfD gelesen, einen Volksentscheid über das deutsche Abtreibungsrecht abzuhalten mit dem Ziel, Abtreibung schärfer zu verbieten. Die Spitzenkandidatin in Sachsen, Frauke Petry, begründete das mit dem angeblich gefährdeten Überleben des deutschen Volkes, in dem bitteschön jede Frau drei Kinder kriegen soll (ich habe mal im Zuge meiner Beschäftigung mit dem demografischen Wandel in einem nationalsozialistischen Buch gelesen, dass deutsche Frauen eigentlich vier Kinder haben müssten, um den Bestand zu erhalten). Mich hat das ganze nochmal zu ein paar demokratietheoretischen Überlegungen gebracht, weil an diesem Beispiel ein grundlegendes Problem des Mehrheitsprinzips deutlich wird: Was ist mit Beschlüssen, die von ihrer Logik her nur bestimmte Menschen betreffen, und andere aber nicht? Ein Verbot der Abtreibung zum Beispiel würde ja nur Menschen betreffen, die schwanger werden können, also praktisch Frauen* unter fünfzig. Sie aber wären bei einer solchen Abstimmung auf jeden Fall in der Minderheit. Ich habe auf die Schnelle keine genauen Zahlen gefunden, aber das Durchschnittsalter in Deutschland liegt ungefähr bei 43 Jahren,

read more Warum Mehrheitsentscheidungen oft undemokratisch sind

Körper, Gesetze, Beziehungen (Teil 2)

Anatol Stefanowitsch hat auf meinen gestrigen Blogpost mit einem Kommentar in seinem eigenen Blog geantwortet, und einige interessante Einwände gebracht und mich auch auf einige Schwachstellen in der Argumentation hingewiesen. Da man bei ihm nicht kommentieren kann und die Kommentare unter meinem Ursprungspost sich inzwischen in ganz andere Richtungen entwickelt haben, schreibe ich diese weitergehenden Überlegungen einfach jetzt hier hin. Scharfsinnig hat Anatol eine große Schwachstelle in meiner Argumentation gefunden, nämlich dass das Verhältnis zwischen Menschen_Körpern und den Anderen sehr viel komplizierter ist. Denn natürlich findet die Selbstverfügung über den eigenen Körper niemals losgelöst von Beziehungen statt, und zwar nicht nur insofern wir immer geprägt sind von gesellschaftlichen Entwicklungen – den Aspekt hatte ich in meinem Artikel über Sterbehilfe bereits untersucht – sondern auch viel konkreter: Nämlich insofern auch bei den Beispielen, die ich für körperliche Selbstverfügung angeführt habe (Abtreibung, Prostitution, Sterbehilfe, er nimmt noch das Beispiel Drogengebrauch hinzu) immer konkrete andere Menschen involviert sind. Diesen Aspekt hatte ich im

read more Körper, Gesetze, Beziehungen (Teil 2)

Beim eigenen Körper endet der Arm des Gesetzes

Dass Menschen über ihren eigenen Körper verfügen können, liegt in der Natur der Sache. Denn Mensch und Körper sind nicht zu trennen. Mensch_Körper sind allein miteinander, oder können es zumindest sein. Mensch ist Körper. Ob Menschen über ihren eigenen Körper verfügen (dürfen), ist deshalb keine offene Frage, über die gesellschaftlich zu entscheiden wäre, sondern eine Tatsache, die bei politischen Entscheidungen berücksichtigt werden muss. Keine Ordnungsmacht der Welt kann Menschen zum Beispiel daran hindern, Sex gegen Geld zu tauschen, Abtreibungen vorzunehmen oder das eigene Leben zu beenden. Kein Polizist kann sich zwischen einen Menschen und ihren Körper stellen. Wer die Eigenverfügung über den menschlichen Körper gesetzlich kontrollieren will, muss zu krassen Maßnahmen greifen, die auf eine Weise in das Persönlichkeitsrecht eingreifen, die heute nicht mehr als akzeptabel gilt: Man kann natürlich Ehefrauen dazu zwingen, einen „Keuschheitsgürtel“ zu tragen, damit kein unbefugter Penis in ihre Vagina eingeführt wird. Man kann auch Schwangere oder Menschen, die man für suizidgefährdet hält, rund um die

read more Beim eigenen Körper endet der Arm des Gesetzes

„Alle haben jetzt Jungen“. Geschlechtsselektion und weibliche Freiheit

(Tl;dr) Vorgeburtliche Geschlechtsselektion ist längst eine Tatsache. In Asien wählen die Eltern Jungen, in den USA wählen sie Mädchen. Beides ist fatal für das gesellschaftliche Zusammenleben. Was jetzt zu tun wäre. . Die Verbreitung von Reproduktionstechnologien (Ultraschall, Abtreibung unerwünschter Föten, künstliche Befruchtung, Präimplantationsdiagnostik) hat in vielen Teilen der Welt zu einem massiven Ungleichgewicht zwischen Geburten von Mädchen und Geburten von Jungen geführt. Vor allem in drei Regionen ist die vorgeburtliche Geschlechterselektion stark verbreitet: China und die südlich angrenzenden Länder, vor allem Vietnam, Indien und Pakistan, sowie Westasien (Armenien, Aserbaidschan, Georgien). Ohne medizintechnische Manipulation beträgt das Verhältnis der Geschlechter bei Geburten ungefähr 100 Mädchen zu 105 Jungen. In manchen Regionen der Welt werden aber inzwischen bis zu 170 oder sogar noch mehr Jungen pro 100 Mädchen geboren. Die Wissenschaftsjournalistin Mara Hvistendahl hat diese Entwicklung im Detail untersucht. Ihr (manchmal etwas reißerisch geschriebenes, aber lesenswertes) Buch ist vor allem deshalb interessant, weil sie auf zahlreiche Vorurteile und Fehlschlüsse hinweist, die in der Debatte

read more „Alle haben jetzt Jungen“. Geschlechtsselektion und weibliche Freiheit

Abtreibung und Kindstötung

Heute erreichte mich eine Meldung, dass ein Forscher und eine Forscherin, Alberto Giubilini und Francesca Minerva, in einem Magazin für Medizinethik argumentiert haben, es sei ethisch erlaubt, wenn Eltern Babies in den ersten Tagen nach der Geburt töten, zum Beispiel „wenn sie sich überfordert fühlen und wirtschaftliche, soziale oder psychologische Umstände es ihnen unmöglichen machen, sich um ihr Kind zu kümmern.“ Diese Nachricht sorgte umgehend für Empörung, und man kann wohl davon ausgehen, dass sie auch unter Wissenschaftler_innen kein Konsens ist. Aber es geht hierbei auch um die Art der Argumentation. Denn auch wenn viele vermutlich die Schlussfolgerung von Giubilini und Miverva ablehnen, befürchte ich, dass ihre Argumente für viele nachvollziehbar sein könnten. Sie beziehen sich nämlich auf die Abtreibung und fragen: Warum soll man Embryonen vor der Geburt töten dürfen und nach der Geburt nicht? Schließlich sind auch neu geborene Babies noch keine „wirklichen Personen“, da ihnen „noch die Fähigkeiten fehlen, die ein moralisches Recht auf Leben rechtfertigen“. In

read more Abtreibung und Kindstötung