Beim Nachdenken über die Art und Weise, wie wir heutzutage die eugenische Selektion von nicht erwünschten Föten praktizieren (über 90 Prozent der Wunsch-Kinder werden abgetrieben, wenn sie laut Pränataldiagnostik Trisomie21 haben), während man gleichzeitig so tut, als gäbe es keine eugenische Selektion (offiziell ist nicht die befürchtete Normabweichung der Föten der Grund für diese Abtreibungen, sondern die psychische Befindlichkeit der Schwangeren), kam mir heute eine Idee, wie man das eigentlich noch zugespitzter analysieren müsste.
Zunächst dachte ich, dass hier eine allgemeingesellschaftliche Heuchelei auf dem Rücken von Frauen betrieben wird: Einerseits wird ein moralischer Standard hochgehalten („Nein, bei uns gibt es keine eugenische Selektion!“), gleichzeitig kommt er faktisch aber nicht mal in jedem zehnten Fall zur Anwendung. Und anstatt das offen zuzugeben und als Gesellschaft zu den eigenen Prioritätensetzungen zu stehen („Kinder mit Behinderungen werden bei uns nur ausnahmsweise ausgetragen, sozusagen als Privathobby der beteiligen Eltern, normal finden wir das aber nicht“) werden Schwangere quasi per Default zu psychisch Kranken erklärt: Weil ja angeblich ihre psychische Befindlichkeit im Einzelfall der Grund für die Abtreibung ist, ist die Gesellschaft sozusagen fein raus. Verantwortung erfolgreich abgeschoben.
Aber dann fiel mir auf, dass das Thema größer ist. Ich könnte mir nämlich vorstellen, dass ein solches Sich-in-die-Tasche-Lügen bald auch so ähnlich in Bezug auf Sterbehilfe um sich greifen wird. Gerade ist ja ein Gesetz verabschiedet worden, das geschäftsmäßige Beihilfe zum Suizid verbietet. Gleichzeitig wünschen sich aber immer mehr Menschen eine legale und praktikable Möglichkeit, sich bei einem Suizid helfen zu lassen. Und auch da böte sich eine „psychische Krankheit“-Lösung an: Man könnte den moralischen Fake („Bei uns gibt es keine organisierte Sterbehilfe…“) aufrechterhalten, indem man psychisch bedingte Ausnahmen zulässt („… außer in den Fällen, wo die Betroffenen psychisch krank sind.“)
Und wenn man dann noch einen Schritt zurücktritt, ist das, worum es eigentlich geht, eine Care-Krise. Denn wäre Care, also Sorgearbeit, bei uns ein zentraler Wohlstandsindikator und würde entsprechend für wichtig erachtet, dann könnten diese Themen völlig anders diskutiert werden.
Dann kämen Eltern eines behinderten Kindes nicht in Versorgungs-Engpässe: Sie könnten, je nach Belieben, ihre Erwerbsarbeit reduzieren oder gesellschaftliche Hilfen in Anspruch nehmen, oder beides. Ich glaube nicht, dass die eugenischen Abtreibungen dasselbe Ausmaß hätten, wenn die Schwangeren keine Angst haben müssten, und zwar vollkommen berechtigt, mit der Betreuungsaufgabe allein gelassen zu werden. Dasselbe gilt für den Wunsch, das eigene Leben im Fall von Pflegebedürftigkeit und Krankheit zu beenden: Gäbe es qualitativ hochwertige Pflege in Hülle und Fülle, wäre die Angst weniger groß. Und hätten wir eine Kultur mit einem inklusiven Menschenbild, wo nicht nur die Starken und Leistungsfähigen etwas gelten sondern alle, dann fänden wir es auch nicht so schwer erträglich, diesem Bild nicht zu entsprechen. Sicher, vermutlich gäbe es auch dann noch Schwangere, die partout kein behindertes Kind austragen wollen, und Menschen, die ihr Leben beenden möchten. Aber das wären dann tatsächlich freie Entscheidungen, und keine von den Umständen getriebenen.
Doch so ist es bekanntlich nicht. In Zeiten, wo alle Erwachsenen dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen müssen, haben Eltern ja schon kaum genug Zeit, ihre voll funktionstüchtigen und normentsprechenden Kinder zu versorgen, geschweige denn solche mit größerem Betreuungsbedarf. Und in Zeiten, wo Pflege sich betriebswirtschaftlich rechnen muss, ist es nun einmal unwirtschaftlich, alte Leute gut zu versorgen. Die in den Debatten viel beschworene Palliativversorgung, die das Leben auch bei Krankheit und großer Pflegebedürftigkeit lebenswert machen kann, die gibt es zwar tatsächlich. Aber nur in der Theorie. Ja, Reiche können sie sich kaufen. Aber die Krankenkassen finanzieren sie nur für schwer und unumkehrbar Todeskranke in ihren letzten zwei, drei Lebenswochen. Viele Suizidwillige haben aber gerade Angst vor langem Siechtum, zum Beispiel nach einem schweren Schlaganfall. Dann steht ihnen aber nur die bekanntlich schlechte 0-8-15-Pflege zu. Alle Menschen bei Bedarf ohne Wenn und Aber gut zu versorgen, das ist mit einer an materiellem Profit orientierten Wirtschaftsweise faktisch nicht vereinbar. Jedenfalls sind wir davon meilenweit entfernt.
Wer sich angesichts dieser Rahmenbedingungen für die Abtreibung eines voraussichtlich behinderten Kindes oder für einen Suizid entscheidet (und sich dafür Hilfe wünscht), handelt nicht unmoralisch und ist schon gar nicht psychisch labil. Sondern handelt angesichts der gegebenen Verhältnisse und den ihnen zugrunde liegenden Normen rational. Höchstens könnte man ihm oder ihr vorwerfen, die eigene Situation bloß individuell zu betrachten und nicht politisch zu skandalisieren. Aber dieser Vorwurf gilt ja uns allen, nicht nur den Betroffenen.
Weder Abtreibung noch organisierte Sterbehilfe sollten deshalb meiner Ansicht nach gesetzlich verboten sein, denn beides betrifft die körperliche Selbstbestimmung. Trotzdem bin ich der Ansicht, dass eine Gesellschaft ethisch versagt, wenn in ihr die eugenische Selektion von Kindern oder Suizide am Lebensende gängige Praxis sind. Gesetze oder Pseudogesetze zu machen, die dazu dienen, diesen Fakt zu verschleiern, indem sie strukturelle Probleme zu psychischen Problemen Einzelner umdefinieren – das ist meiner Meinung nach schlimmer als offen zu dem zu stehen, was man tut. Der Kapitalismus soll, wenn er denn schon Hegemonie beansprucht, wenigstens seine hässlichen Auswirkungen in aller Deutlichkeit ausstellen und nicht hinter moralischen Nebelschwaden verstecken.
Ich habe selten einen Text gelesen, der meine eigenen Gedanken zum Thema so auf den Punkt bringt – Danke dafür! Den Satz rahme ich mir gesondert ein:
„Alle Menschen bei Bedarf ohne Wenn und Aber gut zu versorgen, das ist mit einer an materiellem Profit orientierten Wirtschaftsweise faktisch nicht vereinbar.“
Und noch eine Anmerkung zum Schluss-Satz.
„Der Kapitalismus soll …“ Das ist ein frommer Wunsch – oder? Die Protagonisten des Kapitalismus werfen die Nebelkerzen doch ganz bewusst um die hässliche Fratze zu verstecken. Wenn diese sichtbar wäre, würden die Glaubenssätze des Kapitalismus schnell in sich zusammen fallen.
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Die Doppelmoral sehe ich in dieser Gesellschaft auch. Sowohl bei Abtreibungen als auch bei Sterbehilfe.
Aber auch hier gibt es einen individuellen Aspekt den du übersiehst: Völlig unabhängig vom Kapitalismus (selbst in einer maximal idealen Gesellschaft bei allerbester Pflege) kann ich individuell zu dem Ergebnis kommen das meine (durch Krankheit bedingte) Lebensqualität auf ein Niveau gesunken ist das ich persönlich für nicht mehr akzeptabel halte. Und das ist Krankheitsbedingt, nicht Gesellschaftsbedingt! Und da sollte mir ein einfacher Ausweg in den Tod angeboten werden. So wie in der Schweiz.
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Sehr erhellender Artikel! Danke!
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Liebe Antje, schon lange beschäftigt mich dieses Thema, und ich kenne es ja auch aus meinem Leben – und auch aus der Begleitung von Schwangeren, aber auch in der Begleitung von Sterbenden und von Angehörigen. Ich kann Deinen Worten nichts hinzufügen – außer dass ich mir schon lange die Frage stelle, wer denn wirklich die „psychisch Kranken“ in unserer Welt sind: die, die in Therapie gehen? Oder jene, die gar nicht zu wissen scheinen, wie menschliches Miteinander gestaltet werden kann, und die achtlos unseren Planeten ausbeuten und zerstören (und die selbstverständlich niemals in Therapie gehen würden)?
just a few thoughts … mit lieben Grüßen aus Wien!
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eine sehr kluge analyse der „notlügen“ unserer gesellschaft und ihrer individuen. verantwortung wird individualisiert und der erklärungsnotstand icd-10-konform wegeskamottiert. „wenn das wort ,schuld’ ausgesprochen wird, beenden sie sofort das gespräch“, hatte der psychiater zu meiner klientin gesagt.
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Ich kenne eine recht nüchterne Frau, die das unverblümt so eingestanden hat. Sie erzählte von der Fruchtwasseruntersuchung und dass sie abgetrieben hätte, wenn es ein behindertes Kind gewesen wäre. Begründung: Hier auf dem Land gibt es ja keine passenden Einrichtungen, da müsste ich den halben Tag extra durch die Gegend fahren.
Eine andere Frau, praktizierende Katholikin, wurde als Schwangere mit gut 35 Jahren mehrfach gefragt, ob sie nicht doch testen möchte. Ihre Einstellung, dass sie das Kind so annehmen will wie es kommt, passte der Gynäkologie anscheinend nicht ins Schema.
So unterschiedlich sie waren, sie wussten was sie wollten und schoben nicht ihre Psyche vor.
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Ich war schwanger mit meinem dritten Kind. Ich war älter und erfahrener wie bei den letzten zwei malen. Bei eine Gynäkologische Untersuchung bei meine damalige Gynäkologin, hat Sie mir gesagt(gesagt, nicht gefragt) das beim nächsten Mal die Nackenfalte Untersuchung fällig wäre, ich sollte biete die Einwilligung in Empfang unterschreiben. Dann sagte ich, das sei nicht nötig, diese Untersuchung möchte ich nicht machen. Dann fragte Sie ob ich in Kenntnis wäre was ich da Tat. Dann sagte ich, ja, ich wusste es sehr genau. Dann sagte Sie, WORTLICH, also möchten Sie ein mongoloides Kind auf die Welt bringen?, dann bin ich aufgestanden und gegangen. Natürlich zum letzten mal. Ich wurde mir wünschen das für dieser Gynäkologin Konsequenzen geben könnte, ich glaube aber nicht. Außer zu Ihr nie wieder zu gehen, habe ich nichts unternommen. Ich bin nicht religiös. Gar nicht. Aber ich bin immer noch sauer. So was ich nicht richtig. So schafft unserem Gesundheitsystem legale eugenische Selektion. Und der normale Patient kriegt das gar nicht mit, der Patient macht ja nur das Beste für die eigene Gesundheit und der ihres ungeborenen Kindes. Mahlzeit.
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