Frage an meine anarchistischen Kontakte:

Ich denke gerade darüber nach, wie in einer herrschaftsfreien Gesellschaft notwendige Verhaltensänderungen – wie etwa bei einer Virus-Epidemie – in kurzer Zeit umgesetzt werden können. Die Problemlage ist ja folgende: Um eine Epidemie zu bekämpfen, ist es notwendig, sehr schnell zu handeln, denn jeder Tag Verzögerung vergrößert das Problem exponenziell. Herrschaftsfreie Entscheidungsprozesse brauchen jedoch – anders als machtpolitische oder gewaltförmige – Zeit, und manchmal kommen gar keine zustande, weil es keine Einigung gibt. Nun ist es aber bei einer Epidemie so, dass das schädliche Verhalten einer einzigen Person hunderte oder tausende andere gefährden kann. Die „normale“ anarchistische Option, nämlich sich im Fall von unterschiedlichen Auffassungen einfach zu trennen oder zwei verschiedene Projekte zu machen, die sich gegenseitig in Ruhe lassen, oder eben geduldig weiter zu diskutieren, bis man sich geeinigt hat – das alles geht nicht.

Allerdings sehen wir zurzeit, dass die herrschaftsförmige Art, das zu organisieren – Regierungsentscheidungen von oben und Polizei, die das umsetzt – auch nur kurzfristig gut funktioniert. Nach einer Weile schwindet die Akzeptanz der Bevölkerung und andererseits entwickeln sich unter den Machtausübenden – der Polizei – auch Dynamiken, die neuen Befugnisse auszunutzen. Es entsteht potenziell eskalierender Pingpong zwischen Widerspenstigkeit („ich lass mir doch keine Vorschriften machen“) und Lust an der Repression („Wir haben hier das Kommando“), was dann langfristig auch dazu führt, vernünftige und dem Allgemeinwohl dienliche Verhaltensweisen zu verhindern.

Habt Ihr dazu Ideen und Gedanken, auch gerne unfertige? Dann bitte gerne in die Kommentare

Hier der link zur entsprechenden Diskussion auf Facebook https://www.facebook.com/1356458277/posts/10217176583510794/?d=n

Ich bin Journalistin und Politologin, Jahrgang 1964, und lebe in Frankfurt am Main.

13 Gedanken zu “Frage an meine anarchistischen Kontakte:

  1. Die schlichtest mögliche Antwort ist natürlich, dass in einer wahrhaft herrschaftsfreien Gesellschaft die Bedingungen für das Entstehen einer solchen Krankheit gar nicht mehr bestehen. Es ist ja inzwischen hinlänglich beschrieben, dass wir es unserem ausbeuterischen Umgang mit der Natur zu verdanken haben.

    Etwas anspruchsvoller wären dann Maßnahmen zu einem Zeitpunkt, zu dem die Gesellschaft schon auf dem richtigen Weg, aber noch nicht angekommen ist. Da müssten dann eben leider die noch vorhandene Repressionsinstrumente wirksam werden.

    Mein Neffe Philipp sagt übrigens, wirklich frei sind wir ohnehin erst, wenn der Replikator aus der Enterprise jedes materielle Bedürfnis befriedigen kann – dann haben wir auch die entsprechende medizinische Qualität … 😉

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  2. Ich denke, auch in einer herrschaftsfreien Gesellschaft gibt es Strukturen, ließen sich Krisenpläne entwickeln, gäbe es Expertinnen, denen mehr oder weniger Vertrauen entgegengebracht und Autorität auf ihrem Gebiet zugebilligt wird. Zudem: Ein regionales solidarisches Miteinander in der außergewöhnlichen Situation findet ja auch in der heutigen Herrschaftsgesellschaft schon statt, das wurde ja nicht vom Staat verordnet.
    Im Prinzip der alte Hut: Herrschaftsfrei bedeutet (für mich) ja nur, dass nicht eine bestimmte Schicht oder Gruppe das Sagen hat. Das heißt nicht, dass es keinerlei Regeln, Strukturen oder Gesetze geben kann.

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  3. Ich denke es wird eher darum gehen dass das Prinzip der Bedürfnisbefriedigung hier ein tragen kommt. Dieses Prinzip bezieht sich in der Praxis der anarchistischen Bewegungen ja nicht nur auf das Individuum, sondern eben auch auf die Föderation der Föderationen.

    Für mich bedeutet dass, das in einer anarchistischen Gesellschaft unter anderem so viele Menschen in der Lage sind zu pflegen und zu heilen ,(um nur Mal Aspekte des Reprobereich zu nennen) das wir nur wenig in die etwas wie das Versammlungsrecht eingreifen müssen. Außerdem würde ggf ein Hauptabsteckungsort wegfallen, weil einfach alle Produktionsstätten die nicht der unmittelbaren Versorgung dienen geschlossen würden (und zwar freiwillig, weil die Arbeiterinnen nicht ihr eigenes Leben riskieren wollen damit andere Luxus genießen können)

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  4. In einer herrschaftsfreien Gesellschaft obliegt es jedem einzelnen zu entscheiden ob und wie er sich vor einer Infektion schützt. In dem Sinne gibt es dann keine Vorschriften sondern nur offene und ehrliche Vermittlung des vorhandenen Wissens und Handlungsempfehlungen zum Selbstschutz.

    Wenn jeder sich selber bestmöglichst schützt, sind automatisch alle geschützt.

    In einer idealen herrschaftsfreien Gesellschaft gäbe es auch keine Triage sondern nur „First come, first serve“.

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  5. Diese Frage stelle ich mir auch. Ich denke und hoffe, dass es eines Tages gesellschaftliche Organisationsformen geben kann, in denen in „normalen“ Zeiten ausreichend Vertrauen aufgebaut wird, dass für solche Ausnahmesituationen erst einmal Vorschuss da ist, mit dem dann auch schnell (und eben ohne langwieriger Abstimmungen) reagiert werden kann. Die Sorgen, die wir jetzt haben, kommen doch vor allem daher, dass wir ein solches Vertrauen in Kapitalismus und bürgerlich-liberale, auch rassistische und sexistische, ageistische, etc… Herrschaftsstrukturen eben nicht unbedingt haben. Ich hoffe, dass aus dieser Krise solidarische und Gemeinschafts-orientierte Haltungen bestärkt hervorgehen und sich auch danach nicht mehr so schnell aus der Welt schaffen lassen. Wenn wir daran arbeiten, unter anderem mit solchen Debatten, haben wir vielleicht eine Chance….
    Liebe Grüße!

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  6. Ich denke man kann das auf zwei Ebenen betrachten, individuell und gesellschaftlich.

    Individuell

    Ein Probem das es im Moment gibt ist, dass es trotz der Toten die es bereits gibt die Gefahr der Pandemie teilweise nicht richtig eingeschätzt wird, da sie auf eine Weise abstrakt ist. Das ändert sich eventuell, wenn man selbst oder Menschen im Bekanntenkreis betroffen sind.
    Das hat vielleicht damit etwas zu tun, dass in den Menschen eine Art Reflex aufkommt, der sich erstmal in einer Ablehnung gegenüber den relativ autoritären Maßnahmen äußert. (Erklären ließe sich das mit der ansonsten neoliberalen Art des Regierens, die ja auf die Selbstverantwortung der Individuen abzielt)
    Vielleicht ist dabei auch immer ein Skepsis, die sich fragt von wem kommen diese Maßnahmen und welche Interessen stehen dahinter. Also steht vllt das möglichst schnelle hochfahren der Wirtschaft im Fokus?
    In einer anarchistischen Gesellschaft gäbe es keine Regierung bei der die Menschen sich davor fürchten müssten, dass sie ihre Macht ausbaut und ins Autoritäre abrutscht.

    Worauf ich auch hinaus will ist, dass eine anarchistischen Gesellschaft auf anderen Beziehungen zwischen den Meschen aufbaut, sodass die Umsetzung von Maßnahmen konsequenter wäre als jetzt.
    Die Umsetzung müsste auch nicht auf Verbote setzten, denn wenn die Gesellschaft in kleineren Einheiten wie einer Nachbarschaft organisiert ist könnten auch Dinge beschlossen werden, die nicht ganz so drastisch sind, weil bspw Absprachen getroffen werden könnten wann wer draußen/ einkaufen oder auf dem Spielplatz ist.

    Idealerweise wäre auch das Zusammenspiel von Freiheit und Verantwortung besser. Also ein Begriff von Freiheit, der das Kollektiv genauso im Blick hat wie das Individuum und nicht einer indem hauptsächlich die eigene Person im Vordergrund steht.

    Gesellschaftlich..

    Müsste es keine Angst vor Arbeitslosigkeit geben, da die Gesellschaft nicht kapitalistisch organisiert. Dadurch würde auch die kapitalistische Konkurrenz wegfallen und auf einer internationalen Ebene könnte viel schneller reagiert werden, weil die obersten Prinzipien Solidarität und gegenseitige Hilfe sind.
    Die Frage ist auch ob es in einer anarchistischen Gesellschaft eine so große Skepsis gegenüber den erforderlichen Maßnahmen gäbe. (Auch mit Bezug auf das dann vorherrschende Verständnis von Freiheit.)

    Die Frage die sich dann stellt ist natürlich wie genau diese Organisation der Gesellschaft dann aussehen könnte.

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  7. Ich gehöre zwar nicht zu den anarchistischen Kontakten, sondern nur zu den regelmäßigen Lesern. Irgendwann muss ich aber meinen ersten Kommentar schreiben – auch wenn der nicht besonders konstruktiv klingt.

    Ich denke, dass eine anarchistische Gesellschaftsform aus kleinen, regionalen und lose gekoppelten Einheiten bestehen muss. Innerhalb der Einheiten ließe sich relativ schnell reagieren. Sobald die Kooperation oder Abgrenzung zu anderen Einheiten ins Spiel kommt wird es kompliziert und langsam, da keine vorgefertigen Strukturen existieren und diese erst verhandelt werden müssten. Zudem können nicht alle Einheiten die vollständigen Mittel zur autonomen Bewältigung jeder Krise vorhalten. Daher kann es zwangsläufig dazu kommen, dass einzelne Einheiten die Krise nicht bewältigen können.

    So bitter es klingen mag – kleine unabhängige Einheiten könnten aussterben während andere überleben. Im Falle einer Pandemie ist der Unterschied zu der aktuellen staatlichen Organisationsform vielleicht nur in der Demographie der Opfer zu finden.

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  8. fürwahr unfertige Gedankenfetzen dazu von mir, leider ohne allzuviel Wissen über Geschichte und Gegenwart anarchistischer Theorie und Praxis zu haben: Die Frage, wie in bestimmten dringenden Situation Entscheidungen getroffen werden können, hat sich für Anarchist_innen u.a. konkret im spanischen Bürgerkrieg gestellt; gabs da nicht sowas wie „anarchistische Disziplin“? Und dass zB bei medizinischen Operationen im vorhinein klar festgelegt sein muss, wer Entscheidungen schnell trifft, wird vermutlich auch jenen einsichtig sein, die sehr stark individualanarchistisch eingestellt sind. Hier ist wohl die Frage zu stellen, wie Expert_innenwissen/Bildung anerkannt werden kann.

    Im Corona-Fall würde ich allerdings eher mit Wahrscheinlichkeit und weniger mit Individualverhalten argumentieren wollen; Sie schreiben: „dass das schädliche Verhalten einer einzigen Person hunderte oder tausende andere gefährden kann“ -nun, wenn eine einzige oder nur wenige Personen sich nicht an die Vorgaben hält/halten, ist dass meinem Wissenstand nach ja eben nicht so tragisch, da die Wahrscheinlichkeit der Virusverbreitung/Zusammenbruch des Gesundheitswesens dadurch nicht so stark zunimmt; problematisch wird es ab dem Zeitpunkt, wo zuviele sich nicht daran halten. Und hier ist nun die Frage, ob zur Verhaltensänderung mehr auf Zwang oder auf einen Appell an die Vernunft und an die Einsicht inklusive als „Nudging“ bezeichneten sanften Druck mittels Verweis auf das positive Vorbild anderer gesetzt werden soll.

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  9. Kleiner Einwurf zum Thema „Verantwortung“:
    Selbst die Teilnehmer (Bürger) des aktuellen Systems setzen sich über die verordneten „Verhaltenshinweise“ hinweg – und nähen einfach selber Masken. Weil es Sinn macht – und weil sie früh durchschaut haben, dass sogar in solchen, eigentlich wissenschaftlichen, binären Ja-Nein-Fragen viel eher politisch-lenked als „wahrheitsgetreu“ informiert wird. Solche Kleinigkeiten machen Hoffnung und bestärken den Glauben in die Fähigkeiten der Mitmenschen.

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  10. Hallo Antje,
    ich bin über ein interessantes Interview mit dir gestoßen, wo du sagst, es käme nicht darauf an, was frau rechtmäßig zusteht, sondern was sie will. Leider aus dem Kontext gerissen. Gibt es irgendwo einen Text, wo du das näher erläuterst?
    Liebe Grüße Dagmar

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  11. Ja, das geht in die Richtung trifft es aber nicht ganz. Das Video ist übelst aus dem Kontext gerissen und dient so sinnentstellend nur der Anklage gegen dich, ich müsste es wiederfinden. Jedenfalls interessiert mich die Erörterung, dass es nicht nur darum geht, was frau rechtmäßig zusteht, sondern dass es darum gehen sollte, was sie will.

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