Übermorgen, am 7. Oktober, wird Hildegard von Bingen vom Papst offiziell zur Kirchenlehrerin ernannt. Kein Grund, ein großes Bohei zu machen, denn in Wirklichkeit war sie natürlich schon immer eine Kirchenlehrerin, schön, dass der Papst das jetzt auch merkt. Aber ich nehme es mal als Anlass, um einen Abschnitt aus dem Artikel „Souveräninnen“ von Annarosa Buttarelli hier in den Blog zu stellen, in dem sie sich mit dem Konzept der Souveränität bei Hildegard von Bingen beschäftigt. Sozusagen, um ein bisschen Inhalt zu dem Bohei dazu zu tun 🙂

„Souveränin zu sein bedeutet, die Verantwortung der eigenen Position zu akzeptieren, denken und handeln zu können, indem man über dem historischen Gesetz der Männer und seiner Konstruktionen steht.
Hildegard von Bingen praktizierte diese Verantwortung als Überlegenheit der kosmologischen Weisheit.
Hildegard von Bingen (1098-1179) hatte politische Beziehungen zu Fürsten, die sie beriet und denen sie nicht selten Anweisungen gab.
Es wäre nutzbringend, die politische Geschichte der großen Äbtissin vom Standpunkt des Buches Frei zu existieren. Weibliche Konstruktion von Zivilisation im europäischen Mittelalter erneut zu lesen, ein wertvoller Band, den die Historikerinnengruppe des Mailänder Frauenbuchladens verfasst hat.
Darin findet sich eine sehr bedeutsame Episode über die Konzeption der Souveränität bei Hildegard von Bingen.
Hildegard widersetzt sich dem Befehl eines Bischofs, den Körper eines jungen Edelmannes, der im Konvent der Äbtissin begraben liegt, zu exhumieren, damit man ihn post-mortem bestrafen kann.
Es kommt nicht darauf an, die ganze Geschichte zu kennen, wichtig ist, zu wissen, dass Widerspruch gegen den Willen der Bischöfe zur damaligen Zeit etwas sehr Schwerwiegendes war. Ihren Widerspruch gegen den Befehl begründete die Äbtissin nicht mit dem banalen Appell an das Recht zur Jurisdiktion in ihrem eigenen Konvent und auch nicht mit einem Appell an die Schicklichkeit oder an den allgemeinen Respekt gegenüber Orten des Kultes.
Hildegard ruft vielmehr »die höhere kosmologische Weisheit« an, wonach es schwere Unordnung im Kosmos verursachen würde, wenn dieser Edelmann exhumiert, ausgesetzt, sein Körper geschändet wird. In einem Kosmos, dessen wachsame Hüterin sie sich nennt.
Sicher haben wir einigen Grund, hier eine Analogie zu Antigone zu sehen, die nach dem Text des Sophokles wegen ihres souveränen und hoheitlichen Gestus im Bezug auf den unbegrabenen Leichnam ihres Bruders bestraft wird.
Ein anderer Aspekt, den wir aus dem Beispiel der Geschichte von Hildegard ziehen können, ist, dass die aus weiblicher Wurzel stammende Souveränität keine Hierarchien braucht, um ausgeübt zu werden. Das ist der Kern dessen, worum es bei der Abneigung gegenüber der Entscheidung, wenn sie als Teil einer Befehlskette verstanden wird, geht.
Der unerlässliche Dreh- und Angelpunkt für die weibliche sexuelle Differenz ist, dass sie nicht der Hierarchie bedarf, um etwas zu tun, während es für denjenigen, der Befehle liebt, notwendig ist, zu demonstrieren, dass das Entscheiden sein Vorrecht ist. Er braucht die hierarchische Kette, über die er die Entscheidung weiter reichen kann, bis sie die Ebene der Ausführung erreicht.
Befehlen, Entscheiden erfordert diese Form der Beziehung, es sieht vor, dass Beziehungen sich so organisieren, dass man sich zur Verfügung stellt, um Befehle entgegen zu nehmen, bis zu dem Punkt, wo der Befehl ausgeführt wird. Wenn das Entscheiden als Anzeichen von Befehlsgewalt verstanden wird, braucht es Ausführende, die der Fähigkeit zum Entscheiden beraubt sind.
Ganz anders das semantische Gebiet, das ich rund um den Gestus des Herrschens angeordnet habe (Gebieterin, Hausherrin, königliche Position, ich weise auf das Königtum spiritueller Natur hin), immer vorausgesetzt, dass es in der historischen weiblichen Erfahrung verwurzelt ist.
Tatsächlich erfordert das Herrschen eine große Genauigkeit, aber vor allem verlangt es prophetische Fähigkeiten, die Fähigkeit, jene Teile der Realität zu lesen, die wir vor Augen haben, und die andere nicht sehen, es erfordert kosmologische Weisheit, das Bewusstsein von einer gerechten Ordnung der Verhältnisse, an der man teilhat oder eben nicht.
Das Bewusstsein von einer gerechten Ordnung der Verhältnisse zu haben bedeutet, sich in ihren Dienst zu stellen, in gewissem Sinne fähig zu sein, Autorität dort anzuerkennen, wo sie sich zeigt, und, wenn sie sich zeigt, die Existenz und die Kreativität eines Kosmos mit der nötigen Kompetenz zu behüten.“
Auszug aus: Annarosa Buttarelli: Souveräninnen. In: Diotima: Macht und Politik sind nicht dasselbe, Sulzbach 2012.

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