Denke ja schon länger darüber nach, was an der Debatte über assistierten Suizid schief läuft, und heute Mittag hatte ich kurz eine Intuition.
These: Die moralische Frage ist eigentlich nicht, ob wir als Gesellschaft verpflichtet sind, den Suizid-Wunsch einer zum Beispiel kranken und pflegebedürftigen Person zu respektieren oder nicht.
Sondern eigentlich ist es doch sogar so: Solange wir es als Gesellschaft nicht hinkriegen, die Pflege alter und kranker Menschen auf eine Art und Weise hinzukriegen, die ihnen ein Leben in Freude und Selbstbestimmung ermöglicht, sind wir eigentlich geradezu verpflichtet, den Betroffenen wenigstens die Möglichkeit des Suizids zu eröffnen.
Jede Person, die sich einnässen muss, weil niemand da ist, der sie aufs Klo begleitet, jede Person, die bei eingeschaltetem Licht schlafen muss, weil niemand es ausschaltet, jede Person, deren Haut rauh wird, weil niemand Zeit hat, sie einzucremen, jede Person, die in Heimen ohne W-Lan leben muss, jede Person, die im Alter Kantinenessen in Billigqualität bekommt, und so weiter und so weiter – jede dieser Personen müsste einen Anspruch auf assistierten Suizid haben.
Jaja, da schlucken wir, aber dann schlucken wir bitte auch und stehen zu unserer Art von Gesellschaft, anstatt so zu tun, als wären wir Gottweißwie human, nur weil wir Leute dazu zwingen, weiterzuleben, egal wie beschissen die Umstände sind.
Menschen ein leidvolles, fremdbestimmtes Leben zuzumuten, weil alles andere zu teuer wäre, weil man doch sparen muss, weil man Pflege profitorientiert organisieren will, weil angemessene Pflege sich angeblich nicht rechnet, den Betroffenen aber gleichzeitig einen selbstbestimmten Suizid zu verweigern, ist das eigentlich Unmoralische, ja es ist fast schon böswillige Quälerei.
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PS: Das schreibe ich als eine, die sich seit Jahrzehnten zum Thema Care und Sorgearbeit äußert und es wirklich frustrierend findet, dass es trotz all dem Bewusstsein und Wissen darüber nicht gelingt, die Situation zu verbessern, sondern sie wird im Gegenteil immer noch schlechter. Und damit hätte sich nämlich dann auch das zentrale Argument der Anti-Sterbehilfe-Fraktion erledigt, nämlich dass statt assistiertem Suizid doch bessere Palliativpflege angeboten werden müsste. Mal abgesehen davon, dass das ein Quatsch-Argument ist, weil beides sich ja keineswegs ausschließt, sondern im Gegenteil ergänzt, funktioniert es nicht. Sondern die Betroffenen haben weder das eine noch das andere.
Den Gedanken: „lieber Freitod als Pflegeheim“ habe ich mit Freundinnen, die damit auch zu tun haben, schon mehrfach formuliert. Auch weil ich nicht sehe, dass es irgendeine Art (politisch, gesellschaftlich) von Vorbereitung auf die kommende „Altenwelle“ gibt. In meinen Gedanken brauche ich allerdings noch keine Assistenz; dies ist evtl. ein Trugschluss.
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@Corsa – Ja, aber dafür müsstest du den Suizid sehr früh ansetzen, und ich glaube, wenn man sich ein Beziehungsnetz aufgebaut hat, weil man um das Problem weiß (das habe ich zumindest vor), kann man sehr lange gut leben ohne auf staatliche oder externe Hilfe angewiesen zu sein. Die Vereinsamung vieler derzeit alter Menschen kommt oft daher, dass sie sich sehr auf Familie konzentriert haben und außerhalb kaum tragfähige Beziehungsnetze gepflegt haben. Ich bin jetzt 58, d.h. die Generation über mir ist jetzt genau in dem Alter, von daher habe ich viele Beispiele vor Augen. Wenn nicht (sehr) schwere Krankheiten dazwischen können, kann man sich mit gegenseitiger Hilfe ganz gut unterstützen und gut leben, das ändert sich im Schnitt erst so mit Mitte/Ende Achtzig, weil dann die Beziehungsnetze der Gleichaltrigen wegbrechen, weil immer mehr Freund:innen und Bekannte sterben. Und, was für deine Überlegung auch ein Problem ist: Der Übergang von „Geht noch ganz gut und das Leben ist schön“ hin zu „jetzt geht es nicht mehr“ ist oft nicht schleichend, sondern abrupt, also ein Unfall oder so, ein unerwarteter Auslöser. Und dann kann Suizid eben nur noch mit Assistenz möglich sein. Aber es wäre halt auch blöd, sich schon vor diesem Zeitpunkt zu suizidieren, wo man noch gar nicht will. Deshalb halte ich ja eine Struktur für assistierten Suizid für so wichtig, grade um verfrühte „Panik-Suizide“ zu verhindern.
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Einsamkeit, Leben/Altern in Würde und Pflegequalität sind ganz wichtige Punkte, haben aber meiner Erfahrung nach wenig mit *assistiertem* Suizid zu tun.
Wenn das Thema Pflege aufkam, dann war zumindest in meinem meinem Familien- und Bekanntenkreis das Kernthema Autonomie. Die Betroffenen wollten zu Hause leben bleiben, das Brot kaufen, was ihnen schmeckte, zu der Zeit essen, zu der sie es gewohnt waren zu essen, und *alleine* auf Toilette gehen zu können, wann es ihnen passt. Selbst wenn ihnen dabei ein Partner oder ein Kind geholfen hatte, war das Thema Verlust der Autonomie. Bis auf wenige Ausnahmen haben Verwandte so lange zu Hause gewohnt, bis sie es nicht mehr konnten, es ging vom Krankenhaus direkt ins Pflegeheim.
Bei Diskussionen um *assistierten* Suizid hingegen ging es um Lebensqualität, nicht leidensvoll Sterben zu müssen und nicht mehr sich selbst sein können. Dinge, wie starke Demenz und Alzheimer, sind häufig erwähnt worden. Z. B. hat meine Großmutter die fortschreitende Demenz meines Großvaters stark beeindruckt und die Reaktion war “So möchte ich nicht enden!” Er hat immer weniger Leute, auch engste Familienmitglieder, nicht mehr erkannt, ist aggressiv und misstrauisch geworden, und meine Oma musste 23 Stunden am Tag auf ihn aufpassen. Andererseits hat sie sich strikt geweigert, ihn in ein Pflegeheim zu geben, egal, wie gut dort die Betreuung gewesen wäre. Mein Großvater war schon viele Jahre vor seinem biologischen Tod nicht mehr da. Bei unserem letzten Treffen hat er mich nicht mehr erkannt, hat mich des Diebstahls “seines” (in Wahrheit meines) Koffers beschuldigt und er hatte Angst vor mir. Ich kann gut verstehen, wenn andere Menschen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben, sich das nicht selbst und ihren Liebsten antun möchten.
Suizid “durch Einsamkeit” gab es auch, aber dort war Unterstützung durch eine zweite Person nicht nötig.
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