Mit welcher Legitimation darf der Staat eigentlich ein Geschlecht der Bürger*innen definieren? Die ganze aktuelle Debatte um Selbstbestimmungsgesetz springt eigentlich zu kurz, wenn man es genau durchdenkt.
Denn sobald Gleichberechtigung gilt, braucht der Staat mein Geschlecht nicht zu kennen. Ansonsten braucht eine bestimmte Art von Quoten-Gleichheits-Feminismus die Geschlechtsbestimmung, aber die ist finde ich eh politisch gescheitert. Differenzpolitik funktioniert über die Praxis der Beziehungen, nicht über Formalia. Und eine politische Praxis der Differenz braucht keine Definitionen von Geschlecht. Sondern eben ein Bewusstsein für Unterschiede, die konkret in einer Situation relevant sind.
Ich finde, Forderung muss sein: Geschlecht raus aus dem Personenstand. Denn staatliche Geschlechtsbestimmung ist nur notwendig, wenn Menschen auch je nach Geschlecht unterschiedlich behandelt werden sollen.
Ein häufig vorgebrachter Einwand gegen meinen Vorschlag (hier etwa im Facebook-Thread dazu) lautet, dass das Patriarchat noch nicht zu Ende sei und dass wir (staatliche) Geschlechtsbestimmungen noch bräuchten, um das abzuwickeln. Die klassischen Beispiele sind „Frauenschutzräume“ und „Frauenquoten“. Nun war ich bekanntlich noch nie eine große Freundin von Quoten, aber selbst wenn, ist ja jeder Organisation überlassen, weiterhin Quoten zu haben. Und dann sollte sie die so definieren und umsetzen, wie es ihr angemessen ist. Zumal ja inzwischen auch klar ist, dass reine Geschlechterquoten nur so mittelgut sind, und die meisten Organisationen sowieso längst über komplexere Formen von Diversity nachdenken, weil es ja auch darum geht, andere traditionell unterrepräsentierte Gruppen im Blick zu haben.
Zum Thema Schutzräume: Auch da hat sich die Welt ja lange weiter gedreht. Traditionelle Frauenräume sind seltener geworden, viele haben komplexere Rahmenbedingungen, etwa indem sie auch Transmänner oder generell FLINTA zulassen, oder auch männliche Feministen und so weiter. Auch hier kommt es ja auf den jeweiligen Kontext an. Ich habe hier schon vor vielen Jahren darüber geschrieben, warum ich finde, dass Männer bei Frauenveranstaltungen zugelassen werden sollten.
Das heißt doch nicht, dass alle überall hindürfen und es keine Schutzräume für bestimmte Gruppen mehr geben soll – Diskriminierung ist etwas Gutes!
Sondern worauf ich hinauswill ist, dass die Kategorie „Geschlecht“ als solche für staatliches Handeln nicht mehr einleuchtet. Sie ist ein Relikt aus dem Patriarchat, das jetzt zu Ende geht.
Dieses Ende ist nicht immer schön, aber trotzdem genügen die traditionellen Kategorien nicht mehr. Wir haben längst ganz andere wichtige Unterscheidungslinien, die mit „Geschlecht“ nur sehr grob und häufig unzutreffend kategorisiert sind.
Gewalt gegen Mithäftlinge ist so ein Beispiel – das ist ja eines der meistzitierten Beispiel gegen geschlechtliche Selbstbestimmung, dass dann lauter Männer behaupten würden, sie seien Frauen, um ins Frauengefängnis zu kommen. Mal ganz abgesehen davon, wie realistisch das ist: Natürlich ist es sehr wichtig und überfällig, das Problem von Gewalt gegen Mitgefangene im Knast anzugehen. Ich sehe aber nicht, dass das was mit Geschlechtseintrag zu tun hat. Auch im Männerknast leiden sehr viele Menschen darunter, dass ihnen von Mithäftlingen Gewalt angetan wird. Ist das egal, nur weil es Männer sind? Und ist Gewalt gegen mitinhaftierte Frauen egal, sobald sie von einer anderen Frau ausgeübt wird? Man sieht doch hier sehr gut, wie das Insistieren auf Geschlecht eine Scheindebatte auslöst, die das eigentliche Problem verschleiert.
Ein anderes Beispiel sind Abtreibungsgesetze. Ich glaube ja, dass ein Faktor, der die gegenwärtige Anti-Abtreibungs-Kampagnen in konservativ-fundamentalistischen Kreisen so erfolgreich macht, auch der demografische Wandel ist: Die Anzahl derjenigen Frauen in diesen Communities, die aus Altersgründen davon gar nicht mehr betroffen sind, weil sie nicht mehr schwanger werden können, ist einfach so groß, dass diejenigen, die es ausbaden müssen (Menschen mit Uterus im gebärfähigen Alter) zahlenmäßig längst weit weniger als die Hälfte sind. Wenn dann aber argumentiert wird „Frauen unterstützen diese Kampagnen auch“, dann ist hier Geschlecht unzulässigerweise an die Stelle es eigentlichen Kriteriums gesetzt worden („Ist potenziell von dem Verbot betroffen“) usw…
Auch Leihmutterschaft wird derzeit noch entlang der Geschlechterdifferenz falsch argumentiert, wenn man es als „Männer beuten Frauenkörper aus“ framed. Denn die Auftraggeberinnen, die Leihmütter ausbeuten, sind häufig auch Frauen. Und so weiter und so weiter. Ich könnte mit den Beispielen endlos weitermachen. Im Sport etwa spielt die Geschlechterdifferenz ja auch nur eine grobe Rolle, weil etwa der statistische Leistungsunterschied zwischen XX und XY-Menschen in manchen Sportarten sehr groß ist (Kugelstoßen), in anderen aber gar nicht vorhanden. Auch da wäre es besser, statt der groben Geschlechterdifferenz eine je nach Sportart passende Differenzierung zu wählen (im Gewichtheben oder bei Jockeys usw. gibt es das ja schon).
Die Geschlechterdifferenz, bzw. die Behauptung, dass alle Unterschiede zwischen Menschen auf ihre reproduktive Körpervariante zurückzuführen wären und wir deshalb nichts unterscheiden müssen außer zwischen Frauen und Männern, ist einfach schon immer falsch gewesen, hat hauptsächlich dazu gedient, Menschen, die schwanger werden können, zu entrechten, und hat in einem Zeitalter von weiblicher Freiheit und Gleichberechtigung einfach gar keinen Sinn mehr.
Ganz im Gegenteil, sie ist kontraproduktiv, weil sie aktiv verhindert, dass wir uns der wirklich dahinter stehenden Probleme annehmen, die nämlich komplexer (und intersektional) sind, UND weil die tatsächlichen Anliegen und Bedürfnisse von Menschen entlang der reproduktiven Differenz dabei noch mit unter den Tisch gekehrt werden. Denn die Interessen von Menschen, die schwanger werden können, die schwanger sind, die menstruieren, die Kinder betreuen, die stillen und so weiter geraten aus dem Fokus, wenn man sie ständig und sofort mit Geschlechterdiskursen und -konzepten vermengt. Die reproduktive Differenz und Gender hängen miteinander zusammen, sie sind aber nicht identisch, und wir brauchen in der Debatte über diese Themen mehr Sorgfalt und Komplexität, nicht weniger.
Nur, um das klarzustellen: Ich plädiere nicht dafür, die Geschlechterdifferenz „abzuschaffen“, ich bin weiterhin klar gegen „Post-Gender“. Ich halte mein Frausein weiterhin für den Angelpunkt meiner Freiheit und so weiter. Aber ich finde, fixe Definitionen von Geschlechtlichkeit sind kontraproduktiv. Die reproduktive Differenz menschlicher Körpervarianten ist eine Tatsache, aber Geschlecht ist etwas anderes.
Zu sagen: „Es ist ein Skandal, dass nur Menschen mit Penis wählen dürfen“ klingt einfach ganz anders als „Es ist ein Skandal, dass nur Männer wählen dürfen“, denn in der ersten Variante wird genau die Absurdität deutlich, die darin steckt, wenn gesellschaftliche Rollen an Körpervarianten geknüpft werden, die mit der Rolle gar nichts zu tun haben. Erst die Verbindung mit einem sozialen Konzept namens „Männlichkeit“ macht aus dem Penisbesitz eine (vermeintliche) Legitimation, verschleiert also die eigentliche Absurdität.
Ich kann deshalb sehr gut verstehen, dass Frauen nicht „Menschen, die menstruieren“ genannt werden möchten, denn beides ist nicht dasselbe. Frausein ist mehr, Frausein ist eine politische Positionierung, bettet mich ein in eine Kultur, eine Zeitepoche, eine symbolische Ordnung. Aber genau das ist eben auch der Grund, warum es wichtig ist, beides zu unterscheiden – und jeweils in einer konkreten Situation über dies oder jenes zu sprechen.
Von daher: die Geschlechterdifferenz ist immer noch extrem wichtig, Post-Gender kompletter Quatsch, und wir müssen eher mehr als weniger über Gender UND über reproduktive Körpervarianten sprechen. Aber eben genau, aufmerksam, differenzierend und nicht, indem wir alles in einen großen Brei rühren.
Vor allem aber ist das eine kulturelle Arbeit am Symbolischen, und nichts, worin sich der Staat einzumischen hätte.
PS: Gerade werde ich darauf hingewiesen, dass das Urteil des Bundesversfassungsgerichts zum dritten Geschlechtseintrag von 2017 explizit auf die Möglichkeit hinweist, den Geschlechtsvermerk im Personenstand generell wegzulassen (Abschnitt 65). Überhaupt ist das Urteil sehr lesenswert, hier ist der Link.
PPS: Update – gestern habe ich Deutschlandfunk Kultur ein Interview zu dem Thema gegeben, es ging um die Eckpunkte des Selbstbestimmungsgesetzes. Hier der Link.
Interessant, und Ihre Beispiele einleuchtend. Mich würde noch interessieren, wie Sie zu den Bereichen Sportunterricht (inkl deren Umkleiden) und Wehrpflicht stehen – beides staatliche Angelegenheiten, bei denen nach Geschlechtern separiert wird.
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@Mi – ich weiß nicht, ob das verbindlich geregelt werden muss, es kommt ja auch darauf an, welches Bedürfnis nach Unterscheidung da jeweils ist. Ich finde persönlich eigentlich die Regelung gut, die sich in manchen Organisationen anstelle der traditionellen Männer-Frauen-Unterscheidung etabliert hat, nämlich „All Genders“ und „FLINTA“, d.h. es gibt einen Bereich, in den Cis-Männer nicht reindürfen. Aber ich kann mir vorstellen, dass es da keine Allgemeingültigkeit Regelung braucht.
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