Was ist mit dem Ungeborenen?

Als Antwort auf meinen gestrigen Newsletter, in dem ich für eine Abschaffung des staatlichen Abtreibungsverbots argumentiere (und den du hier abonnieren kannst) habe ich von einer Leserin eine Frage zurückbekommen, von der ich denke, dass die Antwort auch andere interessieren könnte, deshalb schreibe ich sie hier hin.

Was ist mit dem ungeborenen Körper und der schwierigen Frage, ab wann der einer ist oder als einer zu betrachten ist? Klar, der Staat hat mir nichts vorzuschreiben, was ich mit meinem Körper mache, aber sobald ich schwanger bin, ist da eben ein zweiter, der hat noch keine Stimme und so weiter – ist es nicht auch richtig, dass jemand (der Staat?) dessen Stimme vertritt?

Dazu gibt es mehrere Aspekte und Argumente.

Die Frage nach dem Beginn des schützenswerten Lebens. Die Idee, dass ein Embryo bereits ab der Verschmelzung der Keimzellen schützenswertes Leben ist, ist erst im 19. Jahrhundert entstanden. Vorher war der religiös grundierte Glaube da, dass die „Beseelung“ und damit der Beginn des schützenswerten Lebens nach 40 Tagen bei männlichen und nach 80 Tagen bei weiblichen Embryonen stattfindet. Mit dem Voranschreiten eines naturwissenschaftlichen Weltbildes wurde diese Vorstellung als abergläubischer Humbug abgetan und den Beginn auf den Tag Null gelegt.

Allerdings ist es ja offensichtlich, dass es sich am Tag Null der Verschmelzung nicht um einen Menschen im Sinn von geborener Mensch handelt. Man mag die Idee der Beseelung Humbug finden, klar ist aber, dass sich zwischen Tag Null und Tag Geburt etwas vollzieht, ein Wandel nämlich, von einem Zellhaufen hin zu einem Menschen.

Wenn wir nun sowohl die Idee von „Tag Null“ als auch die Idee der „Beseelung“ ablehnen, was machen wir dann? Die klassische Fristenlösung sagt zwölf Wochen (ab der letzten Menstruation, d.h,. zehn Wochen nach Verschmelzung), die Kommission jetzt schlägt vor, die eigenständige Lebensfähigkeit des Fötus als Kriterium zu nehmen. In den USA wird mit der „Herzschlag“-Theorie (das wäre schon sechs Wochen nach der letzten Menstruation, also vier Wochen nach Verschmelzung und würde faktisch Abtreibungen in aller Regel unmöglich machen) argumentiert.

Ich finde nichts davon überzeugend. Ich bin der Meinung, wir müssen die Zeit der Schwangerschaft als eine neue Kategorie von Lebensweisen verstehen, die Luce Irigaray „Zwei in Eins“ genannt hat. Schwangere und Embryo/Fötus sind nicht zwei Individuen, sondern auf eine sehr spezielle Weise in einer Abhängigkeitsbeziehung, die mit den klassischen philosophischen Denkmustern nicht zu fassen ist. Deshalb würde ich zur Beurteilung der Situation diese Beziehung näher zu fassen versuchen. Und die ist jeweils einzigartig, das heißt, es kann keine allgemeine Regel dafür geben, ab wann „objektiv“ schützenswertes Leben beginnt. Bei manchen Menschen mit sehr starkem Kinderwunsch ist der Embryo selbstverständlich ab Tag Null eine schützenswertes „ungeborenes Kind“. Für eine Frau, die ungewollt schwanger wurde, womöglich sogar nach einer Vergewaltigung, ist das aber vielleicht anders, und es ist völlig legitim, wenn für sie der Embryo ein Fremdkörper ist, der droht, ihren Körper vollständig zu beanspruchen und daher entfernt werden sollte.

Das heißt, wenn die einen sagen „Ein Embryo ist ein ungeborenes Kind ab Tag Null“ und die anderen „Ein Embryo ist nur ein Zellhaufen und kann ohne moralische Bedenken aus dem Uterus entfernt werden“ können durchaus beide Recht haben. Embryonen können sowohl das eine wie auch das andere sein, einfach deshalb, weil sie nicht für sich alleine existieren sondern nur in der Symbiose mit dem lebendigen Körper einer anderen Person. Sie haben keine eigenständige Existenz, sondern sie existieren nur im Rahmen einer Beziehung. Aus diesem Grund erscheint mir von allen Definitionen des „Übergangs“ diejenige am plausibelsten, die den Zeitpunkt der eigenständigen Existenzmöglichkeit des Fötus zugrunde legt.

Von dieser Perspektive aus beantwortet sich auch die Frage nach embryopathischen Abtreibungen. Eine Abtreibung mit dem Grund, dass eine Schwangere kein Kind gebären möchte, ist ethisch meiner Ansicht nach in Ordnung, weil niemand dazu gezwungen werden kann, eine solch körperlich invasive Beziehung zu führen. Eine Abtreibung aus dem Grund, dass eine Schwangere dieses spezielle Kind nicht möchte, weil es vielleicht behindert ist, halte ich für ethisch bedenklich, da es eine Selektion von lebenswertem und nicht lebenswertem Leben bedeutet. Denn im Prinzip will die Schwanger ja ein Kind, nur halt ein anderes. Und das ist eine Selektion nach äußeren Kriterien (also menschenfeindlich) und keine nach der Person. Sie kennt das Kind ja noch nicht.

Die Frage nach dem Strafrecht. Auch wenn ich aus pragmatischen Gründen die Vorschläge der Kommission unterstützen würde, Abtreibungen nach dem Zeitpunkt der Lebensfähigkeit des Fötus (ca. 22. Woche nach der letzten Menstruation, d.h. 20 Wochen nach Verschmelzung) zu verbieten, so erscheint es mir nicht notwendig und eigentlich auch falsch. Denn es ist ein Missverständnis, dass wir alles, was wir ethisch problematisch finden, sofort auch per Strafrecht regeln müssen. Gerade wenn es um Themen geht, die die betroffene Person so unmittelbar und direkt einschränken. „Es gibt keinen Zwang im Glauben“ heißt es im Koran, und das bedeutet, dass es moralische und ethische Überzeugungen gibt, die man selbst ruhig haben kann und an denen man sich auch orientieren kann, ohne dass man sie gleich zum Gesetz für alle macht.

Es ist völlig okay, wenn Menschen sich prinzipiell gegen Abtreibungen aussprechen, und niemand darf jemals zu einer Abtreibung gezwungen oder genötigt werden (auch das in manchen Ländern oder auch Kontexten hierzulande keine Selbstverständlichkeit!). Aber es ist nicht okay, wenn ich meine eigenen Glaubensüberzeugungen anderen vorschreiben will.

Ein Abtreibungsrecht muss zu der allgemeinen Rechtsauffassung passen, und die sieht in Deutschland in der körperlichen Selbstbestimmung ein hohes Gut. Denken wir nur an den Impfpflicht-Bohei, und dann vergleichen wir eine Impfung mit dem Austragen eines Kindes, was die körperliche Inanspruchnahme und auch die Gefährlichkeit betrifft. Oder, anders Beispiel: Es ist verboten, Menschen zu einer Blutspende zu zwingen, auch wenn dadurch Leben gerettet wird. Und ich finde das richtig. Ein Mensch, der an einer Unfallstelle der einzige ist, der durch Blutspende einem Unfallopfer das Leben retten kann, sich aber weigert, ist vielleicht ein Arschloch. Strafrechtlich verfolgt werden darf er aber nicht.

Und analog gilt das auch für Schwangere, die zu einem späten Zeitpunkt oder aus womöglich verwerflichen Gründen abtreiben. Zumal die Zahlen wirklich niedrig sind, und je einfacher und zugänglicher die Möglichkeit von Abtreibungen in einem frühen Stadium sind, desto seltener werden sie in einem späteren Stadium vorgenommen. Zumal praktisch alle Spätabtreibungen eben aus embryopathischen Gründen erfolgen, und somit eine direkte Folge der Behindertenfeindlichkeit unserer Gesellschaft sind.

Zur Frage der Motivation. Bei Kampagnen gegen die körperliche Selbstbestimmung von ungewollt Schwangeren wird immer so getan, als ginge es um den Lebensschutz. Aber das glaube ich nicht. Es geht um die Kontrolle von Frauen und um die Stabilisierung einer gesellschaftlichen Ordnung, die gebärfähige Menschen in den Dienst der Allgemeinheit stellt. Die ihnen eine gewisse „Opferbereitschaft“ abverlangt, wie der Paragraf 219 des StGB.

Woher ich das weiß? Ganz einfach daher, dass es unzählige andere Möglichkeiten gäbe als das Strafrecht, wenn man tatsächlich die Anzahl der Abtreibungen reduzieren wollte. Dazu müsste man sich nur die Gründe anschauen, die ungewollt Schwangere als Motivation angeben, und diese bekämpfen, von wenig Geld über kleine Wohnung bis schlagende männliche Partner, um nur die häufigsten zu nennen. Aber auch schlechte Vereinbarkeit von Kindern und Berufstätigkeit, hohe psychische Belastungen, unklare Zukunftsaussichten, mangelnde soziale Unterstützung, mangelnde Kenntnis über Möglichkeiten und Verhütungsmittel und so weiter. Jede einzelne Maßnahme in so einem Feld würde Abtreibungen unwahrscheinlicher machen und mehr „ungeborenes Leben retten“ als ein Strafrechtsparagraf.

Aus all diesen Gründen bin ich der Ansicht, dass überhaupt nichts dagegen spricht, die ethische Entscheidung darüber, ob in einem konkreten Fall eine Abtreibung vorgenommen wird, der betreffenden schwangeren Person selbst zu überlassen. Soweit erstmal, vielleicht ergänz ich noch, wenn mir noch was einfällt, oder ihr schreibt weitere Gedanken in die Kommentare.

PS: Weg mit § 218! Ich habe einen offenen Brief an die Bundesregierung unterschrieben, zusammen mit 100 andere Frauen_

Ich bin Journalistin und Politologin, Jahrgang 1964, und lebe in Frankfurt am Main.

3 Gedanken zu “Was ist mit dem Ungeborenen?

  1. Sehr geehrte Frau Schrupp,

    danke für den wichtigen Beitrag! Gerade wie Sie im unteren Absatz beschreiben, bleibt allzuoft unbedacht, was nach dem Austragen auf das geschützte Leben zukommen kann. Und Vorallem wer für das weitere schützen des geborenen Lebens hauptverantwortlich gemacht wird in unserer Gesellschaft. Die Person die schwanger war und ggf. nicht selbstbestimmt über (ihr) Leben entscheiden konnte.

    Merci M.

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  2. Liebe Antje, ich habe gerade auf dem Sonntagsspaziergang heftig diskutiert. Und zwar ging es um die Frage der Abtreibung ab dem Zeitpunkt, an dem der Fötus selbst lebensfähig ist. Du schreibst ja, dass du ein Verbot ab diesem Zeitpunkt zwar aus pragmatischen Gründen befürwortest, aber eigentlich unnötig bzw. falsch findest. Wäre es aber angesichts der Tatsache, dass es eben auch „Arschlochfrauen“ gibt, nicht vielleicht doch nötig? Genauso wie angesichts der vielen Freiheit schreienden Querdenker eine Impfpflicht für Pflegepersonal notwendig gewesen ist? Muss ab dem Zeitpunkt der selbständigen Lebensfähigkeit nicht der schwächere Fötus gegen eine mögliche Willkür der Mutter geschützt werden? So wie auch andere schwächere Lebewesen (auch Pflanzen und Tiere) durch das Recht gegen menschliche Willkür geschützt werden? Soweit die Argumentation meines Gesprächspartners. Mich würde nun interessieren: Warum findest du ein Verbot falsch? Ist es nur wie du schreibst, die Überlegung, dass nicht alles, was ethisch bedenklich ist, auch staatlich geregelt werden muss oder hat das auch tiefergehende philosophische Gründe, dass auch nach diesem Zeitpunkt der Zustand des „Nicht eins, nicht zwei“ andauert, bis zur Geburt eben? Liebe Grüße!

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  3. @Anonymus – Es ist eine Abwägung: Der Fötus braucht zum Überleben den Körper der Schwangeren. Und ich bin der Meinung, dass das Benutzen des Körpers einer anderen Person gegen ihren Willen moralisch nicht zu vertreten ist ist, auch nicht aus übergeordneten höheren Gründen. So ähnlich wie beim Blutspendezwang: Mich würde interessieren, ob dein Gesprächspartner auch der Meinung ist, dass man Leute zum Blutspenden zwingen kann? Was ist mit Stammzellenspende bei Leukämie? Ein Zwangsregister, in das alle ihre DNA tun müssen, und wenn man ein passendes Match ist, wird man staatlicherseits verpflichtet, jemandem Stammzellen zu spenden, der sie braucht? Oder Organspende? Wo ist da der Anfang und das Ende? Fordert dein Gesprächspartner auch, dass Spätabtreibungen bei möglicherweise behinderten Föten verboten werden? Wenn nein, warum nicht?

    Das Ding bei einer Schwangerschaft – und das ist die besondere Situation des „Zwei in eins“ – ist, dass niemand die Schwangere ersetzen kann. Wenn wir als Gesellschaft der Meinung sind, dass niemand das Recht auf die Nutzung des Körpers einer anderen Person gegen deren Willen hat, dann gilt das auch für einen Fötus. Das ist Teil der Conditio Humana, der menschlichen Bedingtheit: Manchmal können wir nicht überleben, wenn andere nicht bereit sind, ihre Körper für uns aufzuopfern. Aber das gibt uns nicht das Recht, sie mit Gewalt dazu zu zwingen. Dies gilt auch für Schwangere, meine ich. Abtreibungsverbote sind letztlich ein Zivilisationsbruch, denn sie entmenschlichen die Schwangere, indem sie ihr zentrale Menschenrechte, die wir in allen anderen Situationen für selbstverständlich halten, entziehen. Aber Menschenrechte, die nicht für alle gelten, sind eben keine. Das ist umso problematischer, als es zahlenmäßig wirklich kaum ins Gewicht fällt. Und bei anderen gesellschaftlichen Verhältnissen noch viel weniger. Hier geht es ums Prinzip, nicht um den Schutz von Föten. Und das Prinzip heißt Kontrolle der Gebärfähigkeit. Es geht darum, dass „das letzte Wort“ auf keinen Fall die Schwangere haben darf.

    Die geringen Fallzahlen sind im Übrigen auch das, was das Thema Spätabtreibungen von der Impfpflicht unterscheidet. Beim Thema Impfpflicht ging es um eine sehr minimale invasive Maßnahme, die einer potenziell gefährlichen gesellschaftlichen Situation, die das gesellschaftliche Leben stark hätte beeinträchtigen können. Bei Spätabtreibungen geht es um eine Handvoll Fälle im Jahr, es sei denn, man würde pathologische Indikationen auch dazu zählen, um den Preis einer sehr extremen körperlichen Beanspruchung und Belastung. Von daher: Ja, es kann Situationen geben, in denen der Staat durchgreifen muss bei sowas, aber das braucht schwerwiegende Gründe. Bei Spätabtreibungen erscheint es mir das einfach nicht der Fall zu sein.

    Schließlich noch die Argumentation von „Fötus gegen die Mutter schützen“. Das geht eben wegen der „Zwei in eins“-Existenzweise nicht. Schädigt man die Mutter, schädigt man auch den Fötus. Es ist eine falsche Logik, hier gegensätzliche Interessen hineinzulesen.

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