Anarchistische Vordenker

Zwei neue Bücher über anarchistische Aktivisten am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts sind soeben erschienen: Eine „Ungeschriebene Autobiografie“ des Italieners Errico Malatesta und der zweite Band „Ausgewählte Schriften“ des Deutschen Gustav Landauer.

Mich hat die Lektüre vor allem deshalb interessiert, weil ich mich bisher mit dem Einfluss von Frauen auf den frühen Anarchismus (um die Mitte des 19. Jahrhunderts) beschäftigt habe, der relativ groß war. Hat das Spuren hinterlassen? Immerhin stellt der Anarchismus ja einen wesentlichen Aspekt patriarchaler Politik, nämlich „Vater Staat“, in Frage und setzt auf kulturelle Veränderungen, die im Konkreten, in der Praxis, in der Neuorganisation von Beziehungen liegen.

Dennoch repräsentieren sowohl Malatesta als auch Landauer einen wesentlich „männlichen“ Gestus der Politik: das kämpferische Pathos der „revolutionären Tat“ der eine, das Formulieren politischer Prinzipien, die vor allem auf polemischer Kritik an den Gegnern beruhen, der andere.

Errico Malatesta
Errico Malatesta
Errico Malatesta (1853-1932) widmete sein ganzes Leben der Revolution, um einen pathetischen Ausdruck zu gebrauchen. Seine Biografie liest sich wie ein großes Abenteuerspiel, wenn er etwa mit wenigen Genossen samt feuchten Gewehren die Regierung stürzen will, Brandanschläge auf Finanzämter ausübt oder nach Argentinien reist, um dort die Arbeiterbewegung aufzubauen. Zwischendurch ist er natürlich immer wieder im Gefängnis, manchmal gelingt ihm eine spektakuläre Flucht, und immer wieder führt er die Polizei an der Nase herum. Irgendwie beeindruckend ist das durchaus, vor allem die Selbstverständlichkeit, mit der er das tut, was er für richtig hält, ohne großes Tamtam (eine heute selten gewordene Haltung). Die „Ungeschriebene Autobiografie“ versammelt diejenigen Passagen aus Malatestas ohnehin nicht sehr umfangreichen Schrifttum, die am ehesten biografisch sind. Ergänzt wird das durch erläuternde Begleittexte.
Gustav Landauer
Gustav Landauer

Gustav Landauer (1870-1919) war deutscher Politiker und gilt als maßgeblicher Theoretiker des Anarchismus. Das Buch versammelt seine Schriften, die sich mit einer inhaltlichen Definition des Anarchismus und seiner Abgrenzung zu anderen politischen Bewegungen beschäftigen. Ein anderer Band „Internationalismus“ ist bereits erschienen, ein dritter Band soll folgen. Landauer versuchte, eine Arbeiterbewegung jenseits der reformistischen Sozialdemokratie aufzubauen und ist nach dem Weltkrieg einer der Organisatoren der Münchener Räterepublik gewesen. Nach deren gewaltsamer Niederschlagung wurde er gefangen genommen und in der Haft ermordet. Seine Schriften über den Anarchismus sind scharfzüngig formuliert, im Stil der Zeit höchst polemisch, oft sarkastisch und haben oftmals die Anmutung einer wissenschaftlichen Beweisführung. Sein Denken ist originell und klug, allerdings schreibt er konsequent aus männlichem Blick („Unsere Weltanschauung lehrt uns, … Kinder zu wollen, ein Kind in diesem bestimmten Weibe zu wollen“).

Meine Sympathie für Malatesta wie für Landauer wird durch den männlichen Gestus ihres politischen Engagements nicht gemindert. Keiner von ihnen hat zum Beispiel frauenverachtende Anfälle, wie sie im 19. Jahrhundert ja ebenfalls vorgekommen sind (vor allem bei Pierre Joseph Proudhon, der der Ansicht war, eher sollte man Frauen in Ketten legen, als ihnen eine eigene Meinung zuzugestehen, und der, wie ich meine zu Unrecht, im Allgemeinen ebenfalls als Anarchist eingestuft wird). Nein, Malatesta, Landauer (und vermutlich die übergroße Mehrheit der Anarchisten jener Zeit) sind nicht frauenfeindlich, es ist nur so, dass die Geschlechterdifferenz bei ihnen einfach gar keine Rolle spielt. Die Hegemonie des Männlichen als Norm des Menschseins ist noch unhinterfragt, und das ist aus feministisch-historischer Perspektive interessant.

Wir befinden uns hier ja noch vor der „Emanzipation“ (die erst ab den 1920er Jahren zu einem Thema wurde). Weder Malatesta noch Landauer müssen in ihrer politischen Repräsentation auf „emanzipatorische“ Anliegen Rücksicht nehmen, was sozusagen unverfälschte Einblicke in jenes Denken ermöglicht, das Politik und Männlichkeit noch praktisch gleichsetzte und das natürlich insgeheim, in lediglich verschleierter Form, sich bis heute auf unser aller Politikverständnis auswirkt.

Doch auch aus anderen Gründen sind beide Bücher unbedingt lesenswert. In einer Zeit, in der Politik zunehmend zu einem instrumentellen „Handwerk“ wird, in dem Überlegungen zum guten Leben aller kaum noch Platz haben, sondern politische Positionen anhand von Meinungsumfragen erarbeitet und von PR-Experten in Szene gesetzt werden, ist es wohltuend, solche historischen Dokumente zu lesen, in denen noch wirkliches, authentisches Engagement steckt. Auch die theoretischen Ansätze eines Denkens können nach wie vor fruchtbar gemacht werden, das politische Veränderungen nicht von einer „Verbesserung“ des Staates erwartet, sondern in einer grundlegenden Neuorganisation menschlicher Beziehungen und ihrer Vorwegnahme im persönlichen Leben.

Errico Malatesta: Ungeschriebene Autobiografie, Hg. von Piero Brunello und Pietro di Paola, Edition Nautilus, Hamburg 2009, 222 Seiten, 16,90 Euro.

Gustav Landauer: Anarchismus. Ausgewählte Schriften, Band 2. Hg. von Siegbert Wolf, Verlag Edition AV, Lich 2009, 395 Seiten, 18 Euro.

Ich bin Journalistin und Politologin, Jahrgang 1964, und lebe in Frankfurt am Main.

4 Gedanken zu “Anarchistische Vordenker

  1. Habe eben deinen Artikel in der Grawurev gelesen, und da man dort nicht kommentieren kann, dann eben hier mein Dank, für diesen hier gleich mit.

    Ich habe diese ganzen alten Geschichten nur ganz vage, aus parteiischem Mund gehört, kenne also kaum mehr als die Namen der Hauptprotagonisten. Find’s toll, daß du dich da durchackerst und es schaffst, die Sachen so verständlich und „nah“ auszuleuchten. Das sind ja „unsere“ Leute, die „unsere“ Diskussionen führen, nur eben damals. Was hätte man da alles draus lernen können.

    Ich habs ja nicht unbedingt so mit dem Lesen langer Texte. Malatesta kannte ich aus dem Spielfilm von Peter Lilienthal. (Lief Ende der 70er im TV) Diesen Film wiederum suche ich verzweifelt, weil ich mich darin an eine Szene erinnere, in der er (Malatesta) genau meine Sicht des Christentums (als eine revolutionär-kommunistische Idee) erläutert (vermutlich fiktiv). Glaube ich jedenfalls. Leider ist der Film nicht mehr aufzutreiben.

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  2. @rauskucker – danke für den netten Kommentar! Den Film mit Malatesta kenne ich nicht, aber der ist auch einer dieser zu Unrecht ganz in Vergessenheit geratenen Leute!

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