Verschenkte Gelegenheit: Gescheiterter Versuch, Lucy Parsons zu verstehen

Lucy Parsons war eine wichtige Aktivistin des US-Amerikanischen Anarchismus über sieben (!) Jahrzehnte hinweg, und ich bin froh, dass Edition Nautilus dieses Buch herausgebracht hat. Denn es ist wirklich überfällig, dass Parsons auch in Deutschland etwas bekannter wird. Aber leider, leider ist das Buch wirklich schlecht. Die Autorin findet überhaupt keinen Zugang zu ihrer Protagonistin und nimmt sie nicht ernst. Schon auf den ersten Seiten der Einleitung urteilt sie, dass Parsons sich „täuschte“, wenn sie der Meinung war, die Öffentlichkeit habe kein Auskunftsrecht über ihr Privatleben, dass sie Dinge „nicht verstand“, wichtige Fakten „ignorierte“, dass sie zu „Einschüchterung und Drohung“ praktizierte, nennt sie „schrill“, weist ihr (vermeintliche) Widersprüchlichkeiten nach, rügt sie dafür, ihre Mutter verlassen und ihre Kinder instrumentalisiert zu haben. Das alles schon auf den ersten drei (!) Seiten. Ich bin nicht der Meinung, dass man der eigenen Protagonistin nicht kritisch begegnen darf, aber ich habe noch nie eine Biografie gelesen, wo die Autorin so urteilend und wertend mit dem Gegenstand ihrer Arbeit umgeht.

Ich habe auch noch vieles andere zu kritisieren, es gibt so gut wie keine ideengeschichtliche Analyse, Parsons Schriften werden nicht kohärent dargestellt, sondern nur in herausgerissenen Fitzelchen präsentiert, insbesondere Parsons Verteidigung von Gewalt im Klassenkampf wird gar nicht in eine größere anarchistische Debatte eingebunden, es wird über ihr Privatleben geurteilt usw usw. Das Buch liest sich über weite Strecken wie eine Anklage, dass Parsons nicht das gemacht hat, was ihre Biografin meint dass sie hätte machen sollen.

Ihr merkt, ich bin ein bisschen wütend. Und ich bin der Meinung, dass diese Art „Abwatschen“ seitens einer Biografin etwas damit zu tun hat, dass Parsons keine Vertreterin der bürgerlichen weißen Mittelschicht ist. Vielleicht ist es gar nicht nur die Schuld der Autorin, einer weißen Professorin an der University of Texas, denn der Wissenschaft fehlt einfach weitgehend tatsächlich das Instrumentarium zum Verständnis nicht-bürgerlicher weiblicher politischer Positionen (das kenne ich schon von der Art und Weise, wie über Victoria Woodhull geschrieben wurde).

Traurig, traurig, aber trotzdem: Wir müssen halt dieses Buch nehmen weil wir derzeit kein anderes haben. Ich hoffe, es wird bald ein weiteres geschrieben, eines das Lucy Parsons eher gerecht wird.

Ich bin Journalistin und Politologin, Jahrgang 1964, und lebe in Frankfurt am Main.

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