#Aufschrei – analog und politisch

Meine Grimme Urkunde hängt jetzt im Büro.
Meine Grimme Urkunde hängt jetzt im Büro.

Gerade habe ich mir, wie von Nicole von Horst mehrfach (zum Beispiel auch bei dieser Veranstaltung) empfohlen, meine Grimme-Urkunde zu #Aufschrei ausgedruckt und ins Büro gehängt. Der zweite Ausdruck kommt später noch zuhause in den Flur.

Die Idee ist erstens ein symbolischer Akt, um deutlich zu machen, dass hier nicht ein einzigartiges originäres Masterhirn sich in seiner Genialität die ultimative Internetkampagne ausgedacht hat, sondern dass es um ein Hasthag geht, das eben, wie es in der Natur der Sache liegt, aus einem Zusammenspiel der Vielen besteht (was die Verdienste der Initiatorinnen ja auch überhaupt nicht schmälert).

Aber zweitens ist die auf Papier ausgedruckte Grimme-Urkunde da an der Schrankwand auch sehr real vorhanden, sozusagen zum Anfassen, und gerade in ihrer Materialität bietet sie tolle Möglichkeiten: Zum Beispiel erfahren Menschen, die in mein Büro kommen, dadurch vom Grimmepreis und von #Aufschrei, und vielleicht kommen wir ins Gespräch, je nachdem über Alltagssexismus oder über das Internet oder über die Zukunft des Journalismus, und das sind ja alles drei interessante Themen.

Und wie geht es jetzt noch weiter mit Aufschrei?

Mein Eindruck ist, dass wir dringend darauf drängen sollten, die Diskussion stärker zu einer politischen zu machen. Für meinen Geschmack wird nach wie vor zu viel individualistisch darüber gesprochen: Wie kann/soll eine Frau auf Alltagssexismus reagieren? Was kann ein Mann machen, der das beobachtet? Wie können betroffene Frauen Unterstützung bekommen und wie wecken wir Sensibilität für das Thema?

Alles gute und wichtige Fragen, aber die Debatte um eine Energiewende zum Beispiel erschöpft sich ja auch nicht darin, dass wir uns gegenseitig über die Probleme austauschen, die wir dabei haben, die Heizung niedriger zu stellen.

Alltagssexismus ist nicht in erster Linie ein persönliches Problem der davon betroffenen Frauen, es ist ein gesellschaftlich-strukturelles Problem. Die „betroffenen“ Frauen haben damit sozusagen nur insofern etwas zu tun, als sie es sind, die die Gesellschaft mit Aktionen wie #Aufschrei immer wieder darauf aufmerksam machen. Aber das Problem ist nicht (in erster Linie) ihres, sondern das der Gesellschaft.

Die angemessene Reaktion der Gesellschaft wäre also, das Thema nun politisch zu debattieren, und nicht, gönnerhaft zu überlegen, wie den armen „betroffenen“ Frauen nun zu helfen wäre oder das Ganze immer noch unter „Frauenrechte“ einzusortieren, wie etwa die Zeit in ihrem Bericht über den Grimmepreis schreibt. (Über das unsägliche Wort „Frauenrechte“ habe ich hier schon mal geschimpft)

Alltagssexismus ist nicht (nur) ein individuelles oder psychologisches Thema der beteiligten Frauen und Männer, sondern ein politisches, strukturelles. Es lässt sich nicht dadurch beheben, dass Frauen sich bessere Taktiken überlegen, wie sie damit umgehen, und dass wir über die sexistisch handelnden Männer psychologisieren (A la: „Der hat sicher Minderwertigkeitskomplexe“). Es geht um soziale Codes, um Strukturen der Macht, um ein Zusammenspiel aus vielen Puzzleteilchen.

Niemand ist vom Alltagssexismus nicht betroffen. Auch deshalb finde ich analog ausgedruckte Grimmeurkunden so toll, weil sie hoffentlich Gespräche über dieses Thema anstoßen, die losgelöst sind von einem konkreten „Vorfall“. Über die Energiewende sprechen wir ja auch nicht nur, wenn wir bemerken, dass irgendwo die Heizung zu sehr aufgedreht ist.

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Ich bin Journalistin und Politologin, Jahrgang 1964, und lebe in Frankfurt am Main.

6 Gedanken zu “#Aufschrei – analog und politisch

  1. Wie wahr. Und jetzt machen wir hier eine Liste von sog. „allgemeinpolitischen“ Themen, die feministisch analysiert und bearbeitet gehören. Obwohl: da es keine „allgemeinpolitischen“ Probleme gibt, die nicht feministisch analysiert besser und genauer verstanden werden können, sparen wir uns die Liste und fangen gleich an, JEDES erdenkliche Problem mit #Aufschrei zusammen-zu-denken.

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  2. @susanna14 – Im Prinzip meine ich alles, was über die „persönliche Betroffenheit“ hinausgeht und auf die Frage gerichtet ist „In was für einer Welt wollen wir leben?“

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  3. Danke! Vielleicht lasse ich mir dazu auch noch etwas einfallen. (Bei der eigentlichen Debatte habe ich mich ja zurückgehalten.)

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