Meine These: Die disruptiven Folgen des Coronavirus werden für Europa am Schlimmsten sein.
In China hatten sie zwei Monate Schocktherapie, das Virus wurde dadurch recht effektiv an der Ausbreitung gehindert, nach und nach geht alles Back to normal, außer dass es jetzt zwei Wochen Quarantäne gibt für alle, die dort einreisen wollen (Wie lange? Vielleicht bis ein Impfstoff gefunden ist).
In USA passiert das gegenteilige Szenario. Dort gibt es gibt überhaupt keine Versuche, das Virus einzudämmen, es gibt auch kaum Tests oder medizinische Anstrengungen, weil die Leute gar keine Krankenversicherung haben und vielen auch mit Erkältungssymptomen gar nichts anderes übrig bleibt, als arbeiten zugehen. Das heißt, mehr oder weniger alle stecken sich an. Aber das ist für das System dort nicht disruptiv, sondern es funktioniert so schon immer: Die Armen sterben, die Reichen kaufen sich einen Platz am Beatmungsgerät, die Relevanz des Themas wird kleingeredet, Business as usual.
In Europa hingegen gibt es eine Mischung aus beiden Logiken. Weder haben wir politische Strukturen (etwa starke europäische Institutionen, ein Zusammengehörigkeitsgefühl usw), die ein effektives koordiniertes gemeinsames Vorgehen möglich machen, noch die soziale Chuzpe, Menschen einfach so sterben lassen, weil sie eben Pech gehabt haben, wenn sie sich den Zugang zum Krankenhaus nicht kaufen können. Deshalb glaube ich, dass das Virus für europäische Gesellschaften und Selbstverständnisse disruptiv sein könnte, aber ob in guter oder in schlechter Hinsicht, das wird sich noch zeigen.
Einige Leute haben mir in den letzten Tagen gesagt, ich solle nicht so viel über das Corona-Thema schreiben, die Situation der Flüchtlinge in Griechenland sei doch viel schlimmer. Ich behaupte, beides hängt eng miteinander zusammen, aber während die politischen Fronten in Bezug auf Migration betoniert sind, sind sie es in Bezug auf Virusfolgen noch nicht.
Das heißt, es ist JETZT für politische Diskurse die Gelegenheit, über die Sinnhaftigkeit von Grenzen, über die Notwendigkeit europäischer Werte, über Care-Revolutionen, über Vulnerabilität, über Bedürftigkeit und gegenseitige Abhängigkeit usw. zu sprechen, und zwar in einem diskursiven Raum, der noch vergleichsweise offen ist, weil noch nicht alle ihre Meinung sowieso feststehen haben.
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