
Heute morgen hörte ich zufällig im Radio ein Interview mit Thilo Weichert (ich weiß leider nicht mehr, auf welchem Sender), dem Datenschutz-Beauftragten von Schleswig-Holstein, der ja derzeit wieder mit seiner Kritik an Facebook in allen Medien ist. Dazu geschnitten war ein Beitrag über die Postprivacy-Theorien, wonach Privatsphäre sowieso ein veraltetes Konzept ist.
Mich hat diese Sendung (wie viele Medienberichte zu dem Thema) sehr geärgert, weil ich es höchst problematisch finde, wenn die Diskussionen über die Veränderungen durch soziale Internet-Netzwerke immer als Konflikt zwischen diesen beiden Standpunkten dargestellt werden. Vor allem musste ich daran denken, wie wohl die zahlreichen älteren Frauen (die ja viel Radio hören), diesen Beitrag wohl aufgenommen haben. Denn man muss sich mal vor Augen führen, dass von den Frauen über 65 Jahren zwei Drittel das Internet noch überhaupt nicht nutzen. Geschweige denn Facebook oder andere soziale Netzwerke.
Diese Abstinenz der großen Mehrheit älterer Frauen halte ich für höchst riskant. Eine Frau, die heute 65 ist, kann noch gut zwei oder drei Jahrzehnte leben. Ohne Kompetenzen im Internet zu erwerben koppelt sie sich von einem Kommunikationsmedium ab, das heute schon extrem wichtig ist und in Zukunft immer wichtiger werden wird. Dadurch verschließt sie sich Ressourcen, die für ihr Leben extrem nützlich und teilweise unverzichtbar sind.
Immer mehr Informationen bekommt man überhaupt nur über das Internet. Soziale Kontakte – vor allem zu jüngeren Menschen – sind ohne Internetnutzung (und vermutlich gerade auch ohne die Nutzung sozialen Netzwerke) immer schwieriger aufrecht zu erhalten. Das Internet ist längst keine Spielerei für einige Nerds mehr, sondern eine Notwendigkeit im Alltag, und vor allem auch im Alltag älterer Menschen.
Ob es ums Einkaufen geht, ums Recherchieren von Produktinformationen, um Auskünfte zu Gesundheitsthemen oder darum, Hilfe zu bekommen, wenn man irgendetwas nicht versteht – es gibt schlicht und einfach keine bessere Quelle als das Internet. Und das gilt besonders für ältere Menschen, die körperlich vielleicht nicht mehr so mobil sind oder die nur noch wenige Real-Life-Kontakte in ihrem Alltag haben.
Über diese Risiken der Internetabstinenz vor allem älterer Frauen wird in der öffentlichen Debatte viel zu wenig gesprochen. Und solche Sendungen, in denen von der einen Seite ein pauschales Gefahren-Szenario von wegen Datenklau an die Wand gemalt wird, während auf der anderen Seite die radikale Postprivacy-Revolution ausgerufen wird, führen dazu, dass diese Gruppe von Menschen weiterhin „draußen“ gehalten wird.
Oft sind ja Unwissenheit, diffuse Ängste und Unsicherheit der Technik gegenüber der Grund dafür, dass ältere Frauen sich vom Internet fern halten. Was sollen sie wohl von einem Hinweis halten, wie ihn Thilo Weichert allen Ernstes vorgebracht hat, dass man, bevor man Google nutzt, erst einmal die eigene IP-Adresse verschleiern soll? Hallo? Wie viele Frauen über 60 wissen, was eine IP-Adresse ist, geschweige denn, wie man sie verschleiert? Alles, was bei solchen Ratschlägen hängen bleibt, ist wieder mal die Botschaft: Das Internet ist gefährlich und kompliziert, besser ich fange gar nicht erst damit an.
Die Zielgruppe, die bei diesen Debatten angesprochen wird, ist klar definiert: Junge oder mittelalterliche Menschen, die vielleicht allzu unbedacht sensible Informationen über sich preisgeben. Überhaupt nicht im Blick ist die zahlenmäßig viel größere Gruppe von Menschen, die aus Angst vor „Datenmissbrauch“ das Internet meiden und damit Gefahr laufen, den Anschluss zu verpassen (die überwiegend, aber keineswegs nur aus älteren Frauen besteht).
Deshalb würde ich mir wünschen, dass Datenschützer wie Weichert ihre Kritik mit einem deutlichen Hinweis darauf verbinden, dass das Sich-Heraushalten aus dieser Entwicklung keine gangbare Alternative ist. Oder dass, wenn Weichert sich für dieses Problem nicht zuständig fühlt, wenigstens die Redakteure und Journalistinnen, wenn sie schon dieses Thema lang und breit bearbeiten, auch auf diesen Aspekt hinweisen.
Und die Postprivacy-Fans könnten dieses Argument des sozialen Ausschlusses ja vielleicht in ihr Repertoire mit aufnehmen. Was auch bedeutet, dass sie die diffusen und teilweise sicher irrationalen Ängste älterer Menschen vor diesen Neuerungen ernst nehmen und zu entkräften versuchen, anstatt noch Öl ins Feuer zu schütten.


Was meinst du?