Es geht nicht um verletzte Gefühle

Eine immer wieder kehrende Argumentationsfigur im Zusammenhang mit Kritik an sexistischen oder rassistischen Vorfällen ist das Bedauern darüber, dass Gefühle verletzt wurden: Das sei keineswegs beabsichtigt gewesen. „Es war nie unsere Absicht, mit dem Film die Gefühle der Zuschauer zu verletzen oder gar frauenfeindlich zu wirken“ schrieben etwa die Verantwortlichen für einen Werbeclip des Energiekonzerns Eon, in dem Gewalt gegen Frauen verharmlost wurde. Und der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer schrieb kürzlich, die Kritik an einer rassistischen Süßwarenbezeichnung sei berechtigt, denn „eine solche Bezeichnung kann Menschen, die Erfahrungen mit Rassismus in unserer Gesellschaft gemacht haben, verletzen.“ (Das sind nur zwei Beispiele, die mir jetzt spontan einfallen, falls Ihr weitere wisst, gerne in die Kommentar schreiben). Immer wenn ich eine solche „Entschuldigung“ lese, werde ich fast noch ärgerlicher als über den ursprünglichen Sachverhalt. Denn der Verweis auf die angeblich verletzten Gefühle der Kritiker_innen ist keineswegs ein Entgegenkommen, wie es den Anschein erweckt, sondern ganz im Gegenteil die Verweigerung einer ernsthaften Auseinandersetzung. Es wird

read more Es geht nicht um verletzte Gefühle

Definitionsmacht

Darüber wollte ich schon länger etwas bloggen, aber irgendwie brauche ich für sowas immer einen konkreten Anlass, und der kam heute morgen über meinen Feedreader. Heise berichtet darüber, dass einem verurteilten Straftäter nicht der Zugang zum Internet gesperrt werden darf: Anlass für das Urteil war der Fall eines 55-jährigen Voyeurs. Er war verurteilt worden, weil er mit einer in einer Shampoo-Flasche mit einem Loch versteckten Handykamera ein vierzehnjähriges Mädchen beim Duschen fotografiert hatte. Dummerweise ging der Blitz in der Shampoo-Kamera los, wodurch das Mädchen aufmerksam wurde, das den Mann daraufhin anzeigte. Das interessante Wort ist natürlich das „Dummerweise“, denn es macht sehr schön die „Positionierung“ des Autors dieses Artikels deutlich: Er identifiziert sich in der ganzen Geschichte mit dem fotografierenden Voyeur, und nicht etwa mit dem Mädchen oder dessen Eltern und Freundinnen. Diese selbstverständliche Einnahme der Perspektive eines erwachsenen, weißen, gesunden Mannes beim Erzählen gesellschaftlicher Geschichten ist ein Überbleibsel unserer patriarchalen Kultur, die diese Sorte Mensch zur Norm erklärt hat,

read more Definitionsmacht

Gespräch über Gott und die Welt

Mit einer Frage von Benni auf Formspring begann vor ein paar Tagen dieses Gespräch über Gott und die Welt, das dann in philosophischen Überlegungen zu Immanenz und Transzendenz mündete. Ich finde es interessant genug, um hier sortiert auch im Blog dokumentiert zu werden. Vielleicht möchten sich ja andere auch noch daran beteiligen… Benni: Stimmt es, dass Du „Gott“ und „Gutes Leben für Alle“ synonym verwendest? Hab das irgendwo gelesen von Dir. Vielleicht in diesem e-mail-Wechsel? Antje: Hm, ja, schon. Aber nicht im Sinne einer Definition. Eher mache ich die Erfahrung, dass man es tatsächlich oft synonym verwenden kann. Je nach Kontext, mit wem man spricht. Also Leute, denen „Gott“ nichts sagt, die will ich nicht missionieren, sondern umschreibe, was ich meine, mit „gutes Leben für alle“. Was genau das ist, muss natürlich unbestimmt bleiben, man kann es ebenso wenig fassen, wie „Gott“. Und andersrum: Leuten, die „Gott“ so verwenden, dass es dem „guten Leben für alle“ widerspricht, denen widerspreche ich,

read more Gespräch über Gott und die Welt

Frei sein. Frau sein.

Ich bin gerade dabei, einen Workshop vorzubereiten, und dabei ist mir folgender Textabschnitt von Luisa Muraro wieder einmal in die Hände gefallen. Da in den Diskussionen in diesem Blog (und auch sonstwo) immer mal wieder die Frage gestellt wird, warum es heute denn überhaupt noch notwendig und sinnvoll ist, von Frausein zu sprechen, und weil die einen darauf mit „Ist es eben gar nicht“ antworten und die anderen mit „Weil Frauen immer noch diskriminiert und benachteiligt sind“ – beides finde ich falsch – dachte ich… … ich stelle das hier einfach mal zur Diskussion. Wir haben nicht gewählt, als Frauen geboren zu werden, und gerade diese Tatsache macht es unabdingbar, das Frausein zu akzeptieren. Simone Weil lehrt, dass das Akzeptieren der Notwendigkeit Freiheit schafft. … Frei-Werden  und ein weibliches Subjekt werden – das ist eins. Das Werden des weiblichen Subjekts umfasst das Menschsein, die Geschlechtsidentität und die persönliche Einzigartigkeit – alle drei Dinge zusammen…. Ich hasse den Ausdruck „ich als

read more Frei sein. Frau sein.

Avicenna und die repräsentative Politik

Der letzte Blogpost von Felix Neumann, in dem er sich über die repräsentative Funktion des Bundespräsidenten Gedanken macht (und zu dem Schluss kommt, dass man dieses Amt doch niemandem zumuten könne) diskutierte heute Nacht in meinem Kopf mit einem Aufsatz von Chiara Zamboni, den ich am Tag davor gelesen hatte, und in dem sie unter anderem über den schiitischen Mystiker und Philosophen Ibn Sina schreibt, der im Westen unter dem Namen Avicenna bekannt ist. Herausgekommen ist folgende Idee. Felix Neumanns Unbehagen an einem repräsentativen Verständnis von Politik kann ich gut nachvollziehen, es ist auch ein klassisches feministisches Thema. Die Frauenbewegung hat sich ja nie in Form von repräsentativen Institutionen organisiert, im Unterschied zu anderen sozialen Bewegungen: Weder hat sie Parteien hervorgebracht (wie die Arbeiterbewegung) noch große Lobbyverbände (wie die Umweltbewegung). Sie hat auch kein einheitliches Programm zustande gebracht, und sich von Anfang an geweigert, Repräsentantinnen zu akzeptieren. Kleine Randbemerkung: Das „Alice-Schwarzer-Phänomen“ – also der Versuch der Medien (und vielleicht auch

read more Avicenna und die repräsentative Politik

Über Konflikte und Kriege

Juli Zeh schreibt in ihrem Buch „Die Stille ist ein Geräusch“, in dem sie ihre Erlebnisse während einer Reise durch Bosnien im Jahr 2001 schildert, dass vor allem die Deutschen die Ursache für den Krieg und den Völkermord im ehemaligen Jugoslawien in „ethnischen Konflikten“ sehen würden. Mag sein, tatsächlich habe ich diese Formulierung vom „Aufbrechen ethnischer Konflikte“ aus den damaligen Nachrichtensendungen noch im Ohr. Und offensichtlich hat sich das bei mir auch eingeprägt, jedenfalls zuckte ich spontan innerlich zusammen, als meine Tischnachbarin beim Frühstück sagte, sie käme aus „Belgrad, Serbien“. Ich war tatsächlich überrascht, denn hatte sie mir nicht gerade erst ausführlich die Vorzüge Bosniens geschildert und jede Menge wunderschöne Orten und historische Sehenswürdigkeiten aufgezählt, die ich unbedingt besuchen soll? In irgendeiner Ecke auch meines Gefühlshaushaltes muss sich wohl durchaus die Vorstellung festgesetzt haben, „Bosniaken“ und „Serben“ seien verfeindet. In Bosnien selbst pflegt man, vor allem in Tourismusbroschüren, eher das Bild der seit Jahrhunderten etablierten Multikulti-Idylle, in die von außen

read more Über Konflikte und Kriege

Fünfzehn Thesen zu Feminismus und Post-Gender

„Disciplineandanarchy“-Blog made the following theses available in English 1. Der wichtigste Punkt rund um das Thema „Gender“ hat nichts mit Frauen zu tun, sondern ist die Kritik an der Sich-zur-Normsetzung des Männlichen. Frauen kommen allerdings insofern ins Spiel, als Feministinnen die ersten waren, die dieses Sich-zur-Norm-Setzen des Männlichen hinterfragt haben. 2. Der Einwand, dass Geschlechtsklischees generell abzulehnen sind, ist zwar richtig, kann aber leicht vom eigentlichen Punkt ablenken: Kein anderes Geschlecht als das Männliche hat sich jemals zur Norm gesetzt. Wobei „das Männliche“ nicht identisch ist mit „den Männern“. Es gab schon immer Männer, die diese patriarchale Ordnung kritisiert haben, und Frauen, die sie unterstützt haben. 3. Das wesentliche Merkmal des Patriarchats war nicht, Frauen und Männern bestimmte Klischees zuzuschreiben, sondern Differenzen unter Menschen (vor allem, aber nicht nur die Geschlechterdifferenz) hierarchisch im Sinne von „normal“ und „defizitär“ zu interpretieren. Also nicht: „Männer sind so“ und „Frauen sind so“, sondern „Männer sind normale Menschen“ (in vielen Sprachen gibt es für

read more Fünfzehn Thesen zu Feminismus und Post-Gender