Den Staat geht unser Geschlecht nichts an

Mit welcher Legitimation darf der Staat eigentlich ein Geschlecht der Bürger*innen definieren? Die ganze aktuelle Debatte um Selbstbestimmungsgesetz springt eigentlich zu kurz, wenn man es genau durchdenkt. Denn sobald Gleichberechtigung gilt, braucht der Staat mein Geschlecht nicht zu kennen. Ansonsten braucht eine bestimmte Art von Quoten-Gleichheits-Feminismus die Geschlechtsbestimmung, aber die ist finde ich eh politisch gescheitert. Differenzpolitik funktioniert über die Praxis der Beziehungen, nicht über Formalia. Und eine politische Praxis der Differenz braucht keine Definitionen von Geschlecht. Sondern eben ein Bewusstsein für Unterschiede, die konkret in einer Situation relevant sind. Ich finde, Forderung muss sein: Geschlecht raus aus dem Personenstand. Denn staatliche Geschlechtsbestimmung ist nur notwendig, wenn Menschen auch je nach Geschlecht unterschiedlich behandelt werden sollen. Ein häufig vorgebrachter Einwand gegen meinen Vorschlag (hier etwa im Facebook-Thread dazu) lautet, dass das Patriarchat noch nicht zu Ende sei und dass wir (staatliche) Geschlechtsbestimmungen noch bräuchten, um das abzuwickeln. Die klassischen Beispiele sind „Frauenschutzräume“ und „Frauenquoten“. Nun war ich bekanntlich noch nie

read more Den Staat geht unser Geschlecht nichts an

Der deutsche Pazifismus als säkularisiertes Christentum

These: Ein Grund, warum der deutsche Pazifismus als Idee momentan so wenig überzeugt, weil ihm in der akuten Kriegssituation nicht viel anderes einzufallen scheint, als die Angegriffenen aufzufordern, sich dem Aggressor zu unterwerfen (oder das vielleicht nicht direkt fordert, aber der Aufruf, ihnen nicht bei der Verteidigung zu helfen, läuft natürlich auf genau dasselbe hinaus), liegt glaube ich auch darin, dass keine alternativen Vorstellungen von Gerechtigkeit und wie man sie effektiv erreicht entwickelt wurden. Der Fokus wurde darauf gelegt, potenzielle Aggressoren abzurüsten, die Nato, die USA, die Bundeswehr. Und das ist ja auch keine schlechte Idee. Was dieser ganzen Perspektive aber zugrunde liegt ist die Überzeugung, dass man selbst auf der Seite der Stärkeren ist, also derer, die potentiell Gewalt ausüben und nicht derer, die potentiell Gewalt erleiden. Das liegt natürlich daran, dass wir Erb*innen des Nazi-Täter-Volkes sind, aber es liegt auch an einer gewissen Überheblichkeit im Geist, man ist schlicht aufgrund der eigenen Privilegiertheit gar nicht emotional in der

read more Der deutsche Pazifismus als säkularisiertes Christentum

Die ersten Pfarrerinnen in Polen – und einige Gedanken zur Ambivalenz von Emanzipationserfolgen

Wer mich schon länger kennt, weiß, dass ich nur mittelmäßig begeistert von der Emanzipation bin. Nicht, dass ich etwas dagegen hätte, im Gegenteil: Ich finde, dass Gleichberechtigung etwas dermaßen Selbstverständliches sein sollte, dass ich mich weigere, darüber besondere Freude zu empfinden. Vorige Woche habe ich in Warschau an der Ordination der ersten lutherischen Pfarrerinnen der evangelisch-augsburgischen Kirche Polens teilgenommen, in meiner Funktion als Präsidiumsmitglied der Evangelischen Frauen in Deutschland (EFiD). Selbstverständlich kann ich die Freude der ordinierten Frauen sehr gut nachvollziehen. Es ist keineswegs eine banale Angelegenheit, endlich in dem, was man tut, auch kirchenoffiziell anerkannt zu sein. In diesem Fall war das besonders sichtbar, weil die jetzt ordinierten Frauen allesamt schon seit Jahren als Pfarrerinnen arbeiten. Ihre Aufgaben sind schon längst exakt dieselben wie die ihrer männlichen Pendants, nur dass sie keine “Pastorinnen”, sondern “Diakoninnen” gewesen sind. Deshalb ändert sich für sie mit der Ordination in ihrem Arbeitsalltag nun auch kaum etwas. Außer dass sie nun auch die weißen

read more Die ersten Pfarrerinnen in Polen – und einige Gedanken zur Ambivalenz von Emanzipationserfolgen

Abtreibungsverbote sind Menschenrechtsverletzungen

Um diese These ergab sich drüben bei Facebook eine lange Diskussion, die poste ich hier mal, damit sie nicht verloren geht. (PS: Im Schusseligen heute morgen hatte ich in der Überschrift versehentlich „Abtreibungen sind Menschenrechtsverletzungen“ geschrieben, was natürlich irgendwie peinlich ist, aber da meine Meinungen dazu ohnehin bestens bekannt sind, wird das wohl niemanden auf eine falsche Fährte geführt haben).

Pazifismus ist nicht das Gegenteil von Militarismus, es ist etwas anderes.

Pazifismus ist nicht das Gegenteil von Militarismus, es ist etwas anderes. Der Grundfehler unserer Kultur ist vielleicht der, dass wir wirklich „etwas anderes als“ und „das Gegenteil von“ nicht auseinanderhalten können. Bei den Geschlechtern ist es ja auch so. Nur so lässt sich zum Beispiel erklären, dass der Titel von Simone de Beauvoirs Buch „Das zweite Geschlecht“ im Deutschen mit „Das andere Geschlecht“ übersetzt werde konnte, was eine ziemliche Verfälschung ist. Aber es gibt noch eine Million andere Beispiele für diesen Fehler. Die Verwechslung von „anders als“ und „das Gegenteil von“ geht auf Aristoteles zurück, meint Andrea Günter in ihrem aktuellen Buch Geschlechterdifferenz und Philosophie, das ich hier rezensiert habe. Denn Aristoteles hat nicht nur die Geschlechter binär konstruiert, er hat diesen Dualismus auch noch zur Metaphysik der Welt erklärt (besser gesagt: das war der eigentliche Zweck der Übung – ihm ging es nicht um die Geschlechterdifferenz, ihm ging es um ein Prinzip der Welt) Und das hat unser Denken

read more Pazifismus ist nicht das Gegenteil von Militarismus, es ist etwas anderes.

Gender und sexuelle Differenz

Ich werde öfter mal gefragt, wie eigentlich das Verhältnis zwischen italienischem Differenzfeminismus und LGBTQ- bzw. Queerfeminismus ist. Jetzt hat die Philosophinnen-Gemeinschaft Diotima in Verona eine Veranstaltungsreihe zum Thema „Gender und sexuelle Differenz – Blicke und Worte im Übergang“ gemacht, die teilweise auch auf Youtube steht. Eine Zusammenfassung der ersten Diskussion zwischen Christian Ballarin und Chiara Zamboni habe ich gerade bei bzw-Weiterdenken.de eingestellt, Fortsetzung folgt. Diskussionen über Gender und sexuelle Differenz, Teil 1

Feminismus und Krieg

Ist es nicht sehr erstaunlich, wie wenig geschlechterpolitische Analysen in diesem Krieg eine Rolle spielen? In der medialen Begleitdebatte scheint sich kaum jemand zu trauen, Worte wie „Feminismus“ oder „Frauen“ in den Mund zu nehmen. Dass die Verhandlungsdelegationen ausschließlich aus Männern bestehen, wird als selbstverständlich zur Kenntnis genommen. Auch dass die stärksten inländischen Proteste sowohl gegen Putin (Pussy Riot) als auch gegen Lukaschenko feministische Proteste waren, spielt in den Analysen keine Rolle. Meiner Ansicht nach ist ein Großteil der westlichen Fehlanalysen und Fehleinschätzungen gegenüber Putin auch darin zu sehen, dass seine Unterdrückung von Feminismus und Queeren für nebensächlich gehalten wurde. Dabei ist sie ein Pfeiler seiner Herrschaft. Ich bin auch der Meinung, dass die Bewunderung, die ihm von Machthabern überall auf der Welt (Erdogan, Schröder usf) entgegengebracht wird auch etwas mit seiner Performance von Männlichkeit zu tun hat. Über das „männliche Imaginäre“ schrieben wir 1999 schon hier – und es ist doch bei Putin so überdeutlich zu sehen! Auch Merkels

read more Feminismus und Krieg

Pro und Contra ist nicht die Frage. Gegen die Logik der Culture Wars.

Die Crux ist, dass Putins Narrativ, wonach „westliche Werte“ keine universalen Werte seien, den Finger in die Wunde legt. Diese Idee ist gut, aber wir haben sie eben selbst nie umgesetzt. Freiheit etc. schön und gut, aber nicht für Schwarze. Demokratie schön und gut, aber Frauen dürfen nicht wählen. Menschenwürde schön und gut, aber für die Armen nicht unbedingt. Solidarität ja, aber nur wenn sie nicht zu viel kostet. Das macht das Konzept natürlich für alle außerhalb der „Mitgemeinten“ problematisch. Das Problem ist glaub ich, dass wir „im Westen“ in den vergangenen zwei, drei Jahrzehnten nicht nur unsere Infrastruktur haben verrotten lassen, sondern auch die Weiterentwicklung unserer kulturellen Werte, die wir in sinnlosen „Culture Wars“ verheizt haben, anstatt wirklich darüber konstruktiv zu debattieren. Eine Möglichkeit, sich der diskursiven Logik von Culture Wars zu entziehen, ist, pro-con-Debatten zu verweigern. Sondern zu fragen, inwiefern etwas gut ist und inwiefern schlecht. Was daran ist problematisch, was daran ist nicht problematisch und vielleicht sogar

read more Pro und Contra ist nicht die Frage. Gegen die Logik der Culture Wars.

Wer Bullies gewähren lässt, ist selbst gewalttätig

Vielleicht lernen wir das ja jetzt mal generell: Bullies keine Grenzen zu setzen, ist kein Pazifismus. Wichtiger als Gewaltfreiheit, die natürlich immer vorzuziehen ist, ist die Effektivität der Maßnahme. Sie ist der Maßstab. Wer Bullies gewähren lässt, ist selbst gewalttätig. Die einzigen die sich gegenüber einem Angriff dafür entscheiden können, die andere Wange hinzuhalten, sind die Opfer des Angriffs selbst. Niemand anderes ist moralisch legitimiert, das von ihnen zu verlangen oder auch nur zu erwarten. Hier hat die christliche Ethik in der Vergangenheit nicht präzise genug analysiert. Der Grund für diesen fatalen Irrtum, der ein eigentlich gutes Prinzip (Gewaltfreiheit) ad absurdum geführt hat, ist das patriarchale Menschenbild, wonach es legitim ist, für andere zu entscheiden. (Wenn man ein alter weißer Mann ist und die anderen nicht). Vielleicht müssten wir die gesamte Ethik und Moralphilosophie heute neu aufrollen und bei der Analyse statt dem Kriterium „was ist richtig?“ das Kriterium „wer entscheidet?“ anlegen. Stichwort: Victim Blaming. Auch mit dieser patriarchalen Behauptung,

read more Wer Bullies gewähren lässt, ist selbst gewalttätig